₀₀₆
Ein weiterer Brief befindet sich in dem Briefkasten. Adressiert an mich, wieder kein Absender. Diesmal ignoriere ich die unausweichliche Tatsache, dass ich zur Arbeit muss und reiße den hellgrünen Umschlag auf. Ich traue meinen Augen kaum, als ich den Inhalt sehe.
Geld. Viel Geld, ich zähle die Scheine nach und komme auf ein unvorstellbares Ergebnis. Für manche wäre das nicht viel, aber es würde Sinas Miete für ungefähr ein Jahr bezahlen. Woher kommt das Geld?
Ich finde im Umschlag noch einen Zettel und ein Ticket. Zuerst nehme ich mir den Zettel vor, ein handgeschriebener Brief. Wer gibt sich bitte heute noch die Mühe und schreibt etwas per Hand? Abgesehen von armen Leuten, die nicht das Geld für einen Drucker oder auch nur ein Handy haben. Aber dem Geld nach scheint die Person nicht arm zu sein.
Du bist dem Projekt beigetreten und nun gibt es kein zurück mehr. Dir bleiben 24 Stunden, um dich von deinen Liebsten zu verabschieden, dann geht dein Flug. An deinem Zielort wirst du abgeholt. Das Geld ist als Entschädigung dafür, dass du nicht weißt, was auf dich zukommt und trotzdem mitmachst. Der Flug ist selbstverständlich schon bezahlt. Wir freuen uns auf dich!
Nun erklärt sich von selbst, was das für ein Ticket ist. Der Flug geht nach Stockholm. Ich glaube zu meinen, dass das die Hauptstadt von Schweden ist. Oder war es Finnland? Ich weiß es nicht. Mit dem Geld könnte ich Sinas Leben so viel leichter machen. Aber ich würde es auch zugleich schwieriger machen, wenn ich gehe. Denn dann hat sie keinen Untermieter mehr.
Sina hat das kleine Zimmer nicht aus Mitleid den Obdachlosen gegenüber vermietet, sie hat es gemacht, weil sie das Geld braucht. Vielleicht findet sie ja in diesem Jahr einen neuen Untermieter, der seinen Teil auch zuverlässiger bezahlt als ich. Das wäre schön.
Für mich ist es beschlossene Sache, dass ich fliege. Es liegt nicht an der wirklichen Therapie oder dem, was es eigentlich ist. Es liegt daran, dass ich meiner kleinen Welt hier entfliehen will. Es passiert nichts hier. Keine Abwechslung. Und mein Leben kann man nicht als ein Leben bezeichnen. Es war Überleben. Und egal wohin mich der Flug und das Projekt führen, es wird allemal besser sein, als das hier.
24 Stunden um deine Liebsten zu verabschieden. Wer soll das denn sein? Sina? Ich werde mich von ihr verabschieden, ihr das Geld geben, mich bei ihr bedanken, dass sie mich bei sich hat wohnen lassen, obwohl ich nicht so viel Geld eingebracht habe, wie sie eigentlich benötigt hätte. Aber sie hat ihre Kinder und ihren Beruf, sie braucht nicht noch eine Klette, die ihr Leben schwieriger macht.
Ich entscheide mich, ein letztes Mal zum Jahrmarkt zu laufen. Nicht, um zu arbeiten. Das nicht. Ich will mit dem Lebensabschnitt abschließen. Und dafür will ich ein letztes Mal den Stand sehen, an dem ich jahrelang gearbeitet, wöchentlich dutzende Stunden verbracht habe. Die Haustür quietscht, als ich sie hinter mir zumache, ich habs schon immer gehasst. Aber jetzt, wo ich weiß, wie begrenzt meine Zeit hier ist, realisiere ich erst die kleinen Dinge, die kleinen Regelmäßigkeiten in meinem Leben, die unter den Großen untergegangen sind.
Ich laufe durch die Gasse, die so schmal ist, dass beinahe kein Tageslicht den Boden erreicht. Ich habe sie schon immer gehasst. Die Dunkelheit war immer mein größter Feind, sie hat mir Angst gemacht. Und ich habe es gehasst, wenn ich mich gefürchtet habe. Es gab mir immer ein Gefühl der Unsicherheit. Jedes Mal, wenn ich die Gasse betreten habe, haben sich meine Schritte automatisch beschleunigt. So auch diesmal. Ich kann nichts dagegen machen. Und, wenn ich rechts abbiege, in schon fast eine Straße, atme ich immer erleichtert auf. Schwachsinn. Als wäre mir dort je etwas zugestoßen.
"Du bist zu spät", mahnt mich mein Chef und ich grinse ihm so ins Gesicht, wie ich es schon immer tun wollte. So hämisch, wie er es immer tut, weil er weiß, dass er die Kontrolle über mich hat. Hatte.
"Ich kündige", sage ich und sein Gesicht versteinert sich. Er ringt nach Worten - ich drehe mich wortlos auf der Stelle um und gehe. Er ruft mir etwas hinterher, aber ich will kein Wort mehr an ihn verschwenden. Kein Wort hat er mehr verdient. Ich hasse ihn mehr als kaum einen anderen. Er ließ mich arbeiten und sackte selbst das meiste Geld ein. Ich bekam einen Bruchteil, mehr nicht, obwohl ich die Arbeit tat und die Lebensmittel kaufte.
Ich schlendere auf dem Jahrmarkt herum, betrachte die Menschen, die so undankbar aussehen wie immer. Das eine Mädchen sehe ich nicht, wäre auch ein Wunder. Ich seh sie wahrscheinlich nie wieder.
Das alles kommt mir gerade so surreal vor. Ich fliege morgen früh nach Europa. Ich habe noch nie Asien verlassen, nicht mal als ich noch bei meinen Eltern gewohnt habe. Wir waren zwar nie arm, aber sonderlich reich waren wir auch nicht, wenn wir Urlaub gemacht haben, dann Inlands. Großeltern besuchen oder ähnliches. Unsere Familientreffen waren legendär - immer die Tage im Jahr, zu denen man hingesehen hat - außer wie haben uns gestritten. Dann waren sie legendär grauenvoll.
Mittlerweile gelangweilt stehe ich an die Parkuhr gelehnt und schaue alle paar Minuten auf die Turmuhr, nur um enttäuscht festzustellen, dass mir noch Ewigkeiten bleiben. Eigentlich bin ich es gewöhnt, dass die Zeit unglaublich langsam vergeht, aber heute ist doch ein Extremfall. Was soll ich in den verbliebenen 19 Stunden bitte noch machen?
Es ist kalt, also kuschele ich mich enger in meine Jacke und laufe über die Pflastersteine. Auf dem Boden liegt viel zu viel Müll, Zigarettenstummel, Taschentücher, Plastiktüten. Ich hasse das, dass die Menschen ihren eigenen Lebensraum zerstören. Das ist fast so, als würden Affen Wälder abholzen. Ach ne, brauchen sie ja gar nicht, machen wir ja für sie.
Ich hebe einige, größere Teile auf und werfe sie in den nächsten Mülleimer. Ein Hochgefühl erfüllt mich, ich will es nicht wahrhaben. Man sollte sich nicht augenblicklich besser fühlen, bloß, weil man etwas für die Umwelt gemacht hat. Das sollte selbstverständlich sein. Aber ich kann an meinem Gefühl nichts ändern, egal, wie oft ich mir einrede, dass man darüber nicht so stolz sein sollte. Wirklich Stolz ist es auch nicht. Eher fühle ich mich gut, wie, wenn man ein dankbares, ehrliches Lächeln bekommt, weil man jemandem die Tür aufgehalten hat. Ich denke eine Weile über das wirklich merkwürdige Gefühl nach. Fühlt man sich besser, weil man was gutes getan hat. Ist man mehr wert, weil man hilft?
Schlussendlich räume ich noch dutzende andere Sachen auf, weil es meinem Selbstwertgefühl hilft. Das sollte es nicht, aber ich beschließe, das nicht weiter zu hinterfragen und einfach das zu tun, was mir gut tut. Mit jedem Stück Papier habe ich mehr Gefühl, dass ich die Menschheit zumindest ein Stückchen weit rette.
Nichts würde ich lieber tun, als den Menschen eine Botschaft zu hinterlassen, die ernstgenommen werden würde. Auf dem Rückweg fallen mir lauter Dinge an, die ich in solch einem Text ansprechen würde und als ich zu Hause ankomme, dröhnt mein Kopf voller Ideen. Zu Hause. Für wie lange noch? Wann werde ich mich bei meiner neuen Bleibe so einfinden, dass ich es als zu Hause bezeichnen würde? Ich weiß zwar noch nicht wo ich übernachten werde, aber ich werde schon etwas finden. Und selbst wenn nicht, dann lebe ich einfach auf der Straße - wäre auch nichts Neues für mich.
Die Ideen über eine Botschaft an die Menschheit schwirren immer noch in meinem Kopf herum und ich beginne zu überlegen, ob ich es aufschreiben soll. Ich war nie ein großer Schreiber, genauso wenig wie ein guter Sprecher. Ich hab einfach alles für mich behalten. Aber irgendwie gefällt mir die Idee, als Abschluss dieses Lebensabschnittes, ein paar Worte zu hinterlassen. Ich nehme mir das Papier vom Brief, reiße mir eine Seite ab, nehme mir den Stift, der von dem Telefonat noch auf dem Tisch liegt und lasse meine Worte aus mir herausfließen.
An die Menschen
Ich lebe, ihr lebt
Ich sterbe, ihr sterbt
Wir leben, wir sterben
Also lebt richtig,
lasst es euch gut gehen,
kämpft für eure Rechte,
nutzt die Gelegenheit
Ich hasse die negativen Seiten an mir,
für manche bedeuten sie das Ende
Helft, liebt, lebt.
Lernt, lacht, strebt
Damit ihr, wenn ihr sterbt, gesagt haben könnt, dass ihr gelebt habt
Irgendwie weiß ich nicht, wie ich meine Worte finden soll. Einerseits hat es mir in meinem Kopf besser gefallen, andererseits ist es wohl ganz gut gelungen für mich. Ich falte den Zettel sorgfältig zusammen und lege ihn auf meinen Nachttisch. Dann mach ich die Vorhänge auf, weil es mir mit der Dunkelheit so vorkommt, als wäre es abends, obwohl es gerade erst mittags ist und packe. Wirklich packen kann man das nicht nennen, weil ich nur eine kleine Sporttasche mitnehme und dort meine Klamotten reinwerfe, die größtenteils aus schwarzen Tshirts und Jeans bestehen.
Mein Handtuch packe ich ein, einen Bruchteil von dem Geld, damit ich zumindest etwas zu essen kaufen könnte, die Kette, die meine Mutter mir zu meinem sechzehnten Geburtstag geschenkt hat und meinen Pass. Die wenigen Kosmetikmittel, die ich besitze, ein kleines Kissen für den Flug und das wars. Ich bin startklar. Nur muss ich leider noch Stunden warten, bis es sich lohnen würde, loszugehen.
Also lege ich mich zurück und male mir meine Zukunft aus, obwohl ich keine Ahnung habe, was mich empfangen wird.
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