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"Das macht dann 35 Renminbi", sage ich ein wenig entnervt von dem Tag. Zwei Monate sind vergangen und ich habe absolut nichts erreicht. Abgesehen davon, dass ich einen Brief bekommen habe. Geöffnet hab ich ihn noch nicht, weil ich los musste, aber kein Absender hat das Blatt geziert, also bin ich sehr neugierig über den Inhalt.
Das war der letzte Kunde für heute. Ich ziehe das Rollo hinunter und nehme mir verbotenerweise ein Gebäckstück von dem Blech. Aber da niemand hier ist, kann es auch niemand bezeugen.
Dann schnappe ich mir meine Jacke und meinen Rucksack, sperre das kleine Häuschen ab und mache mich auf den Heimweg.
Dunkelheit ziert den Himmel, die Sterne sieht man kaum durch die vielen Lichter der Großstadt. Ich liebe die Abendluft. Wenn es angenehm kühl ist, man einen angenehmen Duft nach Frische in der Nase hat und in dem Moment alles schön ist. Der nächste ist dann wieder scheiße, aber das ist mir egal.
Ich hasse diese Straße. Dann ist die Luft nicht mehr frisch, sondern riecht nach Abgasen und die Autos rasen vorbei.
Ich verabscheue Autos. Sie zerstören die Welt, doch das kümmert die Menschen nicht, ihnen geht es nur um Bequemlichkeit. Keinen einzigen Gedanken verschwenden sie an die Tiere, die immer mehr Lebensraum verlieren, an die Pflanzen, die austrocknen und absterben.
Ich überquere die Straße, als kein Auto kommt und das, das vorbeifährt, als ich gerade drüben ankomme, hupt. Kurz erschrecke ich von dem lauten Geräusch, dann laufe ich weiter. Solche Sachen machen mich aggressiv.
Ein Bettler schaut mich flehend an, doch ich kann überhaupt nichts machen. Mein Gehalt hab ich noch nicht bekommen und selbst wenn, ich brauche doch das Geld. Dieser Egoismus an mir selbst stört mich. Denn er macht mich zu einem Menschen wie jedem anderen. Zu einem Menschen, die ich doch so sehr hasse.
Ich krame in den Taschen meines Rucksackes nach etwas brauchbarem und finde einen Apfel, den ich ihm in die Hand drücke. Mein Herz tut weh, als der Mann mich so dankbar anschaut, als hätte ich ihm die Welt geschenkt. Für ihn ist es das wahrscheinlich. Ich hasse es, dass Menschen so leiden müssen, während andere sich den Bauch voll schlagen. In meiner Tasche finde ich noch zwei Münzen und drücke sie ihm in die Hand. Ich will nicht sein Lebensretter sein, ich will nur, dass alle gerecht behandelt werden. Weil ich mir das so oft für mich selbst wünsche.
Missmutig werfe ich meinen Blick ab und führe meinen Weg fort. Nur noch zwei Häuserblocks, dann bin ich da. Der Weg kommt mir immer länger vor. Ich erinnere mich an den Brief und sofort hebt sich meine Stimmung ein wenig. Es ist das erste Mal in langer Zeit, dass ich mich auf etwas freue. Irgendwie habe ich viele 'erste Male in langer Zeit', was positive Sachen angeht und das müsste mir eigentlich ein Warnsignal geben. Doch mich kümmerts nicht. Ändern lässt sich sowieso nichts.
Zu allem Überfluss zieht sich die Wolkendecke zusammen und lässt den Regen auf die Stadt los. Ich beginne zu laufen, zu rennen und halte meinen Rucksack über meinen Kopf. Eigentlich mag ich den Regen, aber wenn es so kalt ist wie jetzt, lässt er einem die Glieder taub werden. Als ich an der Haustür ankomme fängt es hinter mir an, richtig zu schütten und ich bin glücklich über die Zuflucht der Wohnung. Es ist zwar eiskalt, doch das macht mir nichts aus, weil ich einfach schnell unter die Decke schlüpfe und den Brief aus meinem Nachttisch hole. Kein Absender. Vorsichtig reiße ich den Briefumschlag auf, das Papier kann man schließlich wiederverwerten und hole den Zettel heraus. Auf den ersten Blick sieht es aus wie eine Stellenanzeige.
Sinn des Lebens - gibt es nicht?
Oh doch, Sie müssen ihn nur einfach wiederfinden. Zufällig verschickt an Menschen, die jemanden zum Reden gebrauchen könnten. Denken Sie drüber nach, es könnte ihr Leben ändern.
Rufen Sie an: +46 189 15628049
Nachdenklich betrachte ich die schwarzen Worte auf dem Blatt und versuche ihren Sinn zu entschlüsseln, bis die Buchstaben vor meinen Augen verschwimmen. Eine Beratung oder eher eine Therapie? Es ist eigentlich egal, weiterhelfen würde mir beides höchstwahrscheinlich. Nur habe ich kein Geld für die Telefonrechnung und erst recht nicht für Therapiestunden. Aber was ist, wenn es großes Glück ist, dass ich ausgewählt wurde und es jetzt einfach so ablehne?
Ich beschließe dem Brief eine Chance zu geben. Vielleicht rettet es ja mein Leben.
Am nächsten Abend bin ich völlig ausgelaugt. Den ganzen Tag über hab ich noch härter als sonst gearbeitet, um das Geld für die Telefonrechnung aufzutreiben. Ich hoffe, dass ich so spät überhaupt noch anrufen kann und es jemand drangeht.
Nach einer Schale trockener Nudeln trinke ich ein Schluck Wasser aus der Leitung und setze mich an den Tisch. Komischerweise bin ich aufgeregt. Sogar meine Finger zittern ein wenig, als ich die Telefonnummer eingebe und mir den alten Hörer ans Ohr halte.
"Guten Tag. Sie rufen an wegen des Briefes?", ertönt eine weibliche, neutrale Stimme, beinahe mechanisch.
"Ja genau. Ich wollte mich ein wenig informieren", erwidere ich und halte den Stift bereit, um wichtige Informationen notieren zu können.
"Was wollen sie denn wissen?"
"Worum es bei der Therapie geht, was es mich kosten würde, wieso ich ausgewählt wurde...", ich bin einfach davon ausgegangen, dass es eine Therapie ist.
"Da haben sie etwas nicht ganz richtig verstanden. Das ist keine Therapie. Das ist ein Experiment, in dem es darum geht, die mentale Gesundheit von Menschen wiederherzustellen, indem sie eine geraume Zeit miteinander verbringen."
Dann hatte ich es also falsch verstanden.
"Wenn das so ist, hab ich leider kein Interesse. Ich bin nicht sonderlich gerne unter Menschen", lehne ich höflich ab.
"Waren Sie denn schonmal unter Menschen, die so waren wie Sie?", fragt die Frau.
"Nein, eigentlich nicht. Aber ich bezweifle, dass sie anders sind als der Rest."
"Menschen, die mental nicht ganz auf Vordermann sind, sind meistens die tiefgründigsten, die die sich am meisten Gedanken machen. So wie Sie."
"In Ordnung. Ich werds mir anschauen. Könnten Sie mir trotzdem noch die grundlegendsten Informationen geben?", willige ich ein. Möglicherweise bin ich zu einfach zu überzeugen, aber was ist denn meine Alternative. In diesem Kaff leben, sieben Tage die Woche, zwölf Stunden pro Tag zu arbeiten und in der restlichen Zeit zu schlafen? Was ist das denn für ein Leben?
"Lassen Sie sich überraschen."
Ich bin verwirrt, als die Frau auflegt, ich weiß ja nicht einmal, wo ich hinsoll. Aber ich beschließe, es auf sich beruhen zu lassen, in der Annahme, dass irgendwer schon zurückrufen wird und ich es sonst einfach vergesse. Jetzt bin ich zu müde, um noch irgendetwas zu machen. Der Tag war lang, die Kunden unfreundlich.
Den Stift und den Zettel lege ich beiseite, nehme den Brief mit in mein Zimmer und sperre die Tür zu, bevor ich einmal kräftig durchlüfte. Es ist zwar eiskalt, aber die frische Luft benebelt mein Denken.
Irgendwann ist mir so kalt, dass meine Finger anfangen taub zu werden, also kehre ich ins Warme zurück und krieche unter meine Decke. Mit der Wärme kommen die Gedanken zurück, die ich doch so sehr hasse.
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