₀₄₀

Ich sehe wie Alexejs Tod Anastasia zerstört. Kann nichts dagegen machen. Ich bin kein Mensch, der mit Emotionen umgehen kann, erst recht nicht mit denen anderer.
Wie soll ich ihr helfen? Wie soll ich sagen, dass alles gut wird, wenn ich das nicht mit Gewissheit weiß?

Zwei Tage sind vergangen, die Atmosphäre wird immer unerträglicher. Pure Anspannung herrscht zwischen uns, wir warten, aber wir wissen nicht worauf. Niemand redet ein Wort, Gedanken werden nicht geteilt, Meinungen nicht ausgetauscht. Als hätte Alexejs Tod uns unsere Stimmen geraubt.
Die Welt dreht sich weiter, aber wir bleiben stehen. In der Starre unserer Selbst gefangen.

Ich frage mich, wann Olivia endlich begreift, dass etwas passieren muss, um unsere Welt wieder in Schwung zu setzen. Denn so, so, kann es nicht weitergehen.
Das Schweigen macht mich psychisch fertig und ich sehne mich nach einer Aufgabe.

Der einzige Laut in dieser Weltenstille sind die raschelnden Blätter, die der einzige Beweis dafür sind, dass noch nicht alles verstummt ist.
In stummer Übereinstimmung stehen wir jeden Morgen auf, gehen raus, setzen uns vor die Hütte.
In stummer Trauer bemerken wir alle den leeren Platz, der Alexej gehörte.
In stummer Verzweiflung ergreife ich das Wort - leise und mit einem vorgeschobenen Räuspern, um die eingefrorene Welt auf meine Worte vorzubereiten.

"So kann es nicht weitergehen."
Worte ohne große Bedeutung, und doch sind sie der Auslöser für größeres.
"Und was sollen wir deiner Meinung nach machen?", fragt Fernando im Gegenzug, er ist der einzige, der auch nur aufgeschaut hat.
"Uns eine Aufgabe geben. Ein Ziel. Ich ach...ich weiß es nicht", gebe ich zu. Aber irgendetwas muss sich verändern.

"Er hat recht", meldet sich Loise zu Wort, "Wir müssen uns beschäftigen, uns ablenken."
"Toller Vorschlag. Und wie sieht der im Detail aus?", hakt Leon nach, nicht allzu überzeugt aussehend.
Ich hasse seinen provokanten Charakter. Nichts kann sein Verhalten rechtfertigen, auch wenn er das garantiert glaubt.

Ich bleibe still. Für die anderen mag es scheinen, als würde ich aufgeben, weil mir nichts einfällt.
Ich sende jedoch eine stumme Botschaft an Olivia. Konzentriere mich auf meine Gedanken, weil ich ganz genau weiß, dass jeder einzelne von ihnen sorgfältig analysiert wird. Olivia, wir brauchen eine Beschäftigung. Schnell. Bitte.
Wenn sie noch nicht dabei war, etwas zu versuchen, wird sie es jetzt hoffentlich tun. Ich habe immer noch etwas gegen sie in der Hand. Ich habe Wissen, das sie bedroht, sofern ich es weitererzählen sollte. Und leider hat sie auch Macht über mich. Ohne sie komm ich hier nie wieder raus. Wir sind quitt. Also setze ich meine Hoffnung in ihr Verantwortungsbewusstsein.

Ich hasse es, Macht abzugeben. Macht über mein Leben, meine Entscheidungen. Aber ich bin nicht in der Lage, ihnen, uns, zu helfen.

„Irgendwie bist du doch nur ein hilfloser Junge, der sein Leben nicht im Griff hat", sagt Leon, „Ein Mensch, der die Schuld für seine Probleme in der Ungerechtigkeit der Welt sucht."
„Und wenn schon. Wo bist du denn anders?", wehre ich ab, verschließe meine Emotionen in mir, die an die Oberfläche treten wollten. Die Angst, Verzweiflung, dass er Recht haben könnte, woher er es weiß. Hass auf ihn, der nur meinem Selbstverständnis zu verschulden ist. Ich will mich als ein guter Mensch sehen, aber immer mehr gebe ich mich auf. Und ich hasse es.

„Wir alle sind anders. Wir sollten unsere Probleme nicht miteinander vergleichen."
Loises' sanfte Stimme wirkt auf mich ein. Schade nur, dass meine impulsive Seite die Macht über mich gerne behalten würde.
„Weil es sich nicht vergleichen lässt. Weil niemand von euch jemals wahren Hunger verspürt hat."
„Wie gesagt lässt sich das nicht vergleichen. Wir haben nie wahren Hunger verspürt, du dafür nicht wahren Verlust."
Dieses Mal ist ihre Stimme nicht sanft, eher scharf, als hätte ich sie mit meinen Worten verärgert.
„Es dreht sich nicht alles um dich, Lien", meldet sich Anastasia zu Wort, schaut auf, ein trüber Blick in ihren Augen. Ein Schleier aus Trauer und Wut.

„Ich habe nie gesagt, dass ich es schlechter habe als ihr. Ich habe nur gemeint, dass ihr euch nicht vor meinen Augen darüber unterhalten sollt, wie toll Erdbeeren denn sind oder über die Ungerechtigkeit der Welt redet - als würdet ihr sie verstehen", ich hole tief Luft und werfe Leon einen kurzen Blick zu, weil meine letzten Worte vor allem an ihn gerichtet waren. „Ihr habt von eurem Verlust erzählt. Das ist ungerecht. Der Tod trifft immer die Unschuldigen. Es schmerzt, der Verlust schmerzt; und dennoch könnt ihr nicht von einer ungerechten Welt reden. Ihr beklagt euch, während ihr im Luxus gelebt habt. Ihr habt die Ungerechtigkeit im Tod erlebt, aber nicht die im Leben. Und es tut mir leid zu sagen, aber das ist wirklich nicht vergleichbar. Über Verlust kommt man früher oder später hinweg, vielleicht nie ganz, aber es wird besser. Der Hunger begleitet so viele Menschen täglich, ein Leben lang. Und der wird nicht besser. Weil die Ungerechtigkeit bleibt. Weil die Menschen, die die Gerechtigkeit im Leben verspüren, kein Interesse haben, daran etwas zu ändern. Und das seid ihr. Trauert ruhig, ich würde es ja auch tun. Aber vergesst nicht die, die immer noch leiden."

Die Worte in mir verstummen, ich fühle mich befreit, dass ich es endlich mal ausgesprochen habe, doch irgendwie spüre ich eine gewisse Enge um meinen Brustkorb.
Die anderen schweigen, ich warte auf eine Reaktion. Irgendeine. Loise blinzelt leicht, Fernando und Leon starren mich mit säuerlichen Blicken an.
Und doch ist es Anastasia, die als erstes das Wort ergreift.
„Wag es nicht über den Tod zu urteilen, zu sagen, dass du den Verlust kennt, wenn der Tod dir unbekannter ist, als du es dir selbst bist. Und das hat etwas zu bedeuten."
„Ich bin mehr mit mir im Reinen als ihr glaubt."
„Dann hast du dich nicht reden hören", erwidert Anastasia kalt.

„Ich habe den Tod noch nie hautnah erlebt, das ist wahr."
Alexej lasse ich bewusst außen vor, weil ich weiß, dass ich mir dadurch keine Freunde machen würde.
„Aber den Verlust schon. Ich wage nicht zu behaupten, dass der Verlust eines Lebenden schlimmer ist, es ist wieder nicht vergleichbar. Es ist anders. Und es tut auch weh. Wenn du einen Lebenden verlierst, durch Taten, durch Worte, durch was weiß ich - dann kannst du die Schuld allein in dir suchen. Du kannst nicht der Ungerechtigkeit die Schuld geben, nicht womöglichen Schuldigen am Tod des Verstorbenen. Du verlierst eine Person, die dir nahestand und du bist der einzige, dem du dafür die Schuld geben kannst. Und dafür musst du mit dir selbst im Reinen seien, um das zu überstehen."

Ich wiederhole mich in meinen Worten. Versinke in meinen Emotionen, versuche meinen Gedanken, als ich sie zum ersten Mal laut ausspreche, Ausdruck zu verleihen, damit die anderen sie bestmöglich verstehen, vielleicht sogar nachvollziehen können.
Dann verschließe ich mich. Verschließe mich voll und ganz, als Leon anfängt zu lachen, über das, was ich jahrelang aufgebaut habe. Über die Meinung, die mich ausmacht.

„Ich habe meine Meinung gesagt. Jetzt ist es euch überlassen, was ihr damit anfangt. Aber ich habe nichts mehr zu sagen, insbesondere, wenn man respektlos behandelt wird, dafür, dass man seine Meinung sagt", sage ich, gebe meiner Stimme ein wenig Härte und entlasse mich selbst.

Stehe auf, laufe in Richtung der Hügel und rede mir ein, dass mich das alles nicht verletzen sollte, weil mich die Meinung der anderen eigentlich nichts zu interessieren haben. Und doch geht es mir unter die Haut. Meine Hand zittert, als ich sie zur Faust balle, in der Hoffnung, den Schmerz mit Wut auszugleichen. Vergeblich. Zum ersten Mal in langer Zeit kann ich der Ungerechtigkeit nicht die Schuld geben. Und das lässt mich darüber nachdenken, ob Leon nicht vielleicht doch recht hatte mit seiner Aussage über mich.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top