₀₁₅
Leise laufe ich die Böschung hoch, versuche mich so unsichtbar wie möglich zu verhalten, damit ich den Überraschungseffekt auf meiner Seite habe. Bis auf die zehn Meter, die mich jetzt noch von der Hütte trennen, steht mir nichts im Weg, weil die anderen ausgeschwärmt sind, um Vorräte und ähnliches zu sammeln, soweit ich das verstanden habe.
Das gebückte Schleichen ist somit nur eine reine Vorsichtsmaßnahme, die hoffentlich unnötig ist.
Jetzt muss ich nur noch mit meiner Vermutung richtig liegen, dass Alexej ein Messer hat.
Vorsichtig betrete ich das Haus und betrachte die Fußspuren, die sich deutlich im Staub abzeichnen. Um keine Hinweise auf meinen Aufenthalt zu hinterlassen trete ich in bereits vorhandene Spuren, bis ich den Rucksack erreiche. Mit einer Hand wühle ich in der Tasche herum, mein Körper aber noch zur Tür gedreht um einen möglichen Besucher rechtzeitig zu entdecken. Niemand kommt und als sich meine Finger um einen länglichen Griff schließen, ziehe ich zufrieden die Hand aus dem Rucksack. Kein aufwendiges Messer, aber mir wird es genügen.
Im Glücksfall werd ich es nicht benutzen müssen, ich will nur Leon bedrohen und ihn dazu zwingen, mir zu sagen, wie man hier rauskommt. Wenn es einer weiß, dann ist es er, wenn er es schon geschafft hat, mir zu folgen, obwohl er keine mentale Einschränkung hat. Wenngleich ich ja auch keine habe. Aber das ist eine andere Sache, weil alle anderen denken, dass ich psychisch krank bin.
Während ich mich hinter dem Haus verstecke und darauf warte, Stimmen zu hören, denke ich über meine vorherige Theorie nach. Leon würde auch in das Schema passen mit L als Anfangsbuchstaben. L und A. Was hat das zu bedeuten? Los Angeles? Oder im Französischen dort? Vielleicht ist es auch Teil eines Wortes, zu dem noch Buchstaben dazu kommen?
Wenn man hier stirbt, stirbt man dann auch in der Realität? Wird man aus der Virtuellen rausgeworfen? Dann könnte ich mich einfach von einer Klippe stürzen oder mir das Messer in mein Herz rammen. Aber solang ich nicht die Sicherheit habe, dass ich es überlebe, werd' ich es kaum durchziehen.
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Ich höre näherkommende Stimmen und stehe leise auf. Männlich und weiblich. Loise und wer? Álvadro? Alexej? Leon?
"Ach komm schon, sag's mir doch einfach", meint der Mann und lacht. Identifizieren kann ich es nicht, also würde ich Leon ausschließen. Seine Stimme würde ich sofort erkennen.
"Ja gut, ich heiße Maria."
Jemand neues? Ich ziehe die Augenbrauen zusammen und konzentriere mich mehr auf die männliche Stimme.
"Wir kommen aus Mexiko." Noch eine fremde Stimme? Also doch drei? Zwei Fremde und wer?
"Voll cool", meint der Erste wieder und diesmal bin ich mir ziemlich sicher, Alexejs Stimme zu erkennen. Hauptsache er sucht jetzt nicht nach seinem Messer, er wird wissen, dass ich es war. Niemand sonst weiß davon und ich dürfte es eigentlich auch nicht. Wieso hat er das überhaupt verheimlicht? Plant er irgendwas?
Um nicht entdeckt zu werden schleiche ich von dem Haus zu den drei angrenzenden Bäumen und lehne mich an den dicksten. Ich atme schwer, frage mich, was ich hier eigentlich mache. Aber ich zwinge mich, zu denken, dass das die einzige Möglichkeit ist. Lange Zeit höre ich überhaupt nichts mehr, aber dann - klar und unverkennbar, Leon. Er unterhält sich mit Loise oder auch er hat jemanden neuen aufgegabelt.
"Geh du schon mal zu den anderen, ich muss noch kurz was machen", sagt er gerade und mir wird heiß. Hat er mich gesehen?
Dann ist wieder kurz still, bis ich ihn unweit entfernt von mir sehe, wie er sich die Haare rauft. Ich drehe mich so hinter den Baum, dass er mich nicht mehr sehen könnte, wenn er in meine Richtung schauen würde. Einmal durchatmen. Ich nehme meinen Mut zusammen, verstecke das Messer hinter meinem Rücken und trete hinter dem Baum hervor. Beinahe augenblicklich dreht er seinen Kopf zu mir und ein wissendes Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus.
"Anastasia! Hast du mich schon so vermisst, dass du direkt zurückgekommen bist?", fragt er provokant, ich lächle als Antwort zuckersüß und laufe zu ihm, bis uns nur noch wenige Meter trennen.
"Kaum möglich. Du bist der, der so abhängig von mir ist, ist das nicht so?"
"Wieso?", fragt er und legt seinen Kopf schief. Wenn ich ihn und seine Absichten nicht bestens kennen würde, könnte man meinen, er wäre ehrlich interessiert und hätte nur Gutes im Sinn.
"Das weißt du."
"Kann schon sein", gesteht er ein und grinst.
"Wie kommt man hier raus?", komme ich direkt auf den Punkt.
"Woher soll ich das wissen?", fragt er unschuldig, ich atme einmal tief durch, um nicht die Geduld zu verlieren. Es bringt mir nichts, wenn ich ausraste, dann wird er es mir nur umso weniger sagen.
"Du weißt es, also sag schon", dränge ich und weiß sofort, dass ich einen Fehler gemacht habe. Jetzt weiß er, wie wichtig mir die Information ist und kann mich erpressen, wenn er will. Und so wie ich ihn kenne, will er nichts lieber.
"Ich sag's dir, unter einer Bedingung."
"Und wie willst du mir beweisen, dass du es überhaupt weißt?"
"Ich dachte, du bist dir so sicher, dass ich es weiß. Dann musst du mir halt vertrauen."
"Entschuldige, falls du dich in der Vergangenheit nicht als besonders vertrauenswürdig herausgestellt hast", antworte ich und verdrehe die Augen. Selbst das ist bei ihm noch untertrieben.
"Wie wärs so? Du sagst es mir und dann passiert dir nichts", stelle ich meine Bedingung.
"Was soll mir den passieren?", fragt er spöttisch und ich wünsche mir nichts lieber, als sein Grinsen aus dem Gesicht wischen zu können. Dieses Überlegene in seinem Blick, ich will es nur einmal verschwinden sehen. Also ziehe ich langsam das Messer hinter meinem Rücken vor, ich bin ehrlich überrascht, dass ihm nicht meine Hand hinter dem Rücken aufgefallen ist.
Als tatsächlich seine abgehobene Miene zusammenfällt und kurz Panik in seinen Augen zu erkennen ist, grinse ich überlegen und lege meinen Kopf schief, um ihn zu provozieren.
"Na? Leon? Wie siehts aus?"
"Du wärst diejenige, die als Verlierer aus dem ganzen heraus geht."
"Das wage ich zu bezweifeln."
"Du weißt ja auch nicht, was ich den anderen über dich erzählt habe", sagt er, wieder mit seinem ursprünglichen Selbstbewusstsein. Ich hätte es wissen müssen, er hat immer ein Ass im Ärmel. Er plant alles voraus, jeden Schritt, man kann ihn kaum mehr überraschen, weil er sich alle möglichen Wege schon ausgemalt hat.
"Was hast du ihnen gesagt?", bringe ich hervor, die Haare in meinem Nacken aufgestellt. Wut und Angst kämpfen um die Macht.
"Ein gewalttätiger Bruder hier, ein Aggressionsproblem da."
Ich hasse ihn. Ich verabscheue ihn. Schon wieder hat er die Macht. Immer er. Wie kann es sein, dass er immer etwas gegen einen in der Hand hat.
"Wenn ich dich in Ruhe lasse, nimmst du es dann zurück?", frage ich mit eisiger Ruhe.
"Was geschehen ist, ist geschehen", sagt er und zuckt mit den Schultern. Das überlegene Grinsen ist wieder da und die Ruhe verwandelt sich in Adrenalin, dass in purer Kälte durch mein Blut strömt, während die Wut die Angst besiegt hat.
Ich knurre wie ein wild gewordenes Tier und rase auf ihn zu, das Messer ausgeholt zum Schlag. Er hat es provoziert. Mein ganzes Leben lang hat er diesen Moment provoziert.
Sein Gesichtsausdruck fällt zusammen und diesmal hat er kein Ass im Ärmel. Dieses Mal überrasche ich ihn, weil er mich unterschätzt hat.
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