₀₆₃
Als wir am nächsten morgen am Küchentisch sitzen, ist wieder alles wie zuvor. Zumindest scheint es nach außen hin so.
Aber irgendetwas hat sich in der allgemeinen Stimmung verändert und ich kann nicht benennen was. Vielleicht ist die Verbundenheit, die wir sonst innerhalb der Familie aufrecht erhalten haben, gerissen. Vielleicht ist es auch nur ein Zeichen, dass ich alt genug bin, um etwas Eigenständiges anzufangen. Dass ich nicht länger abhängig von der Zuneigung meiner Eltern bin.
Ob das nicht doch etwas schlechtes ist, beschäftigt mich den ganzen Tag. Familie ist doch das, was dem Leben Stützen gibt, was vom Kindesalter an existiert.
Und obwohl das Thema um meinen Bruder jetzt vom Tisch ist, denke ich darüber nach, ob es nicht besser wäre, es wieder hochzuholen. Ich fühle mich nicht so, als könnte ich damit abschließen.
Ich denke, dazu fehlt unter anderem Leon. Ich muss das ein für alle mal mit ihm klären. Uns aussprechen. Wer weiß, ob ich ihm jemals wieder begegne. Dann wird alles anders sein. Er ist jetzt Teil etwas Größerem. Und ich scheinbar auch, wenn man Jurij Glauben schenkt. Und das tue ich. Ich vertraue ihm, glaube ich.
Ich habe Erinnerungen, die keine sind. Und an das eigentliche Geschehen erinnere ich mich nicht.
Und ich habe mich umgebracht. Die Vorstellung ist so unfassbar gruselig.
Wusste ich, dass ich nicht wirklich sterbe, sondern nur in die Realität zurückkehre? Oder wollte ich es endgültig beenden?
Fragen über Fragen, die Antworten bleiben aus. Und wie lange ich damit in Frieden leben kann, weiß ich nicht.
₪
Nachmittags mache ich mich mitsamt Farbeimer und Malmaterialien auf den Weg zu Jurij. Den Tag über hatten wir keine Kurse zusammen, die Pausen haben wir allerdings gemeinsam verbracht.
Ich hoffe, dass ihm die Farbe gefällt und er die Idee gutheißt. Er hat zwar gemeint, dass seine Eltern ihm das nie erlauben würden, aber möglicherweise lässt er sich von der Idee mitreißen. Ansonsten würde ich seine Entscheidung natürlich verstehen.
"Hey, du warst ja schnell", begrüßt er mich.
"Bin mit dem Fahrrad gefahren", erwidere ich grinsend und ziehe ihn in eine Umarmung. Wieso ich diese körperliche Nähe eingehe, weiß ich nicht, aber als er auch einen Arm um mich legt, fühle ich mich sicher.
"Was hast du denn dabei?", fragt er neugierig und versucht in meine Tasche zu schauen, die ich ihm aber wegziehe, bevor er etwas sehen kann.
"Ich zeigs dir oben."
Jetzt, umso schneller er es sehen kann, wenn er oben ist, rennt er die Treppen hoch und ich habe keine andere Wahl als ihm zu folgen. Tatsächlich bin ich aufgeregt. Eine Emotion, die ich schon lange nicht mehr gespürt habe.
"Jetzt zeig schon", meint Jurij ungeduldig, als ich mich erst einmal hinsetzen will.
"Okay, okay, beruhig dich", erwidere ich grinsend und hebe beschwichtigend die Hände, bevor ich den Inhalt meiner Tasche auf dem Boden ausleere.
Pinsel, Farbroller, Zeitung, Abklebeband und Farbe. Soweit ich weiß, habe ich nichts vergessen.
"Ich... ich hab dir doch gesagt, das meine Eltern damit nicht einverstanden sein werden", stottert Jurij verständnislos.
"Ich weiß. Aber manchmal musst du das tun, was du willst. Wenn du dich nur an Regeln hältst, ist es nicht dein Leben, sondern das der Ersteller der Regeln."
Ich glaube meinen Worten und denke, dass ich ihnen selber mehr Gewicht in meinem Leben schenken sollte. Mehr das machen sollte, was auch ich will.
"Aber...", wirft er noch immer zweifelnd ein.
"Du kannst es auf mich schieben. Ich habe dich gezwungen", erwidere ich verzweifelt. Will er es doch nicht machen?
"Okay...", willigt er schließlich ein, ich bekomme allerdings Bedenken.
"Aber nur, wenn du es wirklich willst", wende ich also ein, doch als er bejaht und nun doch von der Idee begeistert in die Hände klatscht, grinse ich.
"Okay cool."
Innerlich freue ich mich mehr, als ich es mir anmerken lasse. Es ist lange her, dass ich etwas wie das unternommen habe. Mit einer Person, die nicht Teil meiner Familie ist.
"Ich zieh mir nur kurz was anderes an, das schmutzig werden kann, brauchst du auch was?"
Er lässt seinen Blick über meinen Körper schweifen und mein Kopf wird heiß.
"Nein, passt schon", lehne ich ab, nicht ohne mir mich in seinen Klamotten vorzustellen. Während er sich umziehen geht, beginne ich, seine Möbel in die Mitte des Raumes zu schieben, möglichst ohne zu viel Unordnung anzurichten.
Spontanität ist eine der Qualitäten, die ich an Menschen liebe und das gerade Jurij einer dieser Menschen ist, macht mich meiner Gefühle ihm gegenüber nicht schlauer.
In Gedanken versunken bemerke ich nicht, wie er das Zimmer wieder betritt, eine graue Jogginghose und ein weites, schwarzes T-Shirt tragend.
"Lass mich dir helfen", sagt er, durchbricht die Stille mit seinen Worten, sodass ich mich erschrecke und kurz zusammenzucke. Mit vereinter Kraft schieben wir sein Bett von der Wand weg, wo schon sein Schreibtisch und ein Regal stehen.
Ohne Worte verstehen wir uns und während er seinen Teppich zusammenrollt, verteile ich bereits die Zeitung auf dem Boden.
Aus dem Nichts heraus lacht Jurij auf.
Ich halte inne und blicke fragend auf.
"Es ist nur, als du gesagt hast, dass du ne Überraschung hast, hab ich an Blumen gedacht oder vielleicht ne Schokolade, aber nicht, dass wir jetzt mein Zimmer streichen."
Ich stehe auf und streiche mir meine Hände nervös an der Hose ab.
"Wir müssen das wirklich nicht machen, wenn du nicht willst."
Es war bestimmt eine bescheuerte Idee und er macht nur mit, weil er mich nicht verletzen will.
"So war das nicht gemeint. Ich liebe die Idee und die Veränderung kann ich glaube ich auch gebrauchen", wirft er schnell ein und bringt mich mit seinen Worten zu lächeln.
"Und dein Lächeln liebe ich auch", fügt er hinzu und zwinkert mir zu, bevor er sich zur Wand umdreht und beginnt, die Bodenleiste abzukleben.
Dieses Mal werde ich nicht rot, aber mein Herz erwärmt sich und selbst als ich mich hinknie, um weiterzuarbeiten, bin ich mir sicher, dass ich strahle.
"Wie viele...nein, welche Wände willst du streichen?", frage ich ihn.
"Sag du es mir, du bist doch der Profi."
"Ich hätte gesagt zwei, damit es nicht zu dunkel wird, aber es ist dein Zimmer, also entscheide du."
"Dann machen wir es so. Die Seite mit der Tür und die, bei der du grad bist?"
Ich nicke, obwohl er das wahrscheinlich gar nicht sieht.
"Bist du fertig mit dem Abklebeband?"
"Na klar", erwidert er und reicht es mir, damit ich meine Wand ebenfalls abkleben kann.
Unsere Fingerspitzen berühren sich leicht und meine Hand beginnt zu kribbeln, ich merke wie ich lächle. Die Zeit mit Jurij tut mir gut.
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"Okay, du machst den ersten Strich."
Ich recke beide Daumen in die Höhe und grinse, als er skeptisch die Farbe betrachtet, die auf die Zeitung tropft.
"Je länger du wartest, desto mehr tropft", meine ich und lache.
"Wir machens gemeinsam."
"Aber...", er unterbricht mich.
"Kein aber."
Dann greift er meine Hand am Handgelenk und platziert sie neben seine an den Farbroller.
Ich streiche mit meiner freien Hand meine Haare hinters Ohr und dann legen wir los. Die ersten Striche gelingen nicht perfekt, weil wir unter anderem in unterschiedliche Richtungen streichen wollen, aber als wir dann jeder einzeln blaue Farbe über das weiß rollen, geht es einfacher.
"Hast du ne Leiter?", frage ich, als wir zu der Stelle kommen, die über der Tür liegt und für uns somit nicht erreichbar ist.
"Ja, ich hole sie", meint er und verlässt das Zimmer.
Ich streiche alleine weiter, aber auch wenn wir teilweise geschwiegen haben, war es mit seiner Anwesenheit einfach beruhigender. Hat mehr Spaß gemacht.
Auf einmal denke ich wieder an die Therapie. Meine Erinnerungen wurden verändert und je länger ich drüber nachdenke, desto gruseliger wird die Vorstellung. Habe ich das freiwillig gemacht? War ich damit einverstanden? Ich kann es mir eigentlich kaum vorstellen.
"Alles gut?", fragt Jurij, der gerade mit der Leiter zurückgekommen ist.
"Ja, nein. Ich frage mich einfach immer wieder, wieso ich mich umgebracht habe. Wieso meine Erinnerungen verändert wurden. Es...es- ich kann kaum an etwas anderes denken."
Ich erwähnte nicht, dass ich es mit seiner Anwesenheit unglaublich gut ausblenden konnte. Ansonsten würde er sich vielleicht schlecht fühlen, weil er überhaupt raus gegangen war.
"Ich würde dir damit gerne helfen...kann ich irgendwie? Gibt es etwas, was ich machen kann?"
Er wirkt zutiefst unglücklich, dass es mir damit so schlecht geht.
Ich denke eine Weile darüber nach.
"Denkst du, du könntest...deinen Auftragsgeber fragen, ob ich es freiwillig gemacht habe? Also ob ich zugestimmt habe? Das wäre mir wichtig, denke ich."
"Natürlich, ich kann es versuchen."
Ich nicke ihm dankbar zu und lege all meine Gefühle in meinen Blick.
Dann steige ich auf die Leiter und streiche weiter.
Erst als ich wenige Sekunden später das Geräusch von seinem Telefon höre, wie er jemanden anruft, realisiere ich, dass er es jetzt macht. Jetzt seinen Auftragsgeber anruft und den Lautsprecher anmacht, damit ich mithören kann.
Dass er mir so vertraut, lässt mein Herz schneller schlagen.
Ich weiß nicht, ob ich das Gleiche sagen könnte von mir.
"Hallo?", hört man eine genervte männliche Stimme aus dem Handy sprechen.
"Ist die Zeit gerade schlecht?", fragt Jurij rücksichtsvoll nach.
"Ja, aber- du bist Jurij?"
Die Stimme klingt nun neugierig.
"Ja, ich würde gerne mit Olivia sprechen."
Meine Gedanken überschlagen sich. Wer ist dieser Mann und wer ist Olivia? Seine Auftragsgeberin? Oder jemand anderes?
Kannte ich sie, bevor meine Erinnerungen verändert wurden?
"Ich bin jetzt der Ansprechpartner."
Jurij zögert kurz und wirft mir einen Blick zu, der alles bedeuten könnte. Ich streiche nur halbherzig weiter, konzentriere mich mehr auf das Gespräch. Ich will nichts verpassen und im Nachhinein realisiere ich auch, dass ich es nicht nur aus zweiter Hand hätte erfahren wollen.
"Ich weiß, dass Sie mir wahrscheinlich nicht mehr positiv gestimmt sind", beginnt er zögerlich.
"Wieso das denn?"
Dieses Mal bin ich es, die ihm einen bedeutungsschweren Blick zuwirft. Er weiß also noch nichts davon, dass Jurij es mir gesagt hat, wer auch immer er ist.
"Weil ich Anastasia verraten habe, dass sie das Mädchen vom Projekt ist, dessen Erinnerungen verändert wurden."
"Du hast was?"
Der Mann klingt unglaublich wütend. Als hätte ich nicht das Recht gehabt zu erfahren, was mit mir geschehen ist.
"Sie haben mich schon verstanden."
Im Gegensatz zu der normalen Provokation hinter solchen Worten, verhält sich Jurij ruhig. Er bleibt ehrlich, respektvoll und verliert nicht die Kontrolle über seine Emotionen.
"Ich habe nur eine Frage. Hat Anastasia eingewilligt, dass ihr ihre Erinnerungen verändert?"
"Als ob ich dir das jetzt sage."
Von dem Mann kann man nicht sagen, dass er seine Emotionen unter Kontrolle hätte.
"Wenn Sie auflegen ist das für mich ein klares nein", wirft Jurij schnell ein. Mittlerweile habe ich ganz aufgehört zu streichen und warte mit dem tropfenden Farbroller auf die Antwort.
"Das wäre es sowieso."
Dann legt er auf.
Und in mir steigt eine Wut auf, wie ich sie nie gespürt habe.
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