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"Es gibt einen Notfall...", wiederholt er.
„Nummer 3 weist beunruhigende Gedanken auf", teilt der Mann uns mit und Olivia stürzt aus dem Raum. Weil ich wissen will, wer Nummer 3 ist, renne ich den beiden hinterher. Die anderen Mitarbeiter werfen uns teilweise neugierige Blicke zu, halten ihre Fragen aber zurück und drehen sich nach und nach wieder zu ihren Arbeitsplätzen um.
„Anastasia, was machst du nur", murmelt Olivia vor sich hin und stützt sich auf den Schreibtisch, um die Gedanken besser unter die Lupe nehmen zu können. Mich interessieren eher die Bilder, die aus den verschiedensten Perspektiven zeigen, was in der virtuellen Realität gerade vor sich geht. Anastasia sitzt gerade an eine Wand des Hauses gelehnt da und hat einen verbissenen Gesichtsausdruck aufgesetzt.
„Sieht nicht gut aus, gar nicht gut."
„Warten Sie, hier - das Bild und die Gedanken kommen verzögert an. Anscheinend hat Nummer 3 überdurchschnittlich viele verschiedene Gedanken, das Programm ist überlastet. Mittlerweile sollten bei ihnen mindestens zehn Minuten vergangen sein von diesem Zeitpunkt aus", sagt der Mitarbeiter und sucht hektisch etwas aus seinen Unterlagen.
„Ich kann es reparieren", fügt er hinzu und atmet erleichtert auf, als er ein Papier aus dem Stapel zieht.
„Worauf warten Sie?", motzt Olivia ihn an und reibt sich die Stirn. Ich stehe etwas unschlüssig daneben und werfe einen Blick auf den Monitor, auf dem Anastasias Gedanken angezeigt werden.
Hab ich es nicht verdient zu sterben?
Ich ziehe scharf die Luft ein. Solange sie jetzt nichts unüberlegtes macht...
„Notfall: war in den letzten zehn Minuten Nummer 3 bei euch zu sehen?", fragt Olivia in ein Mikrofon hinein, dass wohl in die Kopfhörer der Mitarbeiter geleitet wird. Eine Frau hebt ihren Arm ohne sich umzudrehen und sie seufzt erleichtert auf, bevor wir den Raum durchqueren.
„Nummer 7 hat die letzten Zwanzig Minuten mit Nummer 3 verbracht", erklärt die Frau Olivia und diese streicht sich nervös durchs Haar.
„Zwanzig Minuten, das ist gar nicht gut. Aber scheint es ihr gut zu gehen?"
„Sehen Sie für sich selbst."
Anastasia und Alexej liegen nebeneinander auf einer Wiese und genießen die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Beide lächeln und es scheint, als würde die ganze Last von Olivias Schultern abgefallen sein. Automatisch fühle ich mich ein wenig glücklicher. Ich glaube Olivia ist im Kern wirklich gut, vor allem, weil sie sich wirklich um die Teilnehmer sorgt.
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„Wieso kümmern sie sich so um uns?", platze ich mit einer willkürlichen Frage heraus, die in meinem Kopf ungeklärt ist. Mittlerweile sitzen wir wieder in dem Nebenraum, nachdem alles repariert und geklärt wurde.
„Naja, mein Projekt, meine Verantwortung. Wenn es euch schlechter geht, wenn euch was passiert, ist das meine Schuld", erklärt sie und verzieht den Mund.
„Manchmal kann man das Schicksal nicht aufhalten", erwidere ich und weiß genau wovon ich spreche. Alexej. Er weiß es, kann aber nichts tun, außer zuschauen und seine Zeit genießen.
„Was meinen Sie eigentlich mit den Chips?", hakte ich wieder nach.
„Keine Sorge, wir haben nichts in euren Gehirnen eingebaut. Sind nur Naniten, oder auch Nano-Bots die wir so genannt haben, weil sie die gleiche Wirkweise von Chips aus ScienceFiction-Büchern haben. Die haben wir einfach in eure Blutbahnen gespritzt, sodass die uns solche Informationen geben."
„Das geht?"
„Anscheinend", sagt sie und lacht, „Manchmal bin ich selbst noch überrascht. Egal, wie viel wir forschen, so ganz vorstellen kann ich es mir trotzdem nicht."
Ich bette meinen Kopf in meinen Händen. So viele Informationen. Ich habe noch so viele ungeklärte Fragen, aber mein Kopf brummt jetzt schon. Vielleicht ist es besser bei meinem Unwissen zu bleiben. Insbesondere, weil ich den anderen garantiert nichts hiervon erzählen darf. Je mehr ich weiß, desto mehr muss ich geheim halten, desto wahrscheinlicher ist es, dass ich etwas verrate, was ich nicht sollte.
„Wann kann ich zurück in die virtuelle Realität?", frage ich Olivia und sie zuckt mit den Schultern.
„Jetzt? Sobald du willst. Ich denke, es ist klar, dass diese Informationen unter uns bleiben, also solange du dich daran hältst, ist es deine Entscheidung."
Will ich schon zurück? Bin ich bereit, den anderen gegenüber zu treten?
Ich weiß alles.
Anastasia denkt über Selbstmord nach, Leon will Rache. Loise hat ein Trauma, genauso wie Fernando. Nur, dass es sich bei Fernando stärker ausgewirkt hat, so dass Maria für ihn da sein muss. Álvadro hat Angstzustände, das Schlimme daran ist ja, dass ich es nicht nur weiß, nein, ich habe gefühlt, was er fühlt und das will niemand. Pure Angst zu haben, ohne etwas dagegen machen zu können. Zu wissen, dass die Angst unbegründet ist, ohne etwas dagegen machen zu können.
Und Alexej, über ihn will ich eigentlich gar nicht nachdenken. Ich werde ihm in die Augen schauen müssen, jeden Tag so tun, als wisse ich nicht, dass es sein letzter sein könnte. Psychisch krank ist er nur leicht, eine leicht ausgeprägte Form der Depression, aber einem Sterbenden schlägt man keinen Herzenswunsch ab.
Ich kann nichts mehr denken, ohne, dass es jemand mitbekommt. Das macht mir Angst. Mehr Angst, als ich gedacht habe.
Irgendwie ging mir doch immer am Arsch vorbei, was andere über mich denken. Aber das ist nochmal anders. Das einzige, was mir niemand wegnehmen konnte, waren doch meine Gedanken. Die haben ganz mir gehört. Aber jetzt nicht mehr. Jetzt bin ich Teil eines Größeren, meine Gedanken für einige frei zugänglich.
Ich hasse es. Schon jetzt, nach wenigen Minuten, in denen ich weiß, dass jemand meine Gedanken kennt, hasse ich es. Es raubt mir meine Nerven.
„Können Sie das Projekt nicht durchführen, ohne in die Privatsphäre der Teilnehmer einzudringen?", frage ich Olivia und rechne kaum mit einer vernünftigen Antwort. Das Projekt dreht sich nur um die Forschung, da wird sie nicht das aufgeben.
„Ich wünschte, ich könnte. Aber das geht nicht. Dadurch können wir euch bestmöglich helfen, das ist nur zu euren Gunsten", erklärt sie trotzdem und ich verziehe das Gesicht.
„Danach fühlt es sich nicht an", murmele ich.
„Das weiß ich. Aber es muss sein."
„Sie wissen gar nichts! Woher auch? Wir sind die einzigen, die wissen, wie sich das anfühlt. Eigentlich ja nur ich, den anderen haben sie das alles verheimlicht? Wieso denn? Ist doch nur zu ihrem Besten!"
„Sie würden es nicht verstehen", widerspricht Olivia.
„Da gibt es auch nichts zu verstehen. Sie nutzen uns aus für ihr verdammtes Projekt. Es ist nicht zu unserem Besten! Dann hätten Sie uns alle Informationen gegeben und uns entscheiden lassen!"
„Wir-..."
„Ich möchte zurück", unterbreche ich sie kalt und sie zuckt leicht zusammen. Scheinbar hat sie nicht mit so einer extremen Reaktion meinerseits gerechnet. Soll sie sich doch mal vorstellen, wie es wäre, wenn ihre Gedanken für andere frei zugänglich wären. Allein bei dem Gedanken wird mir übel.
Diesmal laufe ich vor, beim Weg kann man kaum etwas falsch machen. Olivia läuft hinter mir her, mit gerecktem Kinn aber hängenden Schultern. Ich hoffe, ich hab sie zum Nachdenken gebracht. Ich hoffe, sie realisiert, dass sie etwas Falsches macht. Sie nutzt ihre Forschungsergebnisse zu etwas Gutem, aber sie nutzt sie falsch. Sie will helfen, aber das tut sie nach ihrem Bestwissen.
„Hier musst du rein", sagt sie mit krampfhaft lauter Stimme, aber sie ist zittrig.
Ich öffne die Tür und trete in den kahlen Raum hinein. Dieses Mal wirkt er wie ein Gefängnis.
Aber ich muss da durch, ich muss den anderen helfen, denn ich fühle mich ihnen gegenüber verpflichtet, die Wahrheit zu sagen. Und auch, wenn ich es nicht darf, kann ich zumindest dort helfen, wo ich darf. Immerhin weiß ich dank der neuesten Forschung alles über ihre Gedanken und Erfahrungen. Zwar habe ich nicht danach gefragt, aber die Zeit zurück drehen kann ich sowieso nicht mehr.
Also wieder zurück. Meine einzige Möglichkeit, die einzige, die für mich in Frage kommt.
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