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Ich weiß alles. Jedes kleine Detail über die Aufenthaltsgründe hier, die Vergangenheit und die Gedanken der anderen. Und ich wünschte, ich wüsste es nicht. Wie kann das sein? Ist das technisch überhaupt schon möglich?

Gerade eben laufe ich neben Alexej und Anastasia her und täusche einen starren Blick vor, um Fragen zu vermeiden, auf die ich nicht wüsste, wie zu antworten. Soll ich es ihnen sagen? Es ist immerhin ein Eingriff in ihre Privatsphäre. Aber vielleicht geben sie mir dann genau deswegen die Schuld daran, dass ich Geheimnisse von ihnen kenne, obwohl ich nie danach gefragt habe.

Ich glaube zu wissen, wie das alles funktionieren kann. Wahrscheinlich ist dieses Projekt nicht nur dazu da, die mentale Gesundheit zu steuern, sondern auch dafür, die Technik voranzubringen. Vielleicht gab es eine Erfindung wie man Gedanken verbindet oder wie man sie lesen kann mit Hilfe modernster Geräte. Und weil jeder ein dunkles Geheimnis hat, von dem niemand, erst recht nicht die ganze Welt wissen sollte, gäbe es für einen Versuch keine Freiwilligen. Deswegen die Tarnung, die wirklich geschickt ist.

Mittlerweile weiß ich auch, dass Anastasia die Wahrheit sagt, aber ich habe auch Leons Geheimnis erfahren, das seine Taten mehr oder weniger gut begründet. Ich weiß einfach nicht, wie ich mich verhalten soll.

Alexej. Alexej. Am Anfang hatte ich seine Gedanken nicht zuordnen können, aber mit immer mehr Informationen wusste ich, dass er es war, dem nicht viel Zeit hier blieb. Dass er es war, der dachte Zu spät, zu wenig Zeit.
Ich weiß es. Wieso er hier ist, was er in seiner Vergangenheit durchgemacht hat. Und all das macht es unglaublich schwer, neben ihm zu laufen und zu tun, als wüsste ich es nicht.

Alle haben so viel durchgemacht, ich habe Erinnerungen durch Bilder gesehen, von denen man Filme drehen könnte, so grausam waren sie. Die negative Energie aus allen Erfahrungen ist jetzt gesammelt in mir und ich fühle mich vergleichsweise dumm. Ich habe nichts durchgemacht im Vergleich zu ihnen. Wieso bin ich überhaupt hier?

"Lien?", fragt Anastasia und ich muss mich zusammenreißen den Blick weiterhin starr geradeaus zu halten. Ich habe das Gefühl, dass man mir, wenn man in meine Augen sieht, ablesen kann, dass ich alles weiß, auch wenn das natürlich völliger Blödsinn ist.
„Lien? Können wir dir irgendwie helfen? Wenn du hörst, was wir sagen, gib einfach irgendein kleines Anzeichen."
Was soll ich denn jetzt machen? Soll ich schauspielern? Wie lange kann ich meinen Zustand noch vortäuschen, ohne, dass es jemand merkt? Wie lange kann ich noch so durchhalten, bis ich mit irgendwem darüber reden muss, damit meine Gedanken und insbesondere ihre Gedanken mich nicht umbringen.
Das Komische ist ja, dass ich nicht steuern kann, welche Gedanken ich wann lesen will, die Worte prasseln einfach ab und zu auf mich ein. Und gerade eben waren es eben keine Gedanken, sondern Erinnerungen, Bilder, so ziemlich alles.

Anastasia legt den Kopf in den Nacken und reibt sich die Augen. Ich weiß, dass sie mir nur helfen will, aber ich kann ihr doch nicht so unter die Augen treten, mit dem Wissen, mit allem Wissen über sie. Genau das gleiche gilt für alle anderen.

Nur noch wenige hundert Meter und dann sind wir bei der Hütte. Dort werden mich mehr Fragen erwarten, als ich ertragen kann und will.
„Lien?", fragt Alexej so aus dem Nichts heraus, dass ich vergesse, in meiner Rolle zu bleiben und den Kopf zu ihm hindrehe.
Noch im gleichen Moment hasse ich mich dafür und wende mich wieder weg von ihm, damit er nicht die Tränen in meinen Augen erkennt. Sein hoffnungsvoller Blick tut so weh, weil ich weiß, dass er die Hoffnung für sich selbst schon längst aufgegeben hat. Und seine Familie, ihr letzter Abschied - die Bilder haben sich in meine Seele gebrannt. Ich schließe schmerzerfüllt die Augen und presse meine Lippen aufeinander. Ich glaube, in den letzten Jahren noch nie mit einem Menschen so mitgefühlt zu haben.

Und es ist ja erst einer, es fehlen ja noch sechs. Sechs Augenpaare, die jetzt so anders wirken, wo ich die Geschichte dahinter kenne.

„Was ist los?", fragt Anastasia besorgt und ich kneife meine Augen zusammen, bevor ich sie wieder öffne, um die Tränen möglichst gut zu unterdrücken.
„Nichts", erwidere ich, meine Stimme rauer als erwartet.
Mir ist kalt, ich fühle mich krank. Es tut nichts bestimmtes weh, aber manchmal hat man doch das Gefühl, dass es einem nicht gut geht.

„Können wir irgendwas machen, damit es dir besser geht?", fragt Alexej und ich zwinge mich dazu, weiter stur geradeaus zu schauen, nicht den Kopf zu ihm zu wenden.
„Ich will einfach schlafen", murmele ich. Das entspricht sogar der Wahrheit. Die Erinnerungen haben mich hundert Jahre und mehr durchleben lassen.
„Gleich kannst du dich ausruhen."
Anastasias Worte geben mir Hoffnung. Vielleicht ist morgen alles besser. Vergessen werde ich das zwar niemals, aber ich kann mich möglicherweise auf etwas anderes konzentrieren.

Der Schlaf will einfach nicht kommen. Unten an meinem Fenster unterhalten sich die anderen und ich kann nicht anders, als ihrem Gespräch zu folgen. Sie haben sich bisher nur über banales unterhalten, ich glaube, weil sie die komplizierten Thematiken verdrängen wollen.
„Was ist jetzt eigentlich mit Lien?", fragt Maria und ich spitze die Ohren.
„Ich weiß es nicht. Er hat nicht viel geredet, ich glaube, dass er einfach durch irgendeinen Auslöser wieder in ein tiefes Loch gestürzt ist. Morgen ist er bestimmt wieder wie neu", tut Alexej es ab und ich wünschte, seine Worte wären wahr. Stattdessen werde ich jetzt mein ganzes Leben die Last von acht herumtragen. Kann ich bitte einfach nur vergessen?

„Niemand ist von einem Tag auf den anderen wieder wie neu, wenn er es ist, tut er nur so", meldet sich Fernando zu Wort und augenblicklich schnürt sich meine Kehle zusammen. Seine Vergangenheit ist wohl die schlimmste von allen.

Die Bilder von seinen Eltern, seiner Schwester. Blut und Feuer, Gewalt, Angst. Nur durch Glück hat er es geschafft dem Tod zu entkommen. Und was erwartet ihn? Mehr Tod, seine Freunde, Bekannte, Kinder. Die Bilder haben mich verstört. Und was wäre, wenn ich die Personen gekannt hätte? Wenn es meine Eltern wären, die umgebracht worden, meine Freunde, die in der Flut des Todes die erste Reihe bildeten. Die erste Reihe, die fiel.

Ich bedecke meine Ohren mit dem Kissen, umklammere die Decke, als wäre sie alles, was ich besitze. Wieso können meine Gedanken nicht wieder auf stumm schalten, wie vorhin. Das würde das Einschlafen so viel einfacher machen. Aber natürlich geht so etwas nicht auf Knopfdruck, sondern nur, wenn man es nicht gebrauchen kann. So wie eigentlich alles. Ich hasse es.

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