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Ich sitze auf meinem Bett und starre das Holz an, welches die Wand zwischen Anastasias und meinem Zimmer bildet. Den ganzen Abend über habe ich geschwiegen. Man könnte meinen, ich würde einfach zuhören wollen und nicht meine Meinung dazu geben, aber ich hab nicht einmal mehr zugehört. Ich weiß nicht mal, was wir beredet haben, ich weiß nur, dass ich diesem Zimmer zugeteilt wurde. Und deswegen sitze ich jetzt hier, weiß nicht was ich machen soll.

Ich öffne das Fenster und atme die Abendluft tief ein. Eigentlich will ich es direkt wieder zumachen, weil es draußen ziemlich kalt ist, aber ich erkenne in dem blassen Licht des Mondes zwei Schemen, die dicht beieinander stehen. Leises Gemurmel wird vom Wind nach oben getragen, doch verstehen tue ich nichts. Soll ich hinunter gehen? Bevor ich eine Entscheidung treffen kann verschwinden die Schemen in der Dunkelheit, als hätten sie meine Gedanken gehört. Das macht mich nur noch aufmerksamer und ich beschließe nach dem Rechten zu sehen. Wenn da nichts ist, kann ich ja direkt wieder hoch gehen, kann aber ja nichts schaden nachzuschauen, oder?

Die Treppenstufen knarzen gefährlich, eigentlich mache ich nichts Verbotenes, aber trotzdem beschleicht mich das Gefühl, dass ich leise sein sollte. Niemand kommt mir entgegen. Ich trete hinaus in die kühle Abendluft und gehe um das Haus herum bis zu der Stelle, an dem ich die Gestalten wahrgenommen habe. Dann bücke ich mich und untersuche das Gras. An manchen Stellen ist die Erde ein wenig eingedrückt und ein paar Grashalme abgenickt. Also war hier tatsächlich jemand. Nur wer? Wer schleicht sich nachts, im Unwissen der anderen über dieses Vorhaben, nach draußen und trifft sich mit jemandem? Ich habe keinen blassen Schimmer, aber ich nehme mir vor, in den nächsten Tage die anderen ein wenig genauer unter die Lupe zu nehmen. Vielleicht benimmt sich ja jemand auffällig, als hätte er etwas zu verbergen oder so.

Zur Sicherheit gehe ich noch einmal um das Haus herum, falls sich hier jemand versteckt, könnte ich ihn so finden. Stattdessen werde ich gefunden. Das Licht einer Taschenlampe blendet mich und ich kneife die Augen zusammen.

"Lien? Was machst du hier?", fragt Álvadro.
"Das gleiche könnte ich dich fragen", erwidere ich genervt und halte mir die Hand vor die Augen, weil er die Taschenlampe immer noch nicht runter genommen hat.
"Ich wollte nur noch einmal kurz an die frische Luft, bevor ich mich im Keller verkrieche", erklärt er zuerst und schaut mich abwartend an.
"Im Keller?", frage ich verwirrt. Was will er denn da?
"Hast du vorhin nicht aufgepasst? Weil wir nur fünf Zimmer haben, schlafen Leon, Loise und ich unten."
"Oh-", sage ich, das habe ich tatsächlich nicht mitbekommen.

"Ich wollte auch nur nochmal durchatmen", lüge ich. Sollte ich nicht doch riskieren, ihm die Wahrheit zu sagen? Eigentlich vertraue ich Álvadro ja schon.
"Ach was solls, ne, ich hab hier zwei Silhouetten gesehen und wollte nachschauen, wer das war. War aber niemand mehr da", verbessere ich meine Aussage und im Licht der Taschenlampe erkenne ich, wie Álvadro die Stirn runzelt.

"Denkst du Anastasia plottet irgendwas mit wem?"
"Plottet?", hake ich nach.
"Planen? Du bist echt schwer von Begriff", meint Álvadro und lacht. Vielleicht haben sich die Jahre, die ich größtenteils allein verbracht habe, nicht nur negativ auf meine Sozialkompetenz ausgewirkt, sondern auch auf meine Ausdrucksweise. Oder Álvadro redet allgemein anders als ich.

„Ich glaube nicht, dass sie das machen würde", sage ich langsam. Dass sie mich aufgefordert hat, ihr zu helfen erwähne ich jetzt mal nicht, ich habe noch keine Entscheidung getroffen und will diesbezüglich nicht voreilig handeln.
„Du vertraust ihr zu sehr."
„Lass uns wieder rein gehen", erwidere ich, ohne auf seine Feststellung einzugehen.

Als ich aufwache, strahlt die Sonne durch das Fenster in den Raum hinein und ein dunkler Fleck zeichnet sich auf dem Boden neben der Wand zwischen Anastasias und meinem Zimmer ab. Als ich aufstehe, um ihn zu untersuchen, spüre ich ein plötzlich aufkommendes Schwindelgefühl, meine Beine sacken unter mir weg und ich stürze zu Boden. Meine Gedanken scheinen Lichtjahre entfernt, ich kann nichts greifen, keine Wortfetzen, keine Gefühle. Alles rauscht an mir vorbei, die Zimmerdecke dreht sich, ich habe keine Kraft mich auch nur ein Stückchen weit zu bewegen. Worte dringen an den Rand meines Bewusstseins, ich kann nur die Bedeutung hinter ihnen nicht aufnehmen. Geschrei dringt durch ein Ohr hinein, durchs andere hinaus. Und dann...Stille. Ich spüre nichts, höre nichts, rieche nichts, sehe nichts, schmecke nichts. Ich weiß, dass sich etwas verändert, aber ich weiß nicht was. Meine Sinne wurden ausgeschaltet, meine Gedanken lahmgelegt, aber keine Angst durchzuckt mich. Allgemein ist da...nichts. Ich falle, ein bodenloser Abgrund. Ein bodenloser Abgrund, und doch endet mein Fall irgendwann. Ein Stopp, ein Ruck durch mein Bewusstsein, dann schlage ich meine Augen auf.

„Er ist wach", höre ich jemand schreien und als hätte jemand einen Schalter umgelegt, kehren meine Gedanken zurück. Was war das? Was zum Teufel war das?
Ich habe keine Zeit, mir Zeit zu lassen, denn ich höre einen Schrei und richte mich ruckartig auf. Wir sind draußen, ich liege auf der Wiese, Anastasia sitzt an meiner Seite und streicht mir beruhigend über den Rücken, aber ich gebe ihr keine Gelegenheit, etwas zu sagen, weil etwas anderes vorgefallen sein muss.

„Was passiert da?", ruft Loise panisch und ich erkenne, worum die anderen sich gescharrt haben. Álvadro liegt am Boden, seine Lider flattern, sein Körper zuckt. Pure Angst überkommt mich und ich stürze zu ihm hin, auch wenn dabei wieder ein leichter Schwindel aufkommt.

„Was sollen wir machen?", fragt Alexej laut, mit gezwungen ruhiger Stimme und fühlt Álvadros Puls. Als er leicht nickt, hört man von überall erleichtertes Aufatmen.
Weil ich weder eine Sanitäterausbildung noch ärztliche Erfahrung genossen habe, weiß ich, dass ich absolut nichts machen kann.

„Was passiert hier?", frage ich Anastasia leise, meine Augen starr auf Álvadros Körper gerichtet, um jede mögliche Veränderung wahrzunehmen. Alexej und Maria knien vor ihm und versuchen ihn zu rütteln, um ihn wieder zu Bewusstsein zu bekommen.
„Ich weiß es nicht. Das gleiche war aber auch bei dir und du stehst hier, also müsste alles ist Ordnung kommen", erklärt sie leise, ich schweige. Müsste. Was auch immer hier los ist, es hat nichts Gutes zu bedeuten.

Dann, auf einmal, hört Álvadro auf, sich zu bewegen. „Das war bei dir auch so", murmelt Anastasia und siehe da, auch er schlägt ebenfalls seine Augen auf. Ich seufze erleichtert und stütze mich an der Hauswand ab.

„Okay, was auch immer das war, es kann nicht wieder passieren." Alexejs Stimme klingt ernst und so ist die Stimmung, niemand flüstert, jeder starrt auf den Boden und ist in Gedanken versunken. Wir sitzen im Kreis, einige im Gras, einige auf Baumstämmen, die schon hier standen - der Platz an dem wir normalerweise unbefangene Unterhaltungen führen.

Das hätte nicht so passieren dürfen, wir sind doch hier, um wieder einen Lebenssinn zu finden, nicht um die anderen beim Sterben zu beobachten und hilflos daneben zu stehen.
„Ich habe so etwas ähnliches schon einmal gesehen", gibt Leon zu und streicht sich eine schwarze Strähne aus dem Gesicht. Tatsächlich sind seine Haare pechschwarz, ähnlich zu meinen, nur dass seine beinahe kurz geschoren sind, während meine zwar nicht lang, aber doch länger sind.

„Epileptische Anfälle sehen so ähnlich aus, nicht? Und die kommen meist von Gehirnschäden oder ähnlichem, soweit ich weiß."
„Ich habe aber keine Gehirnschäden", widerspricht Álvadro und in Gedanken stimme ich ihm zu.
„Ja, aber vielleicht ist es etwas ähnliches. Wir sind doch in einem Computerspiel, schon seit Tagen wahrscheinlich. Vielleicht wehrt sich euer Körper dagegen", versucht er seine Vermutung zu erklären. Zweifelnd hebe ich den Blick und auch die anderen scheinen nicht überzeugt.

„Ich muss euch was sagen, was ich schon längst hätte tun sollen", wirft Alexej ein und hat damit die ungemeine Aufmerksamkeit.
„Wir sind in keinem Computerspiel. Wir sind in einer virtuellen Realität", sagt er und schluckt.
Anastasia hatte mir das schon erzählt, deswegen tue ich nur so, als wäre ich überrascht. Um ehrlich zu sein fällt mir das nicht schwer, weil ich nicht wusste, dass Alexej davon weiß.
Aber ich beobachte lieber die Reaktionen der anderen, um sie ein wenig analysieren zu können. Wegen gestern Nacht.

„Wieso hast du uns das nicht früher gesagt?", fragt Álvadro und runzelt wütend die Stirn, er scheint wirklich enttäuscht zu sein, während Leon Alexej zunickt, als würde er seine Entscheidung das zu verschweigen verstehen. Loise sitzt einfach da und fängt dann an zu weinen, womöglich erinnert sie sich an ihre Eltern oder fühlt sich nun weiter entfernt von Ihnen als zuvor. Aber Anastasia, sie sieht überhaupt nicht überrascht aus, sie schaut Alexej nur nachdenklich an. Wieso jetzt? Hat er irgendwas vor?
Als ich verstehe, was ich da in meinem Kopf gehört habe, reiße ich die Augen auf. Wie ist das möglich?

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