₀₃₅

/Es tut mir leid, dass ich gestern vergessen habe, ein Kapitel zu veröffentlichen. Vielleicht ist es Zufall, vielleicht ist es Schicksal, dass es ausgerechnet dieses ist. Ich nutze einfach mal die Gelegenheit und bedanke mich für eure Unterstützung! Dieses Kapitel zu veröffentlichen tut mir im Herzen weh./

Eine Woche später und ich mache mir immer noch Gedanken über alles, was Lien gesagt hat. Einerseits über das, was er bezüglich Fernhalten von Alexej gesagt hat, weil dieser heute morgen sehr distanziert gewirkt hat und auf der anderen Seite über das, was er bezüglich seiner Vergangenheit erzählt hat.
Irgendwie tut er mir gleichzeitig leid und beeindruckt mich. Ich glaube nicht, dass ich das geschafft hätte. Aber ist das der Grund, wieso er hier ist? Denn das würde keinen Sinn machen, nicht für mich. Wir haben alle mentale Probleme und das, was er durchgemacht hat klingt wirklich nicht besonders schön, aber mit der Psyche hat es nichts zu tun. Was hat er dann noch alles erlebt?

Die letzten Tage waren ziemlich eintönig und ich frage mich, was es für einen Zweck hat, uns zu langweilen? Sollten wir nicht so realitätstreue Erlebnisse durchleben wie möglich, damit wir von dem üblichen Leid nicht vollkommen überrumpelt werden? Interessant ist auch die Beobachtung, dass wir uns, je länger wir aufeinander hocken, mehr streiten. Als würden wir uns nur gut verstehen, wenn wir noch Distanz halten, aber sobald es hart auf hart kommt, ist es vorbei mit Freundschaft. Ich habe mir das Phänomen so erklärt, dass Freundschaft etwas schönes ist, bis man etwas zu privates über sich erzählen soll.

Deswegen ist wohl Smalltalk so beliebt.

Gerade sitzen wir einfach auf der Wiese vor der Hütte und starren in die Luft, Loise reißt Grashalme aus, Alexej hat sich auf den Rücken gelegt und lächelt noch immer, obwohl die Sonne schon längst untergegangen ist, wir anderen genießen die Wärme oder hassen die Langeweile. Bei mir ist etwas von beidem dabei.
„Kann nicht mal was passieren?", fragt Álvadro und seufzt genervt. Er ist die Ungeduld in Person, das haben wir die letzten Tage mehr als deutlich zu spüren bekommen. Und mittlerweile gibt es auch keine Themen über die wir reden können, wenn man den ganzen Tag miteinander verbringt, gibt es eben nichts Neues zu erzählen.
„Das Projekt ist echt nicht so gut durchdacht", beschwert sich auch Loise. Ich glaube, mit jedem Tag, den sie hier verbringt, kommt sie mehr mit ihrer Situation klar. Ihr hilft das Projekt, auch wenn es ziemlich realitätsfern ist. Schließlich braucht sie nur Zeit, sie muss lernen zu akzeptieren, dass ihre Eltern tot sind. Dazu braucht sie keinen Realitätsbezug.

Ich im Gegenzug, weiß nicht einmal, ob es überhaupt etwas bringt. Ob Leon danach aufhört. Man muss dazu sagen, dass er dieses Mal jeden Grund dazu hätte, es nicht zu tun. Ich mein, ich hab ihn umgebracht. Wenn auch nur vorübergehend. Aber das macht die Sache nicht besser. Dieses Mal würden sich seine Taten durch meine rechtfertigen lassen und das macht mir Angst. Denn dann kann ich nicht mehr sagen, dass ich nichts dafür kann.
Aber im Moment verhält er sich überhaupt nicht feindlich zu mir.

"Lass uns schlafen gehen. Wir können morgen ja überlegen, ob uns irgendwas aufregendes einfällt, aber für heute reicht's mir", meint Leon und steht auf, reicht Loise die Hand, um ihr beim Aufstehen zu helfen.
"Gehen wir auch?", fragt Fernando Maria und diese nickt. Auch ich stehe auf, warte auf die anderen, die sich aufräkeln.

"Kommst du nicht?", frage ich Alexej, der nicht einmal die Augen aufgeschlagen hat.
"Nein, ich bleib noch eine Weile hier"  erwidert er leise, seine Stimme klingt traurig.
"Soll ich dir Gesellschaft leisten?", hake ich besorgt nach und als er nur ein Schulterzucken andeutet, lasse ich mich wieder nieder. Er sieht wirklich nicht gut aus. Ist irgendetwas passiert?

"Komm, dann bleiben wir auch noch", meint Lien zu Álvadro.
"Ne, lassen wir ihnen mal bisschen Zweisamkeit", widerspricht er und geht schonmal vor ins Haus.
"Okay. Alexej, kümmere dich um sie", sagt Lien nach einem Zögern, seine Stimme ganz rau. Auch die Botschaft hinter seinen Worten ergibt keinen Sinn. Sieht er nicht, dass Alexej derjenige ist, dem es schlecht geht?
"Mache ich sowieso. Und du...", diesmal schlägt er die Augen auf und stützt sich leicht nach oben, um Lien in die Augen schauen zu können. Dieser nickt leicht, als hätte er etwas unausgesprochenes verstanden, wofür ich zu dumm bin. Leicht runzele ich die Stirn, unterdrücke aber meine Neugier.

"Wie geht's dir?", frage ich Alexej stattdessen, als Lien ebenfalls endgültig verschwunden ist.
"Den Umständen entsprechend."
"Welche Umstände meinst du? Die Langweile? Das Nichtstun?" Meine Besorgnis wächst an, doch er schüttelt nur den Kopf.
"Was ist es dann? Rede mit mir", verlange ich und fühle mich auf einmal hilflos. Ist es normal, dass man nicht weiß, wie man einem Freund in einer schwierigen Situation hilft? Oder liegt es an mir, an meiner Vergangenheit, dass ich nicht viel Erfahrung mit Freundschaft gemacht habe? Was mache ich falsch? Bin ich zu voreilig? Habe ich etwas übersehen? Ging es ihm unbemerkt schlechter?

"Es wird alles gut."
Und dann hat er auf einmal Tränen in den Augen.
"Es wird alles gut" wiederholt er. Auch mir kommen die Tränen auf, ich weiß nicht wieso.
"Es wird..."
Er keucht auf, hält inne und zuckt zusammen. Seine Hände fangen an zu zittern und ich habe schon Angst, dass es das Gleiche ist, wie mit Lien und Álvadro, als es abrupt aufhört.
Eine stille Träne rinnt ihm über die Wange.
"Alles gut."
"Sch, bleib ruhig. Du schaffst das", flüstere ich ihm beruhigend zu, bette seinen Kopf in meinen Schoß und streiche ihm eine Strähne aus dem Gesucht, welches von Schweißperlen bedeckt ist.

Er packt mein Handgelenk mit seinen Händen und hält es fest umklammert. Der Blick in seinen Augen sagt so viel, doch für mich nur unergründliches.
"Es tut mir leid. Es tut mir so unglaublich leid", haucht er und fängt an zu husten.
"Dir muss nichts leid tun. Was soll dir leid tun? Bleib einfach still, wir schaffen das", flüstere ich, meine Stimme bricht.
"Ich hätte es dir sagen müssen", meint er unter Tränen und umfasst meine Hand noch stärker.
"Was meinst du?"
"Alles. Nichts. Es tut mir..."
Er krümmt sich, sein Gesicht verzieht sich vor Schmerzen.
"Sie haben doch gesagt, dass ich keine Schmerzen spüren werde. Deswegen habe ich das doch gemacht."
Seine Stimme ist kaum mehr als ein Hauch in der Abendluft, die auf einmal so viel kälter wirkt. Es ist warm, aber mir ist kalt.

"Ich habe Angst, Anastasia. Ich will nicht sterben", flüstert er, seine Tränen sind kaum mehr aufzuhalten.
"Du brauchst keine Angst zu haben. Der Tod ist etwas befreiendes", wispere ich, während ich die Bedeutung hinter seinen Worten versuche zu begreifen. Aber die Wahrheit versteckt sich hinter einer Mauer, einem Widerstand, der es nicht einsehen will.
Ich war noch nie tot, aber auf der Schwelle dahin. Auch das eine Tatsache, an die ich mich nicht erinnere. Doch die Folgen waren wunderschön.
"Es tut mir so leid."

Ich muss die Augen schließen, um von meinen Tränen nicht übermannt zu werden.
Dann fängt er wieder an zu zucken, ich halte ihn fest umschlungen.
"Erinnerst du dich an deinen Vergleich mit den Steinen?", frage ich flüsternd. Meine Stimme zittert, aber ich versuche so stark wie möglich zu wirken. Damit er ohne Hintergedanken Schwäche zeigen kann, weil er noch einen Halt hat.

"Du gehst unter, so wie jeder und das früher als du solltest", beginne ich. Die Worte kaum zu hören, aber ich weiß, dass er sie sowieso nicht mehr aufnehmen kann. Er ist nicht mehr bei Bewusstsein, sein Atem geht flach und schwer. Er ist nicht mehr anwesend.

"Es tut mir so leid", meine ich diesmal.
Mein Gesicht verzieht sich zu einer Grimasse, als ich unbändig anfange zu schluchzen. Tränen tropfen von meinem Kinn auf sein Hemd, das sich kaum noch hebt und senkt.

"Du gehst nicht unter. Du kannst nicht untergehen", murmele ich, jetzt, wo die Wut in mir aufkommt. Die Wut auf den Tod, auf den Meeresgrund, der einem das Leben raubt. Wieso? Wieso muss er jetzt genau ihn zu sich nehmen?

"Es tut mir...", die Worte gehen in einem erneuten Hustenanfall unter, die Schmerzen reißen ihn aus seiner Bewusstlosigkeit.
"Du bleibst hier, bei mir. Wehe du stirbst", schreie ich ihn an und rüttele an ihm. Eine einzelne Träne rinnt an seiner Wange hinunter.

"Ich bring dich um, ich bring dich um, wenn du stirbst", stoße ich vergebliche Drohungen aus, bis meine Stimme vom Wind in die Ferne getragen wird.
Ich beiße mir auf die Lippe, als er anfängt nach Luft zu schnappen. Wieso? Was hat Alexej dem Leben angetan?

"Du...", er will etwas sagen, doch seine Stimme bricht. Ich beuge mich vor, um jedes seiner Worte aufzunehmen, so leise sie auch sind. Doch es kommt nichts mehr, er ist auf Ewigkeit verstummt.
Seine Augen verglasen, sein stoßweiser Atem stoppt gänzlich, seine Hände erschlaffen.
Er ist untergegangen. Und ich sinke mit seinem Tod ebenfalls in die Tiefe.

Ich falle.

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