₀₀₃
Ein einfacher Montag. Ein einfacher Morgen.
Doch hatte ich noch vor dem Augenaufschlagen gewusst, dass der heutige Tag grauenvoll werden würde. Schließlich ist heute der erste Schultag. Für viele der Start in ein Jahr voller Langweile und ich würde so gerne mit ihnen tauschen. Für mich wird es ein Jahr voller scheiß Tage. Stunden über Stunden, in denen mir gezeigt wird, wie schlimm ich auszuhalten bin. Ich sitze am Küchentisch, Erin erzählt begeistert Mom und Dad von ihrer Vorfreude. Kein Wunder. Sie kommt in die erste Klasse, zusammen mit ihrer besten Freundin. Für sie wird es bestimmt ein aufregendes, großartiges Jahr mit Dutzenden neuen Erfahrungen. Ich freue mich für sie. Wirklich. Aber manchmal würde ich gerne mit ihr tauschen.
Lustlos schiebe ich den Löffel in meinem Müsli umher. Vor Aufregung ist mir übel geworden und ich entschuldige mich vom Tisch. Oben angekommen sitze ich nur auf meinem Bett, weil ich nervös wie ich war, gestern alles schon gepackt und mir meine Klamotten zurecht gelegt habe. Meine Hände zittern und Schweiß steht mir auf der Stirn. Ich habe Angst vor dem, was auf mich zukommt.
Schlussendlich beschließe ich schon früher loszufahren - wenn noch niemand in der Schule ist, kann ich mich vielleicht in die Sicherheit eines Klassenraumes mit Lehrer retten.
Ich wünsche Erin einen wunderschönen Tag, verabschiede mich von meinen Eltern und steige viel zu früh auf mein Fahrrad.
Zehn Minuten später komme ich verschwitzt an der Schule an. Nicht, weil ich keine Ausdauer habe, sondern, weil es brütend heiß ist hier im Vergleich zu China. Dort war es angenehm kühl, nachts sogar regelrecht kalt. Dementsprechend hab ich mich angezogen. Glücklicherweise habe ich vorgesorgt, zwar aus einem anderen Grund, aber das ist egal. Ich gehe also ins Gebäude hinein und wechsle auf der Schultoilette meinen Pulli zu einem weißen Tshirt. Es ist mein letztes Schuljahr, das stehe ich auch noch durch, sage ich mir immer wieder, aber meine Hände hören nicht auf zu zittern.
Schnell laufe ich zu meinem Klassenraum und stöhne erleichtert auf, als ich den Lehrer entdecke. Ich setze mich zwischen zwei ruhige Schüler, um zu verhindern, dass Leon, Paul oder ein anderer meiner Mobber sich neben mich setzt.
Die ersten beiden Stunden verlaufen problemlos und ich habe bereits die Hoffnung, dass es das ganze Jahr so bleiben könnte, denn niemand, den ich kenne, ist in meinem Grundkurs.
In der Pause laufe ich zu meinem nächsten Raum und stelle meinen Rucksack davor ab, bevor ich auf der Toilette verschwinde. Ich will Leon schließlich nicht extra herausfordern.
"So lange, wie du dich im Spiegel betrachtest, müsste man meinen, du wärst hübsch. Komisch."
Ich drehe mich um und runzele die Stirn, als ich Mira erkenne. Sie hat eigentlich noch nie irgendetwas gegen mich gesagt. Ich senke den Kopf und verlasse das Klo.
"Fantasia! Da bist du ja. Du glaubst ja nicht, wie lange ich dich gesucht habe!", ruft Leon und ich drehe mich weg. Ich habe mir vorgenommen, ihn und die anderen zu ignorieren, bis es ihnen kein Spaß mehr macht, mich zu ärgern.
"Erinnerst du dich noch an mich? Oder muss ich dir auf die Sprünge helfen?", fragt er spöttisch und legt mir eine Hand auf die Schulter. Ich drehe mich um und starre ihn herausfordernd an, darauf hoffend, eine erschrockene Reaktion bei ihm hervorrufen zu können. Er lacht nur und ich werde knallrot. Wieso kann mein Körper solche Reaktionen nur nicht unterdrücken?
"Ich geh dann mal wieder. Bist sowieso hässlich wie eh und je", sagt er und hinterlässt ein scheiß Gefühl in mir. Und seine ersten Worte waren auch gelogen, er geht nicht mal. Wenn er wenigstens das getan hätte.
Ich schließe schmerzerfüllt meine Augen. Es tut scheiße weh. Ich hab es vergessen. Das Gefühl.
"Weint die Heulsuse schon wieder? Oh nein, hat dein großer Bruder das brave Mädchen wieder geschlagen? Ach nein, das geht ja nicht. Er ist ja tot. Wie unsensibel von mir."
Er lacht und ich weine.
Normalerweise halte ich es aus, über meinen Bruder zu reden, ohne zu weinen, aber dass sein Leben so schlecht wegkommt in den Gerüchten der anderen tut einfach weh. Theo war ein guter großer Bruder. Auch wenn wir nie viel miteinander gemacht haben.
Einzelne Erinnerungen an die Zeit davor überfluten mich, und er nutzt meine Schwäche.
Plötzlicher Schmerz an meiner Kopfhaut zieht mich aus meinen Gedanken und ich reiße die Augen auf. Mit voller Wucht zerrt Leon an meinen Haaren und schubst mich, sodass ich mit dem Kopf an einen Spind knalle. Tränen der Wut und des Schmerzes strömen aus meinen Augen und ich halte mir stöhnend den Kopf.
"Leon! Übertreib es nicht!", ermahnt jemand ihn und die Hoffnung wollte gerade in mir aufkeimen, als ich sehe, wer es ist. Paul.
"Langsamer Einstieg. Damit wir das ganze Jahr Zeit haben und sie nicht irgendwann gar Schule wechselt. Wir müssen unsere guten Ideen doch noch ausprobieren."
Leon nickt grinsend und gemeinsam laufen sie weg, als wäre nichts geschehen. Ich bebe vor Wut und Hass auf mich selbst. Wie hatte ich es so weit kommen lassen können?
₪
"Anastasia. Am ersten Schultag zu spät. Wie kommt denn das?"
"Es tut mir leid, ich habe den Raum nicht gefunden", murmele ich und senke entschuldigend den Kopf. Nichts würde ich lieber machen, als Leon zu verpetzen, doch damit würde ich mir seine Wut einfangen.
Leon lacht und flüstert seinem Freund etwas ins Ohr. Ich nehme meinen Mut zusammen und starre ihn mit unverhohlenem Hass an. Seine Reaktion warte ich nicht ab, sondern lasse mich auf meinen Platz fallen. Meine Nachbarin rückt augenblicklich ein Stück von mir weg. Ich lasse mir nichts anmerken, aber innerlich bricht mein Selbstwertgefühl noch ein Stückchen mehr. Normalerweise sind es nur Leon und Paul und ein, zwei andere gewesen. Doch nun scheint es, als würde mich die ganze Schule verabscheuen.
Nachmittags bin ich komplett ausgelaugt. Leon und Paul haben mich in Ruhe gelassen, aber die ständigen misstrauischen, angeekelten Blicke rauben mir die Kraft. Ich will nur noch schlafen, aber dann kann ich es nachts nicht mehr, also bleibe ich wach. Stehe auf und schaue in den Spiegel. Mittlerweile glaube ich, was alle immer sagen. Ich verstehe, wieso alle mich hassen. Ich bin hässlich. Dumm.
Mein Bruder hat mich nie geschlagen. Unser Verhältnis war nie sonderlich gut, deswegen ist das Gerücht entstanden, aber er hat mich immerhin gemocht. Zu Hause gab es einige Tage, an denen wir gemeinsam etwas gemacht haben. Ohne ihn ist es so leer. Erin ist der wahre Schützling meiner Eltern und ich bin überflüssig. Das lassen mich meine Mitschüler immer wieder wissen.
₪
Es dauert Wochen, bis ich mich an die Schule gewöhnt habe, an das Mobben. Mit jedem Tag geht es mir schlechter und ich hasse mich immer mehr, aber immerhin bin ich nicht mehr überrascht, wenn ich im Gang angerempelt werde und gegen Spinde geschubst werde.
Meine Eltern bemerken meinen Zustand und jetzt reden wir darüber.
"Anastasia. Rede mit uns."
Trotzig hebe ich das Gesicht.
"Was, wenn nicht?"
Man kann die Überraschung an ihren Gesichtern ablesen. Ich war immer brav. Doch auch ich ändere mich unter solchen Umständen.
"Wir wollen doch nur, dass es dir gut geht", meint Dad besorgt. "Das tut es schon lange nicht mehr. Aber ihr habt es nie bemerkt", sage ich verbittert.
"Du redest nie mit uns darüber. Erzähl uns doch alles, komm her. Dann finden wir vielleicht eine Lösung."
"Wenn ihr eine Lösung finden wollt, dann redet mit Leon und Paul, nicht mit mir. Was soll ich denn machen?"
Das wars dann für mich. Mom will noch etwas erwidern aber meine Nerven sind am Ende und ich gehe in mein Zimmer, glaube, dass sie es einfach auf sich beruhen lassen werden. Ich habe ihnen klar gemacht, dass ich kein Interesse an einem Gespräch habe.
Abends entdecke ich jedoch einen Zettel auf meinem Bett und lese mir aufmerksam durch, was dort drauf steht.
Sinn des Lebens - gibt es nicht?
Oh doch. Sie müssen ihn nur wieder finden.
Ein neues Experiment, um ihre mentale Gesundheit wieder auf Vordermann zu bringen. Keine Therapie, aber Zeit mit Menschen, denen es ähnlich geht.
Rufen Sie an: +49 176 251718189
Wütend knülle ich den Zettel zusammen und werfe ihn in die Ecke meines Zimmers, wo mein Mülleimer steht. Volltreffer. Hätte ich das doch nur gefilmt.
Als ob ich eine Therapie brauche. Ich brauch einfach nur eine neue Schule, eine neue Klasse, ein neues Umfeld. Aber in unserem Kaff gibt es nur diese eine Schule. Und umziehen wollen meine Eltern nicht. Stattdessen soll ich bei so einer Therapie mitmachen. Das können sie vergessen. Da quäl ich mich lieber durch das Jahr. Therapie.
Ich lache spöttisch auf und setze mich an meine Hausaufgaben.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top