₀₁₉
Ich kann es noch immer nicht glauben. Ich soll Leon umgebracht haben? Ich soll jemanden umgebracht haben? Wie kann das dein?
Die Tatsache, dass alle betrübt schweigen, weil das Geheimnis zum Vorschein gekommen ist, zermürbt mich. Sie wollten es mir nicht sagen, wieso? Hab ich nicht das recht zu wissen, dass ich ein Mörder bin? Dann hätte ich ihre Entscheidungen besser nachvollziehen können, Fernandos Abweisung mir gegenüber. Aber jetzt musste ich es von Leon erfahren. Der glücklicherweise nicht ganz gestorben ist. Egal, wie ich ihn hasse, ich habe doch nie beabsichtigt, dass er stirbt. Eigentlich hab ich auch nicht beabsichtigt, ihn überhaupt zu verletzen, meine Wut hat nur die Überhand gewonnen. Vielleicht habe ich doch ein Aggressionsproblem.
Ich nicke steif, akzeptiere die Entscheidung mich hierzubehalten und stehe mit wackligen Beinen auf. Ich will nur irgendwo alleine sein.
"Anastasia", meint Lien mit rauer Stimme, aber ich will sie alle nicht mehr hören oder sehen. Wie konnten sie mir das verheimlichen? Ich bin ein Mörder. Ein verdammter Mörder. Schuldgefühle fressen sich in mich hinein und besetzen meinen klaren Verstand.
Als ich einen ruhigen Platz im Schatten eines Baumes gefunden habe, schließe ich die Augen und seufze. Wie kann das sein? Wie habe ich so die Kontrolle über mein Leben verloren, dass ich jemanden umgebracht habe? Wäre das in der Realität gewesen, wäre jemand tot. Leon hätte nie wieder die Augen geöffnet. Hätte ich es dort auch durchgezogen ihn abzustechen? Bin ich so verrückt geworden?
"Es ist nicht deine Schuld, Anastasia."
Ich zucke zusammen als ich seine Stimme höre und öffne die Augen.
"Wir haben es dir verheimlicht, weil wir nicht wollten, dass es dich zerstört, wir waren uns alle ziemlich sicher, dass er nicht wirklich tot ist", erklärt Lien und ich zucke mit den Schultern. Ändert auch nichts an der Tatsache, dass ich ein Mörder bin. Es ist, als würden meine Gedanken mich anschreien. Mörder, Mörder, Mörder!
"Wieso wünsche ich mir, dass er nicht zurückgekommen wäre?", frage ich beinahe lautlos.
"Was?"
"Wieso wünsche ich mir, dass er nicht zurückgekommen wäre?", wiederhole ich lauter.
"Du hättest ihn lieber tot gesehen?", fragt er ungläubig.
"Nein. Aber er soll weg. Einfach irgendwo hin, nur nicht hier."
Ich kneife meine Augen zusammen, um meine Tränen zu unterdrücken. Es ist so schwer zu leben, wenn Leon da ist. Meine Gedanken drehen sich immer um ihn, immer um die Tatsache, dass er hier ist, dass er alles machen will, um mich zu zerstören. Es ist so unglaublich schwer, leben zu wollen, wenn er da ist.
"Stimmt es denn, was er sagt? Dass dein Bruder...dich geschlagen hat?"
"Nein. Welcher Bruder schlägt seine Schwester? Wir haben uns gut verstanden, auch wenn er acht Jahre älter war als ich. Wieso sollte er das tun?"
Es stört mich, dass mittlerweile alle so schlecht von ihm denken. Sowohl die halbe Schule, durch die Gerüchteküche, als auch hier alle. Egal, wo ich hinkomme, mein Bruder und seine Todessünde kommen mit. Seine Todessünde, die ausgedacht ist.
"Hmm okay", sagt Lien. Er sitzt mittlerweile neben mir und schaut mich aus dem Augenwinkel an, während ich die Wiese betrachte, die vor Leben nur so überquillt.
"Glaubst du mir nicht?", frage ich und zupfe an einem Grashalm. Er erwidert nichts und macht damit klar, was er denkt. Leon hat ihn so geschickt manipuliert. So wie alle anderen auch. Er hat diese bestimmte Ausstrahlung, die ihn ehrlich wirken lässt, mit der er Menschen gegeneinander aufbringen kann, die engsten Liebespaare auseinander bringen könnte.
Wieso macht er es nur bei mir? Was habe ich ihm getan? Ich weiß es. Tief in mir drin weiß ich es, wenige Stunden, nachdem er es mir gesagt hat, habe ich es in mir eingesperrt und versprochen, das Geheimnis nie wieder hervorzulassen. Und doch lasse ich mich davon beeinflussen, meine Handlungen haben sich durch das Wissen verändert. Ich habe Abstand zu meinen Eltern genommen. Ich habe meinen toten Bruder aus anderen Augen betrachtet. Ich habe Leon aus anderen Augen betrachtet.
Aber noch immer ist er ein schlechter Mensch, egal welche triftige, vielleicht auch vernünftige Begründung er auch hat. Wer einen Mord gut begründet, ist noch immer ein Mörder. Deswegen sehe ich mich selbst auch als einen.
Vielleicht will ich es nicht wahrhaben und verstecke die Wahrheit deswegen in mir.
„Wieso bist du hier?", frage ich Lien direkt und schaue ihm ins Gesicht.
„Wieso sollte ich nicht?", weicht er aus und ich weiß, dass etwas im Busch ist.
„Weil jemand auf dich aufpassen soll und ich mich freiwillig gemeldet habe", erklärt er dann doch und ich verziehe das Gesicht. Natürlich ist er nur hier, weil er muss. Wieso sollte er auch sonst? Ich bin wohl keine so interessante Person, als das man freiwillig Zeit mit mir verbringen würde.
„Cool." Meine Stimme klingt nicht annähernd so fest, wie ich dachte und ich verdamme mich, überhaupt noch einmal das Wort ergriffen zu haben. Lien wirft mir einen skeptischen Blick zu, kann aber anscheinend nichts aus meiner Mimik erschließen und wendet sich wieder ab. Vielleicht weiß er auch einfach nicht, was er sagen sollte. Verständlich. Was sagt man denn zu einem Mörder.
„Findest du, ich bin ein Mörder?", ergreife ich das Wort, auf der Suche nach einer ehrlichen Antwort, die nicht von meinen sich schuldig fühlenden Gedanken kommt. Er zögert eine Weile.
„Nein, du hast ihn zwar umgebracht, aber er lebt ja wieder."
„Aber definiert sich das Wort Mord nicht durch die absichtliche Tötung eines Wesens?", argumentiere ich dagegen, um ihn zum Nachdenken anzuregen. Wenn er wirklich ehrlich antworten soll, muss er auch alle Argumente besitzen, die dafür und dagegen sprechen.
„Dann definiert sich Tod aber auch durch tot bleiben, den letzten Atemzug getan haben", bleibt er standhaft und schafft es beinahe, mich zu überzeugen.
„Okay, ich formuliere um - denkst du, ich bin ein Monster?"
„Kommt drauf an..."
„Worauf?"
„Wer recht hat."
Er spricht von mir und Leon, das ist mir vom ersten Augenblick an klar.
„Ob Leon recht hat", füge ich hinzu, was wir beide wissen.
„Aber selbst dann würde ich sagen eher nicht. Dann brauchst du einfach nur psychische Hilfe", meint er und steht auf.
„Komm, ich will dir etwas zeigen." Er reicht mir die Hand und ich weiß, dass es weder als freundschaftliches noch romantisches Zeichen aufgefasst werden soll, einfach nur ein Angebot zu helfen. Ich nehme es an. Als Mörder kann man jede Hilfe gebrauchen, die man kriegen kann. Meine Gedanken sind einfach nicht kleinzukriegen und irgendwie bin ich glücklich drüber, selbst wenn es kein richtiger Mord war, sollte man nicht allzu leichtfertig darüber hinwegkommen.
„Wir gehen zu meinem Spawn", erklärt Lien Álvadro und dieser nickt.
"Geht das wegen deinem Bein überhaupt?", fragt der skeptisch.
"Ja, passt alles. Ich spüre fast gar nichts mehr, ich glaube hier heilt man schneller", erklärt Lien und ich höre auf. Das wäre interessant. Álvadro nickt und will uns schon abwinken, als ihm noch etwas einfällt.
„Soll jemand mitkommen? Du weißt schon, falls...", er spricht nicht zu Ende, wirft nur einen Seitenblick auf mich. Sowohl Lien als auch ich verstehen die Botschaft hinter seiner Mimik. Es macht mir nichts aus, mir war klar, dass er nicht auf meiner Seite steht. Nicht nachdem ich erfahren habe, dass ich ein Mörder bin.
„Ne alles gut, ich hab alles unter Kontrolle."
Wir gehen los, nebeneinander, aber mit gebührend Abstand. Nach seinen Worten bin ich mir nicht sicher, wie er steht. Eigentlich dachte ich, er wäre zumindest teilweise von meiner Seite überzeugt. Alles unter Kontrolle.
„Alles unter Kontrolle?", werfe ich es ihm vor und Lien seufzt.
Wieso sagt er nichts? Er hätte zumindest seinen Standpunkt verteidigen können, aber er rechtfertigt gar nichts. Als bräuchte er sich mir gegenüber nicht zu erklären. Wieso nehme ich eigentlich alles persönlich, mache mir über alles Gedanken? Vielleicht hat er gerade eine schlechte Phase. Aber trotzdem juckt es mich in den Fingern, ihn erneut zu fragen und schließlich gewinnt meine Neugier.
„Alles unter Kontrolle?"
Er bleibt auf der Stelle stehen und dreht sich zu mir, ich halte meinen Blick aufrecht, so gut es geht.
„Soll ich zurückgehen und doch noch jemanden holen, der mitkommen soll? Nein? Dann halt einfach die Klappe."
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