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Und wenn Worte nicht zählen, was bleibt dann noch?

Immer wieder lenke ich mich mit dieser Frage ab, um meine Zweifel zu übertönen, während ich den Gang zurücklaufe, den ich gekommen bin.

Auch, wenn ich der direkten Gefahr entkommen bin, so ist sie nicht vorüber. Und Jenson gegenüber muss ich mein Versprechen einhalten, nachdem er mir so viel geholfen hat.

Zurück am Meetingraum angekommen betrete ich sofort den Raum und friere bei dem Anblick, der sich mir bietet, auf der Stelle ein.
George hält seine Pistole in der Hand und fuchtelt damit herum, Jenson kniet auf dem Boden und hält sich seine blutende Stirn.
Noch hat mich keiner der beiden bemerkt und ich nähere mich George, greife im Vorbeigehen ein Buch von einem der Arbeitsplätze.

"Ich hab dich bemerkt und wenn du noch einen weiteren Schritt tun solltest, schieße ich", sagt George und richtet seine Pistole auf Jenson. Ich halte inne, bewegungslos versuche ich George zu übermitteln, dass ich keine Gewalt will. Er könnte uns beide innerhalb weniger Sekunden ausschalten, aber etwas hindert ihn daran.

George wendet sich mir zu und richtet die Pistole auf mich, während er Jenson bedeutet, sich nicht zu bewegen. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, der auflauernde Tod lässt mich einfrieren. Ist seine Pistole geladen? Ich will es nicht herausfinden.

"Komm, bringen wir dich wieder da hin, wo du hingehörst", sagt er - ich weiß, wovon er spricht. Ich soll wieder in die virtuelle Realität. Aber niemals werde ich das zulassen, einmal drin, wird George sicherstellen, dass ich nie wieder herauskomme. Lieber sterbe ich, als mein Leben in Eintönigkeit, gefangen in einer falschen Welt zu verbringen.

Aber ich nicke, während meine Gedanken rasen. Ich muss es verhindern, aber wie? Jenson hat eine Waffe und wie ich weiß auch keine Hemmnisse, sie zu betätigen. Wenn er seine eigene Frau erschießt, weil sie seiner Meinung nicht zustimmt, würde bei mir ein kleiner Fehltritt reichen und ich wäre tot.

Während Jenson und ich von George den Gang hinuntergeführt werden, begegnet mein Blick seinem. Ich erkenne die Angst wieder, die durch meinen ganzen Körper rast. Ich hasse es hilflos zu sein, aber in diesem Moment bin ich es. Mit der Pistole ist George uns überlegen, selbst wenn wir zu zweit sind. Ich finde keinen Ausweg, aber ohne mich sind auch die anderen aufgeschmissen. Anastasia kann uns ohne Erinnerungen auch nicht weiterhelfen und was George mit Jenson anstellen wird, will ich nicht herausfinden.

Ich muss handeln. Körperlich habe ich keine Chance, aber vielleicht kann ich mit Worten etwas erreichen. Und wenn ich sterbe, habe ich es immerhin versucht. Meine Stimme zittert, als ich das Wort ergreife.

"Bereust du es überhaupt, deine eigene Frau umgebracht zu haben?"
George runzelt die Stirn wütend und sieht gleich zehn Jahre älter aus. Mitte Vierzig sah er furchterregend aus, Mitte fünfzig nur noch erschöpft. Aber ich tue gut, ihn nicht zu unterschätzen.

"Wovon sprichst du?", fragt er. Jenson sieht mich geschockt an, ich schüttele den Kopf. Ich habe nicht gelogen, aber wenn George diese Taktik angeht, um uns gegeneinander aufzuhetzen - und diese Taktik bei Jenson ansetzt, habe ich ein Problem.
"Soll ich dir ihre Leiche zeigen? Du hast sie unter eine Plane geschoben, wie man seine Probleme unter den Teppich kehrt, wenn man nicht mit ihnen umgehen kann, erinnerst du dich?"

Mein Englisch klingt gebrochen.
Trotzdem, während ich rede, fühle ich mich selbstbewusst, aber sobald die Stille meine Stimme einnimmt und George nicht antwortet, sackt mein Herz in die Hose. Bin ich zu weit gegangen? Wird er mich jetzt erschießen?

Er regt sich nicht, ist aber stehen geblieben. Mit seinen Worten vorhin hat er bei Jenson Zweifel gesäht, das sehe ich ihm an. Die Augen geweitet, die Stirn gerunzelt starrt er mich an und versucht aus mir schlau zu werden. Ich muss einfach beten, dass er mir weiterhin vertraut. Ohne ihn habe ich nicht die leiseste Ahnung, wie ich weitermachen soll.

Dann hebt er seine Pistole und hält sie mir an die Schläfe. Der Schweiß rinnt mir die Stirn herab und ich unterdrücke Tränen.
"Probleme unter den Teppich kehren, war schon immer meine größte Stärke. Ich habe nämlich kein Problem damit, sie einfach auszuschalten."

Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass er den Abzug betätigt hätte, wären wir nicht von einem dumpfen Geräusch aus dem Nebenraum unterbrochen worden.

Die Türklinke wird heruntergezogen und heraus humpelt Leon. Er muss sich an die Wand stützen, aber er steht. Er ist hier.
Sein Weg, der virtuellen Realität zu entkommen, hat funktioniert. Ist es den anderen auch gelungen?

Meine Fragen werden erstickt, als ich realisiere, dass George immer noch nur einen Finger bewegen müsste, um mich zu töten. Das kühle Metall drückt an meine Schläfe und Leons Augen weiten sich, als er uns so sieht.

Kann ich von ihm Hilfe erwarten? Er war immer nett, aber wenn es hart auf hart kommt, denken viele als erstes an sich.
Leon aber nicht. In der freien Hand hält er nämlich noch die Spritze, die mit einem Schlauch verbunden und ernährt hat. Und bevor George es realisiert, hält er sich die Spitze an seinen Hals.
"Lassen Sie ihn frei, oder ich bringe mich um."
Auch bei Leon hört man einen Akzent raus und seine Stimme ist rau, aber die Botschaft hinter seinen Worten ist klar und deutlich. Ich reiße meine Augen auf, schüttele unmerklich den Kopf.

"Mach doch, was soll mich das stören", erwidert George und lacht.
"Meine Erziehungsberechtigten verklagen Sie, wenn ich hier nicht rauskomme und dann können Sie ihr ganzes Projekt vergessen."

In diesem Moment durchströmt mich Dankbarkeit. Dankbarkeit dafür, dass Leon hinter mir steht und mit einem Plan aufgekommen ist.
"Und denken Sie nicht, dass mir etwas am Leben liegt. Weil sie meine Gedanken gelesen haben, müssten Sie selber wissen, dass dem nicht so ist", sagt er hämisch. Seine Wut steht ihm ins Gesicht geschrieben und ich habe das Gefühl, er hat es geschafft.

Noch ist die Gefahr nicht vorrüber, aber George stockt. Dann hebt er die Hände und reicht mir die Pistole.
Ich hatte noch nie eine Waffe in der Hand und diese Macht gefällt mir nicht. Um ehrlich zu sein, hasse ich sie.

Unter Macht könnte ich ein schlechter Mensch werden, beachtet man den Hass, den ich auf die Menschheit hege. Aber im Moment hält sie sich wegen Leon in Grenzen. Trotzdem reiche ich Jenson die Pistole, der sie trotz seinen Zweifeln mir gegenüber annimmt und George in Schacht hält.

"Danke Leon", sage ich und nicke ihm zu. Ich erwarte mit einem Nicken als Reaktion oder vielleicht einem kein Problem, aber niemals hätte ich mit der Umarmung gerechnet, in die Leon mich zieht. Nicht, dass ich ein Problem damit hätte. Aber es kommt überraschend. Ich klopfe ihm einmal auf den Rücken und dann lösen wir uns, schauen ins noch einmal in die Augen.

Ich drehe mich um. Die Gefahr ist zwar beseitigt, George allerdings nicht. Was sollen wir mit ihm machen?
Ich beschließe, die Entscheidung Jenson zu überlassen. Mein Vertrauen in ihn geht tief genug, um zu wissen, dass er die richtige Entscheidung treffen wird.

Nachdem wir George in ein Zimmer gesperrt haben, damit Jenson später mit ihm verfahren kann, trennen sich unsere Wege schon wieder.

"Ich muss zurück zu den anderen. Ich denke nicht, dass sie es ohne meine Anweisungen hinbekommen", sagt Leon nämlich, sobald George weggesperrt war.
"Das ist verständlich. Danke für alles", erwidere ich und lächele ihm zu.
Ich habe Leon definitiv falsch eingeschätzt. Oder er hat sich einfach verändert. Auf alle Fälle ist er unglaublich hilfsbereit und denkt nicht nur an sich selbst. Er ist erwachsen geworden.

Wir geleiten Leon noch zu seinem Raum, von dort aus kommt er alleine klar.
"Dann begleite ich dich noch zum Ausgang, denke ich", meint Jenson leise.
"In Ordnung", sage ich, laufe aber absichtlich vor, um auf dem Weg zum Ausgang noch an dem Raum vorbei zu kommen, in dem sich Olivias Leiche befindet.

Bilder blitzen vor meinen Augen auf, als ich den Flur betrete, in dem Olivia ihre letzten Atemzüge getan hat und ich habe das Gefühl ihr Blut wieder an meinen Händen zu haben, ihre starren Augen wieder zu sehen.

"Hier", sage ich und klopfe mit der Handfläche an die Tür.
"Was ist hier?", fragt er.
Wenn er daran nicht einmal mehr gedacht hat, denkt er scheinbar wirklich, ich hätte ihn angelogen, um seine Hilfe zu bekommen. Und trotzdem hilft er mir.
"Olivia. Du musst nur die Pla...", ich räuspere mich, "Die Plane beiseite ziehen und ja...mach es, wenn du dich bereit dazu fühlst."

Früher war ich wütend, weil ich das Gefühl hatte, dass jeder das Leben als selbstverständlich ansieht und niemand Dankbarkeit dafür zeigt. Dass niemand lächelt, obwohl wir alle so ein großes Geschenk bekommen haben; das Leben.

Aber mittlerweile weiß ich, dass man für das Leben nicht dankbar zu sein braucht. Sondern für Menschen.
Und Jensons Lächeln strotz nur vor Dankbarkeit.

Das ist es. Dankbarkeit muss man sich verdienen und das Leben hat es sicher nicht verdient. Menschen verdienen es, Menschen wie Jenson und Leon.

Und ich bin stolz, dass auch ich einer von ihnen bin, so wie Jenson mich ansieht.

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