₀₂₇

Die Sonne geht gerade auf, als ich das Fenster quietschend öffne. Die frische Luft benebelt meinen Verstand, nur nicht so weit, als dass ich gestern vergessen könnte. Irgendetwas ist passiert. Und ich weiß nicht, ob ich wissen will was.

Soll ich nochmal ins Bett gehen? Es ist bestimmt noch niemand wach. Ich entscheide mich dagegen, der Ruhe willen. Den ganzen Tag, die ganze Zeit über verbringen wir Zeit miteinander, aber wir denken nicht daran, uns auch mal Zeit für uns selbst zu nehmen.
Also ziehe ich die Strumpfhose und das Kleid an, weil ich nur in Unterwäsche geschlafen habe und schleiche die Treppen hinunter. Man könnte meinen, es wäre unhygienisch, solange die gleichen Klamotten zu tragen, aber ich glaube, so wie wir keinen Hunger haben, müssen wir auch nicht Wäsche waschen. Die Welt hat noch nie so etwas Praktisches gesehen, auch wenn ich auch nichts gegen leckere Nudeln hätte.

Tatsächlich bin ich nicht die einzige, die schon wach ist. Im hellen Blaugrau des Morgens lässt sich eine kleine, zusammengekauerte Gestalt ausmachen, die an der Hütte lehnt. Kurz überlege ich, sie in Ruhe zu lassen, weil Loise mich sowieso nicht leiden kann, aber vielleicht braucht sie jemandem zum reden. Also setze ich mich zu ihr und lege meine Hände auf die angewinkelten Knie. Das Gras ist noch leicht feucht vom Tau, in der Ferne geht die Sonne auf und automatisch atme ich ruhiger. Die Stille ist betäubend.

"Kannst du nicht schlafen?", frage ich Loise und unterbreche die Ruhe nur ungerne.
"Nein. Schon lange nicht mehr", erwidert sie leise und ich bin wirklich froh, dass sie im Moment ihre Feindseligkeit beiseite legt. So kann man darüber reden, was einem am Herzen liegt.
"Gibt es irgendetwas, was dir helfen könnte?"
"Ich glaube nicht. Die Ärzte haben schon alles versucht, Schlaftabletten haben bei mir nur zu Albträumen geführt und das ist schlimmer als wach bleiben."

"Aber musst du nicht irgendwann vor Müdigkeit einschlafen?", frage ich nach einer Weile.
"Dachte ich eigentlich auch...aber anscheinend eher weniger. Und selbst wenn, was nur ganz selten passiert, wache ich spätestens eine Stunde später wieder auf."
Ich kneife die Augen zusammen. Loise tut mir leid. Ich weiß noch, dass ich eine Phase hatte, in der ich immer sehr schlecht eingeschlafen bin und wie verzweifelt ich immer war, als ich nie zur Ruhe kommen konnte. Aber das lässt sich wohl nicht vergleichen.

"Liegt das an deinen Eltern?", frage ich mitfühlend und sie nickt nur. Dann vergräbt sie wieder den Kopf in den Händen, ich glaube, meine Frage war nicht gerade zum richtigen Zeitpunkt gestellt. Es muss grausam sein, sich immer wieder daran zu erinnern. Vor allem, weil Familie so ein Alltagsthema ist, das sich unbewusst einfach nicht vermeiden lässt.

Wir sitzen eine Weile nebeneinander, aber die ganze Zeit fühle ich mich eingeengt, weil ich weder ein Geräusch von mir geben will, noch mich bewege, um Loise nicht aufzuschrecken. Irgendwann halte ich es nicht mehr aus und stehe auf, weil ich nichts mehr zu sagen hab, was ihr helfen könnte. Ich bin kein Therapeut, habe mich noch nie mit der Psyche der Menschen auseinandergesetzt. Wie soll ich, ausgerechnet ich von allen Menschen, wissen, wie ich ihr helfen kann?

Die Baumgruppe bildet wenig Schutz vor Blicken und gerade will ich einfach nur meine Ruhe. Mir fällt der Stall ein, den Álvadro, Loise und Lien erwähnt hatten, bei dem ich allerdings noch nicht war. Vielleicht kann ich da hingehen, um ein wenig Zeit für mich zu haben. Auf der anderen Seite wachen die anderen wohl bald auf und ich will nicht, dass sie mich suchen müssen. So wie gestern. Sobald ich daran denke, ist es vorbei mit meiner inneren Ruhe und ich fühle mich aufgewühlt. Was war gestern los mit Lien?

Meine Füße tragen mich schließlich die leichte Erhebung hinunter, doch ich zwinge mich stehen zu bleiben. Entzweigerissen drehe ich keinen Kopf von der Hütte zum Stall. Was soll ich machen? Eine leichte Entscheidung, die mir merkwürdig schwer fällt.

Ich entschließe mich dazu, einfach auf der anderen Seite des Hauses zu sitzen. Da werde ich mitkriegen, wenn andere aufwachen und habe trotzdem halbwegs meine Ruhe. Also laufe ich zurück und lasse mich wieder ins Gras sinken.
Nur im hinteren Teil meines Bewusstseins denke ich darüber nach, was es über mich aussagt, dass ich mich so entschieden habe.

Leon taucht auf einmal in meinem Blickfeld auf und augenblicklich spanne ich all meine Muskeln an.
"Ich bin nicht hier, um mich zu rächen. Allgemein sollte ich dir für deine Aktion eher nochmals danken. Damit hast du es ganz alleine geschafft, dass sich fast alle von dir abwenden", sagt er und setzt sich vor mich. Ich drücke meinen Körper wie automatisch ein Stück näher an die Wand.
"Was willst du dann? Solltest du dich nicht um Loise kümmern?"
"Nein, das mache ich gleich. Davor wollte ich aber dir nochmal einen Besuch abstatten."
"Wozu?", frage ich nach und beiße mir auf die Innenseite meiner Wange, um einen bissigen Kommentar zu unterdrücken.
"Damit wir ein bisschen plaudern können. Über Theo zum Beispiel", meint Leon und grinst, weil er weiß, was seine Worte in mir auslösen.

Ich versteife mich am ganzen Körper.
"Mein Bruder...", will ich wütend einwerfen, doch er unterbricht mich.
"Dein Bruder? Nanana. Erinnerst du dich nicht an das, was ich dir erzählt habe? Es überrascht mich immer noch, dass du deine Familie noch nicht konfrontiert hast."
Sein Grinsen wird breiter und ich unterdrücke einen Aufschrei. Immer wieder dieses Thema. Es ist ja nicht so, als würde ich nicht schon des öfteren darüber innerlich verzweifeln.
"Mein Bruder ist mein Bruder, egal, was du für Lügen verbreitest", fauche ich und zeige meine Wut offen.

"Aber innerlich weißt du doch, dass ich die Wahrheit sage, nicht? Du bist doch intelligent, Anastasia", provoziert er mich. Er hat mich so gut analysiert, so gut durchschaut. Er weiß, wie sehr ich meinen Namen hasse. Jedes Wort ist bewusst gewählt, um mich mehr und mehr zu zerstören.
"Und selbst wenn", gebe ich zurück.
"Wars das dann?", füge ich hinzu und stehe auf, um zu gehen.
"Ja, das wars. Wollte dich nur nochmal daran erinnern, wer hier die Macht über deine Gefühlt hat."

Seine Worte jagen mir einen Schauer über den Rücken und jeder Schritt von ihm weg ist eine Erlösung. Er hat Macht über mich und das weiß er leider allzu gut. Wie kann es sein, dass er mich so beeinflussen kann? Er hat es geschafft, mich zu einem Mörder zu machen. Ich spiele ihm mit all meinen Taten genau in die Karten. Er hat einen Plan, und auch wenn ich von seinen Gründen weiß, so habe ich leider keinen blassen Schimmer von dem, was er vorhat. Will er mein Leben zerstören? Oder strebt er etwas ganz anderes an?

Im Haus angekommen stütze ich mich unten an einer Wand ab und atme tief durch. Es ist so unglaublich schwierig, seine Worte zu verdauen, ohne dabei zu Grunde zu gehen. Ich kann einfach nicht mehr. Dieses Überleben, obwohl alle wissen, was ich bin. Ein Mörder.
Früher gab es doch Todesstrafen auf so etwas. Ist es nicht gerecht, jemanden umzubringen, der einem anderen das Leben genommen hat? Einen Ausgleich zu finden?

Ermordeter und Mörder.
Einer unschuldig, der andere schuldig.
Und doch beide tot.
Hab ich es nicht verdient zu sterben?
Mörder, Mörder, Mörder.
Ich verdränge die Gedanken so gut ich kann, aber es fällt mir schwieriger. Mit jeder Sekunde, mit jedem Wort, mit jedem abwertenden Blick.

Dabei sind es schon lange nicht mehr die anderen, die Mörder schreien. Sie denken es und ich tue es auch.
Die Luft geht mir aus und wir alle wissen es.

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