₀₃₇
Wieso sieht er so friedlich aus? Ich hoffe, es geht ihm gut, wo auch immer er jetzt ist. Ich bringe es nicht übers Herz, ihn länger anzuschauen. Mit jeder Sekunde, in der ich sein blasses Gesicht sehe, seine für alle Ewigkeit geschlossenen Augen, zieht sich meine Brust ein Stück mehr zusammen. Der Kloß im meinem Hals wächst mit jedem Moment, in dem er fort ist.
Um es hinter mich zu bringen, ziehe ich ihn von der Decke herunter, es ist unglaublich unangenehm, einen Toten anzufassen. Die pure Kälte wirkt, als hätte ich ihn aus seiner Totenruhe geweckt und seine Wut auf mich gezogen. Ich ziehe in zwei schnellen Bewegungen meine Stiefel aus und trete hinein in das kühle Wasser. Ich packe ihn an seinen Handgelenken, wie er es mit meinen gemacht hat, kurz vor seinem Tod, ziehe ihn mit mir. Die Wellen schwappen über ihn, doch als wir eine gute Tiefe erreicht haben, ist es mir möglich, ihn über Wasser zu halten, indem ich mit meinen Unterarmen seinen Körper stütze.
Mir scheint es, als wäre das eine gute Idee, ihn in seine Totenruhe zu schicken. Sein Vergleich hallt noch immer in meinem Ohr, und jetzt wird er untergehen.
Ein letztes Mal will ich ihm ins Gesicht schauen. Ich neige meinen Kopf, die Leere führt mich in das Leid.
Was wäre, wenn die Haare nicht hellbraun, sondern schwarz wären? Die für immer geschlossenen Augen statt der Farbe des Meeres braun wären? Es Leon wäre, der hier tot liegen würde, nicht Alexej? Was wäre dann?
Mörder, Mörder, Mörder, flüstern meine Gedanken. Ist es unmenschlich, dass ich sowohl glücklich darüber bin, dass ich niemanden umgebracht habe, als mir auch wünsche, dass es Leon wäre, der tot ist?
Was wäre dann? Die Schuld würde mich fortan begleiten, doch ich hätte immer noch die eine Person, mit der ich darüber reden könnte, die es mehr verdient hat zu leben, als ich mit meinem reinen Gewissen? Das trotz der Tatsache, dass Leon noch lebt, nicht so rein ist, wie ich es gerne hätte. Die Schuld lastet doch trotzdem auf mir.
Ich fange an zu weinen. Nicht leicht, nein, ein hässliches Weinen. Ein solches, bei dem man seine Gesichtszüge nicht mehr unter Kontrolle hat, bei dem man so leise ist wie der Schmerz laut.
Meine Schultern beben, doch ich setze mich in Bewegung. Ich will Alexej so weit hinaus ins Meer tragen, wie ich kann. Es ist nur ein Symbol, doch ich will zeigen, wie weit er gesprungen ist, wie lange er gekämpft hat. Er hat solche Mühe verdient und ich muss meine Schuld ausgleichen. Dafür, dass er mir geholfen hat, so sehr geholfen hat.
Ich schwimme, und trotz aller Anstrengung komm ich kaum voran. Alexej ist zu schwer, sein Gewicht macht es schwer zu schwimmen. Ich kämpfe, mit dem Wunsch aufzuhören, mit den Wellen, die mir immer wieder Salzwasser ins Gesicht spülen. Meine Selbstdisziplin ist nicht hoch, aber dieses eine Mal, will ich es schaffen. Dann geht es auf einmal leichter, vielleicht hat jemand die virtuelle Realität manipuliert, dass es leichter ist, doch dafür hasse ich die Person nur. Es soll nicht leicht sein, der Abschied soll nicht leicht sein. Als hätte man meine Gedanken gelesen, geht es wieder schwieriger. Ich habe zu kämpfen. Doch ich strampele, obwohl ich kaum etwas sehe, mein Körper lässt mich nicht im Stich.
Irgendwann weiß ich, dass es nicht mehr geht. Ich habe mein Bestes gegeben und das reicht hoffentlich, um Alexej die Ehre zu geben, die er verdient hat. Das Wasser schwarz, wie der Tod. Und dann lasse ich los, sehe dabei zu, wie sein Körper immer weiter sinkt, bis ich ihn nicht mehr sehe. Und selbst dann bilde ich mir ein, ihn weiterhin zu sehen. Minutenlang starre ich auf die Stelle, meine Tränen versiegt, mein Innerstes ausgehöhlt. Es wäre so leicht, ihm jetzt zu folgen.
Will ich das? Dann wäre mein Gewissen, welches nicht so rein ist, wie ich es mir wünschen würde, das Leid, die Leere, all das wäre weg. Doch genauso wäre die Chance auf einen Neustart verschwunden. Die Hoffnung, die Alexej mir beigebracht hat zu sehen. Doch jetzt macht es keinen Sinn mehr.
Bald muss ich mich entscheiden, ansonsten wird mir die Entscheidung geraubt, weil ich keine Kraft mehr habe zurück zu schwimmen. Heißt das nicht, dass der Entschluss der Natur wäre, dass ich sterbe? Soll ich mich ihr beugen?
Wenige Sekunden lang paddle ich auf der Stelle, die Wellen tragen mich.
Hole tief Luft, tauche unter. Die Schwärze des Wassers ist kaum aushaltbar. Kaum Licht dringt durch die Wasseroberfläche. Die Dunkelheit kann sich hier ungestört aufhalten, wo sie sonst doch immer vertrieben wird. Ich beginne mit meinen Schwimmzügen. Tiefer und tiefer, der Druck auf meinen Ohren baut sich immer mehr auf. Wüsste ich nicht, aus welcher Richtung ich komme, hätte ich keine Ahnung wo oben und unten ist; rechts und links.
Das Salzwasser schmerzt in meinen Augen, doch ich lasse sie offen. Brauche diese Dunkelheit, um mich zu entscheiden, ob ich wirklich sterben will.
Trotz meinem Willen habe ich Angst. Mir geht die Luft aus und ich weiß nicht, ob ich es, selbst wenn ich mich für das Leben entschließe, wieder nach oben schaffe. Aber das gehört dazu. Ich halte fest an der Angst, die mir Halt in der puren Endlosigleit gibt. Fühlt sich der Tod so an? So ruhig, so still? Und gleichzeitig so unangenehm?
Will ich sterben? Es wäre wahrscheinlich nicht einmal mein endgültiger Tod. Schließlich habe ich am eigenen Leibe erfahren, dass der Tod hier nicht die Wirkweise hat wie in der Realität.
Will ich die Erfahrung machen?
Dann drehe ich um. Die Angst führt mich nach oben. Ich trete mit ganzer Kraft das Wasser unter mir weg, habe nicht das Gefühl, etwas zu erreichen. Panik macht sich in mir breit.
Als ich schließlich die Wasseroberfläche doch noch durchbreche, muss ich nach Luft schnappen, so knapp war es. Die Wellen haben mich näher an den Strand getrieben, wenige Schwimmzüge später, fühle ich den weichen Sand unter meinen Füßen und erst dann erlaube ich es mir, Erleichterung zu verspüren.
Mir ist kalt, doch die Kälte vertreibt den Schmerz. Ich atme durch, fühle die beruhigende Stille in meinem Kopf. Die Gedanken kommen zurück, dessen bin ich mir sicher, aber im Moment fahre ich mir durch die nassen Haare und fühle mich frei. Fühlt sich der Tod so an? Oder ist das nur das Leben, dass dich geradeso vor ersterem bewahrt hat?
Diese Nahtoderfahrung hat mir gezeigt, dass ich irgendwo in mir doch noch einen Hoffnungsfunken habe. Auf den muss ich setzen.
Ich trete aus dem Wasser und der Sand setzt sich direkt an meinen Füßen ab. Normalerweise hasse ich das Gefühl, aber dieses Mal ist es mir egal.
Kaum setze ich mich zu den anderen, werde ich in das Gespräch eingebunden, dass gleichzeitig so angenehm und angespannt ist, weil jeder die Hintergedanken im Kopf hat. Die Sonne geht langsam auf, und niemand fragt, was ich so lange gemacht hat, niemand hat auch nur den Ansatz einer Idee, dass ich gerade fast hätte sterben können.
Das macht es einfacher. Damit bin ich nur noch mit Alexejs Tod konfrontiert, der mir das Atmen schwer macht, obwohl ich längst aufgetaucht bin.
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