₀₆₅

"Es tut mir so leid", sagte Jurij.

Ich streiche weiter, ohne ein Wort zu sagen. Die Wut brodelt in mir, es macht mich verdammt wütend, dass mir diese eine wichtige Entscheidung geraubt wurde. Ich wusste nichts davon. Meine Erinnerungen wurden ohne meine Einwilligung geraubt.

Ich fühle mich machtlos.

"Mir tut es auch leid", antworte ich bitter nach so viel Zeit, dass Jurij bestimmt nicht mehr mit einer Antwort gerechnet hätte.
Ich steige von der Leiter, weil ich den oberen Teil der Wand fertig gestrichen habe und helfe Jurij beim unteren Teil.

"Wie kann ich wieder ein Lächeln auf dein Gesicht zaubern?", fragt Jurij und allein diese Worte reichen aus. Ich lächele ihn kurz an, dann überschwemmt mich die Wut. Ich richte mich von ihm weg, als mir Tränen der Wut in die Augen steigen.

Meine Unterlippe bebt, als ich krampfhaft versuche, nicht zu weinen.
"Ich bin gleich wieder da", meint Jurij zu mir. Als er das Zimmer verlassen hat, lasse ich meinen Tränen freien Lauf. Ich fühle mich machtlos, kann mit der in mir aufgestauten Wut nichts anfangen.

Ich brauche eine Idee, einen Plan, um meine Wut zu verarbeiten. Denn wenn ich eins aus meinem Leben gelernt habe, ist es, dass es nie gut ist, etwas aufstauen zu lassen. Lügen genauso wenig wie Wut.

Mein Arm tut weh vom Streichen, aber ich höre nicht auf, bis die letzte weiße Stelle unter dem blau verschwindet.
"Wow, das sieht so cool aus", stellt Jurij fest, als er zurückkommt. In der Hand hält er zwei dampfende Tassen, ich lege meine Farbrolle auf den Boden und gehe zu ihm hin.
"Heiße Schokolade für dich", meint er und ich lächele gerührt, nehme die grüne Tasse an, die er mir hinhält. Ich wische mir über die Augen und verdränge die Wut, weil ich sie nicht ausversehen an ihm auslassen will. Außerdem macht mich seine Anwesenheit glücklich.

Ich bedanke mich und nippe an der heißen Schokolade. Sie schmeckt grandios und ich lecke mir wegen dem Milchschaum über die Lippen. Jurijs Blick wandert automatisch dort hin und ich werde rot.

Hat er wirklich Interesse? Oder war das nur ein Reflex?

Ich zögere und nehme noch einen Schluck, um meine Nervosität zu verstecken. Als ich wieder aufschaue, betrachtet Jurij die Wand. Lenkt er auch davon ab, was gerade offensichtlich passiert ist? Oder schenkt er dem gar keine Bedeutung?

"Die Streifen verschwinden glaube ich, wenn es getrocknet ist", sage ich und er nickt lächelnd.
Dann dreht er sich zu mir um. Sein Blick liegt diesmal offensichtlich auf meinen Lippen und ich trete unsicher von einem Fuß auf den anderen.

Natürlich hatte ich schon darüber nachgedacht, wie es wäre ihn zu küssen, aber ich hatte mir nicht vorstellen können, dass es Realität werden könnte.
Er räuspert sich und wendet sich ab, um die Tür zu schließen.

"Nicht das meine Eltern das sehen, bevor du weg bist", sagt er und deutet auf die Wand.
Aus einem Instinkt heraus trete ich zu ihm und greife nach seiner Hand.
Er hält inne, aber ich gebe mir nicht die Gelegenheit, meine Handlungen zu hinterfragen.

Ich ziehe ihn zu mir heran und schaue ihm in die Augen, bevor ich meine Lippen auf seine lege.
Anfangs vorsichtig bewege ich meine Lippen gegen seine, dann erwidert er.

Er legt eine Hand an meine Hüfte und zieht mich näher zu sich, die andere legt er in meinen Nacken.
Erst jetzt lasse ich die Gefühlsexplosion zu, die Gedanken, die alles hinterfragen schiebe ich noch immer beiseite. Es ist mein erster Kuss, dementsprechend nichts besonders, aber es fühlt sich atemberaubend an. Mein Herz schlägt wie wild, droht aus meiner Brust zu springen.

Ich lege eine Hand auf seine Brust und grinse in den Kuss hinein.

Als wir uns voneinander lösen, lächele ich vorsichtig. Seine Augen strahlen.
Wie habe ich den Mut gehabt, das durchzuziehen? Ich werde rot bei dem Gedanken daran, komme aus dem Lächeln gar nicht mehr heraus.

Eine unangenehme, von Glück durchzogene Stille entsteht, Jurij packt mich an der Hand und zieht mich mit sich zu seinem Bett.

Wir legen uns nebeneinander, schweratmend. Weiter will keiner von uns gehen.
"Ich bin froh, dass ich dir schon von dem Projekt und dir erzählt habe. Und dass du mir noch immer dein Vertrauen schenkst", meint er aus dem Nichts heraus und ich drehe mich zur Seite, schaue ihm in die Augen.
"Es ist so unwirklich. Ich würde mich doch nicht umbringen."
Meine Stimme klingt rau und so fühle ich mich auch. Rau wie eine Oberfläche, die sich unangenehm anfühlt, wenn man sie berührt. Ich fühle mich nicht unangenehm aber unwohl in meinem Körper. Ein Körper, der seine Erinnerungen im Stich gelassen hat, der nicht mehr das verkörpert, was ich bin.

"Ich brauche meine Erinnerungen zurück", füge ich hinzu und sowohl Jurij als auch ich wissen, welche gewaltige Wahrheit dahinter steckt. Schon jetzt komme ich mit der Neugier, mit dem Gefühl der Ungewissheit nicht klar und ich denke nicht, dass es sich mit der Zeit ändern wird. Eher wird sich das schlingende Gefühl um meinen Brustkorb verstärken.

"Ich habe eine Idee, wie wir das erreichen können."
Gespannt setze ich mich auf und verschränke die Hände in meinem Schoss. Erst jetzt, als er nach Worten sucht, fällt mir wirklich auf, wie wichtig er mir geworden ist. Er ist nicht nur freundlich und hilfsbereit, er packt das Problem an der Wurzel und findet Lösungen.

"Weißt du, so ein Projekt...es gibt vieles, was man daran aussetzen könnte. Das es in die Menschenrechte eingreift, zum Beispiel. Es spricht zwar niemand aus, aber bestimmt zweifeln viele daran."
Ich unterbreche ihn, als er eine Sprechpause macht.
"Was ich mich frage ist...wieso noch kein Gericht eingegriffen hat. Das ist doch bestimmt illegal oder braucht zumindest eine Einwilligung vom Staat."
Ich kenne mich nicht aus, um zu sagen, dass es für ein solches Projekt wirkliche eine staatliche Einwilligung braucht, aber es scheint mir vernünftig.

"Du hast recht, aber ich habe noch nichts gehört, was das betrifft. Ich meinte zu sagen, dass es Möglichkeiten gibt, mit denen wir etwas erreichen können. Eine Petition wäre ein Anfang."

Ich runzle die Stirn. Wenn kein Staat eingreift, was sollen wir dann mit einer Petition erreichen.
"Wir sind zwei und ich glaube kaum, dass viele diese Petition unterschreiben würden", wende ich ein. In meinem Umfeld kenne ich drei Personen, die wegen mir diese Petition unterschreiben würden, Erin und meine Eltern. Und auch wenn Jurij zehnmal so viele Stimmen zusammenbekommt, wirklich etwas damit erreichen, werden wir nicht.

"Wer nicht wagt, der nicht gewinnt."
"Wer nicht wagt, der nicht verliert", beharre ich auf meiner Meinung. Meine Eltern würden nichts sagen, aber sie würden sich denken, wie ich in meinen kindlichen Träumen gefangen bin, wirklich etwas erreichen zu können.

"Doch, du. Du würdest verlieren."
Ich schaue ihn fragend an.
"Du würdest deine Erinnerungen verlieren."
"Die habe ich schon verloren."
"Dann eben die Möglichkeit, sie wieder zu bekommen. Du weißt, was ich meine."

Das weiß ich tatsächlich und auch wenn es mir nicht gefällt, sagt er die Wahrheit. Ich presse meine Handballen gegen die Stirn und seufze.
"Ich brauche Bedenkzeit."
Innerlich weiß ich schon, wie meine Entscheidung ausfallen würde, aber ich hatte das Gefühl, ich sollte es wirklich noch einmal überdenken. Selbst, wenn Leon jetzt weg ist, diese Entscheidung würde Paul und vielen anderen wieder einen Grund geben, um mit dem Mobben anzufangen.

Jurij steht jetzt an meiner Seite, aber meine Gefühle zu ihm spielen hier keine Rolle. Hier geht es nicht um ihn, sondern um mich. Er macht das nur wegen mir, aber wenn ich es nicht will, wird er nichts dagegen machen.

Ich bin nicht mutig. Ansonsten hätte ich längst eingewilligt. Aber die traurige Wahrheit ist, dass ich Angst habe, wieder in den Kreislauf zu gelangen, in dem ich tagein tagaus gemobbt werde. Ich habe Angst vor dem, was sein könnte.

"Ja, schlaf drüber", stimmt Jurij zu. Die fröhliche Stimmung ist vorrüber. Die Stimmung, in der wir uns geküsst haben. Bei dem Gedanken daran werde ich rot und mein Herz fängt an schneller zu schlagen. Ich kann mich davon nicht ablenken lassen, aber es ist verlockend.

"Es ist schon spät, ich bring dich nicht zur Tür."
Jurijs Worte sind klar. Ich soll gehen. In seinem Kopf ist es bestimmt nicht so wirr wie in meinem, aber auch er wird Zeit für sich brauchen, deswegen nehm ich ihm seine Worte nicht übel.
Ich drehe mich noch einmal im Kreis und betrachte stolz den Raum. Es sieht wirklich gut aus.

Auf einmal hört man ein Quietschen.
"Meine Eltern sind zurück", stellt Jurij fest und ich nicke. Das ist nicht direkt etwas schlechtes, aber das, was ich von ihnen erfahren habe, lässt mich daran zweifeln.
Trotzdem gehen wir zusammen die Treppen hinunter. An der Garderobe stehen seine Eltern, ein recht merkwürdiges Ehepaar. Seine Mutter hat bereits graue Haare, wirkt aber freundlich, sein Vater hingegen scheint kaum vierzig Jahre alt zu sein und betrachtet mich und seinen Sohn mit zusammengekniffenen Augen.

"Ich verabschiede sie nur noch schnell", sagt Jurij schnell. Sein Vater nickt mit gerunzelter Stirn und wir drängen uns an ihnen vorbei zur Haustür.
Während ich meine Schuhe anziehe, wartet er geduldig auf mich, auch wenn ich einen Zwiespalt bemerke. Er will nicht unhöflich wirken, aber er will mich loswerden. Womöglich wegen seinen Eltern.

Da er dem Drang, mich zu hetzen, aber nicht wiedergibt, beeile mich von alleine.

"Dankeschön für den heutigen Tag", sage ich noch, dann will ich mich umdrehen und gehen. Für sein Zimmer bekommt er bestimmt schon Ärger, da will ich das Ganze nicht noch schlimmer machen.

Jurij packt mich an der Hand und zieht mich in eine Umarmung, bevor er mich gehen lässt.
Ich lächle ihm zu und gehe endgültig, komme aber nicht umhin, mir zu wünschen, es wäre ein Kuss anstatt einer Umarmung gewesen.




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