₀₂₅
Wie konnte er nur? Ist er dumm? Er ist einfach abgehauen. War es Absicht? Hat er bedacht, dass wir uns Sorgen machen, wenn er nicht auffindbar ist oder macht er es gerade deshalb?
„Wo könnte er sein?", fragt Alexej mit möglichst ruhiger Stimme. Ich glaube, wir sind alle ein wenig durch den Wind, es passiert so viel. Zu viel auf einmal.
„An seinem Spawn", schlägt Álvadro vor, der sichtlich Panik hat, Schweißperlen bilden auf seiner Stirn und er rauft sich die Haare.
„Aber wenn er da nicht ist, haben wir ein Problem, dann haben wir Zeit verschwendet", wirft Leon ein und ich werfe ihm einen Blick zu, der alles bedeuten könnte. Ich will doch nur, dass er seine wahre Identität zeigt, dass er sich vor den anderen nicht so verstellt.
„Teilen wir uns auf. Niemand alleine, das würde niemandem helfen, aber wir sind genug, um drei Gruppen zu bilden", sagt Alexej und wir nicken.
„Ich gehe mit Fernando, wir brauchen kurz etwas Zeit für uns", meldet Maria sich zu Wort und legt einen Arm um den angesprochenen, der sich kaum gegen sie wehrt.
„Dann geht ihr zum Wald", bestimmt Alexej und ich glaube ich spreche für alle, wenn ich sage, dass wir dankbar sind, dass irgendwer die Rolle des Anführers übernimmt.
Alexej ist perfekt dafür geeignet. Lässt sich auf jeden ein, hat nichts gegen irgendwen und ist nicht abgehoben.
Sie nickt und zusammen gehen die beiden.
„Dann brauchen wir noch eine Zweier- und eine Dreiergruppe", stellt Loise fest und wir nicken. Ich bete, dass ich nicht mit Leon zusammen komme.
„Alexej und Anastasia. Und Leon, Loise und ich?", schlägt Álvadro vor und wir nicken einstimmig. Das ist genau genommen das Beste, was mir hätte passieren können. Alexej ist nämlich mit Lien und Maria der einzige, der nicht direkt etwas gegen mich hat.
„Dann gehen wir zu Liens Spawn, ich weiß ja, wo der ist", meint Álvadro und erwähnt mit keiner Silbe, dass ich das auch weiß. Aber mir soll es recht sein.
"Gut und wir gehen in die andere Richtung", wiederholt Alexej, damit alle Bescheid wissen. Wir verabschieden uns und machen uns auf die Suche nach Lien. Problematisch wäre es, wenn er irgendwie zurückkommt und wir alle noch unterwegs sind aber ich hoffe einfach mal, dass das nicht passiert.
"Wieso denkst du, dass er abgehauen ist?", frage ich Alexej. Irgendwie mag ich diese Zweisamkeit. Nicht auf romantische Art und Weise, aber so war es am Anfang und da war es immer so schön unkompliziert, so ruhig. Ich war kein Mörder, ich musste mich nicht mit Menschen herumschlagen, die mich nicht mögen. Und ich habe immer noch keinen Plan, wie ich aus der virtuellen Realität rauskomme.
"Ich glaub er hat nichtmal daran gedacht, dass das keine gute Idee ist, er wollte nur allein sein. Er kommt eher wie ein Einzelgänger rüber, nicht?"
"Schon. Aber ich glaube, er hat auch nicht die Probleme in Gruppen, er kommt klar, mag es aber einfach nicht", erwidere ich nachdenklich, weil Lien so auf mich gewirkt hat. Immerhin hat er sich keine Feinde gemacht wie ich.
Alexej brummt zustimmend, aber weiterhin sagt er nichts.
"Glaubst du eher Leon oder mir?", frage ich ihn.
"Du solltest aufhören so etwas zu fragen. Dadurch müssen die Menschen sich entscheiden und du bist die Person, die gefragt hat, also macht es dich unbeliebter. Glaub ich zumindest. Aber ich glaube dir."
Ich halte inne, die Reaktion auf seine ersten Worte blieb mir im Hals stecken.
"Dankeschön. Was war der Auslöser?", frage ich ihn weiter. Ich will nur wissen, was ihn überzeugt hat, dann kann ich bei den anderen nämlich da ansetzen, um sie auf meine Seite zu bekommen.
Leon hat absolut keine Unterstützung verdient und ungeachtet dessen was andere darüber sagen, es gibt Menschen, denen man schlechtes wünscht. Ich zumindest und ich glaube nicht, dass ich da die Einzige bin.
„Ich habe eine Schwester. Und unser Verhältnis ist nicht besonders gut, wir sehen uns eigentlich nie. Aber lieber würde ich sterben, als sie zu schlagen. Vielleicht gibt es Menschen, die das tun würden, aber ich glaube nicht, dass dein Bruder einer von ihnen war", erklärt er und lächelt leicht, vielleicht weil er sich gerade an sie erinnert. Dann kneift er die Augen schmerzerfüllt zusammen und ich bleibe stehen.
„Ist sie verstorben?", frage ich erschüttert.
„Das ist es nicht, aber-...egal", erwidert er und schüttelt den Kopf, woraufhin ich erleichtert aufatme. Es gibt wohl doch ein Problem bei der Sache, aber das kann bei weitem nicht so schlimm sein.
„Wir sollten weiter Ausschau halten", wechselt Alexej das Thema und schluckt. Ich glaube zwar, dass es Lien gut geht, er kommt gut allein zurecht, aber trotzdem sollten wir aufmerksam sein - für alle Notfälle. Langsam lasse ich meine Augen über die Landschaft schweifen, entdecke aber nichts außergewöhnliches.
Meine Stiefel hinterlassen große Abdrücke im Gras und zum wiederholten Male frage ich mich, wieso wir alle so unterschiedliche Klamotten anhaben. Stiefel, Strumpfhose und Kleid sind es bei mir, während andere Jeans, Turnschuhe und Hemden tragen, wieder andere haben Shorts an und laufen barfuß rum. Welchen Zweck hat es? Mein persönlicher Geschmack ist das ganz bestimmt nicht. Individualität?
„Schau mal da, siehst du das?", fragt Alexej plötzlich und zeigt auf einen Punkt in der Ferne. Ich kneife die Augen leicht zusammen, um gegen das abendliche Sonnenlicht schauen zu können, erkenne aber nichts. Die Hügel ragen weiter hinten auf, aber ansonsten ist da nichts.
„Was ist da?"
„Da bewegt sich etwas", meint Alexej.
„Bist du sicher?", hakte ich nach, weil ich immer noch nichts sehe.
„Ziemlich.", kommt die Antwort. Ich runzle skeptisch die Stirn, kommentiere es aber nicht. Vielleicht hat er es sich auch nur eingebildet.
Dann seh ich es auch. Der Punkt ist so klein, dass man ihn für eine Fliege hätte halten können.
"Das sieht nicht gesund aus", meint Alexej mit skeptisch geweiteten Augen und ich weiß was er meint. Der Punkt bewegt sich nach links und nach rechts, schwankend, torkelnd. Wenn das hier nicht eine virtuelle Realität wäre, in der nur wir sind, hätte ich es für einen Betrunkenen gehalten.
Gleichzeitig beschleunigen wir unseren Schritt, mit besorgten Mienen und Sorge als leitende Emotion.
"Lien?", schreie ich, als wir immer näher kommen, aber entweder er hat mich nicht gehört oder er ist in keinem Zustand, in dem er mir antworten könnte, denn das einzige Geräusch, dass zurückkommt ist mein lauter Atem.
"Ist er es?", frage ich Alexej, während wir weiterlaufen und kneife die Augen zusammen, um die Person besser erkennen zu können.
"Ich glaube", erwidert er und beschleunigt ein weiteres Mal. Mittlerweile muss ich beinahe rennen, um mit ihm mithalten zu können, während er in ein gemütliches Joggtempo gefallen ist, dass mit der Angst auf seinem Gesicht so gar nicht mehr gemütlich aussieht.
"Lien?", rufe ich erneut, Angst macht sich in mir breit. Was, wenn er verletzt ist? Heute morgen, ich...was hätte ich tun können? Es kann doch nicht wieder so sein. Wir müssen doch etwas tun können. Das Projekt ist doch nicht dafür da, uns zu quälen.
Keine Antwort, unsere schnellen Schritte durchtrennen in gleichmäßigen Abständen die Stille. Der Punkt in der Ferne wird größer, inzwischen ist es unverkennbar ein Mensch. Schwarze Haare, schmal, mit einem Hemd - Lien.
Er schwankt gefährlich, sein Gesicht zu einer gleichgültigen Maske verzerrt. Angespannte Muskeln, irgendetwas stimmt nicht. Aber schlimm kann es nicht sein, er läuft weiter.
Kommt auf uns zu, sieht jedoch durch uns hindurch. Sein Mund bewegt sich und als wir ihn erreichen, merke ich, dass er etwas murmelt, bis er stoppt, als er uns sieht.
Er will weiterlaufen, aber Alexej hält ihn an den Schultern fest. Sein Kopf ruckt nach oben, er strahlt eine fürchterliche Leere aus und starrt Alexej in die Augen. Ich weiß nicht, wie, aber Alexej bleibt standhaft, das einziges Anzeichen auf seine Nervosität ist das leichte Zucken seiner Augenlider. Lien wirkt nicht gewalttätig, eher gruselig. Als wäre er eine Hülle.
Auf einmal reißt Lien seine Augen auf und Alexej und ich zucken zurück.
"Bitte erinner dich nicht. Nicht jetzt!", sagt er, seine Stimme ernst und verzweifelt.
"Was meinst du?", frage ich verwirrt.
Er zuckt zusammen, eine Weile kommt nichts und dann öffnet er wieder den Mund.
"Allein. Dunkelheit. Es ist so ungerecht."
Pause, Stille. Ich und Alexej werfen uns einen bedeutungsschweren Blick zu.
"Alle haben sich gegen dich verschworen. Das stimmt nicht."
Lien runzelt die Stirn, als erneutes Schweigen die Atmosphäre füllt, doch egal, über was er im Moment nachgedacht hat, er spricht es nicht aus. Stattdessen kommt erneut solch rätselhaftes Zeug.
"Sie hat ihn mir geraubt."
Schweigen. Fragen veranstalten in meinem Kopf ein Wettrennen, doch gelangen nicht auf meine Zunge, um ausgesprochen zu werden.
"Zeit ist das, was mir fehlt."
Stille.
"Vertrauen. Wieso vertraut man überhaupt?"
Dann hält Lien inne. Ist er verrückt geworden? Was redet er da?
Ein markerschütternder Schrei verlässt seine Kehle.
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