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Ich habe zwei Stunden, um ihnen alles zu erklären und es ihnen dabei noch so vorsichtig beizubringen, dass sie nicht direkt ausrasten, was die erste natürliche Reaktion wäre, aber ich bringe kein Wort raus.

"Lien?", fragt mich Àlvadro mittlerweile zum dritten Mal. Ich kämpfe mit den Tränen, will aber besonders vor Fernando und Leon nicht so schwächlich wirken, weil sie mich glatt auslachen könnten. Obwohl ich das mittlerweile nicht mehr glaube, weil wir in einer sehr schwierigen Situation sind.

"Hey, es ist alles gut", sagt er und nimmt mich in den Arm. Anscheinend hat man es mir doch angesehen, aber keiner von beiden rühren auch nur ihre Miene. 
"Ist es nicht", widerspreche ich, wobei meine Stimme zittriger klingt als geplant.

"Komm, wir setzen uns erstmal hin", meldet sich Maria zu Wort und lächelt mir aufmunternd zu. 
"Genau, komm erstmal zur Ruhe", sagt auch Fernando und ich runzle überrascht die Stirn. Damit habe ich von ihm nicht gerechnet. Aber vielleicht macht diese Situation andere Menschen aus uns. Bessere Menschen.

"Ich war wieder in der Realität", fange ich an und obwohl so viel, so verdammt viel passiert ist, ist das einzige, an das ich denke, Olivia. Olivia, die im einen Moment lebendig mit ihrem Mann gestritten hat, im nächsten tot vor mir lag, von ebendiesem erschossen.

Augenblicklich wird es still. Und die Stille erdrückt mich fast. Weil alles ist besser als schweigende Menschen, deren Reaktionen man nicht vom Gesicht ablesen kann. Um zu wissen, was sie denken, bräuchte man etwas oder jemanden, der ihre Gedanken liest, was eine Ironie.

"Und es war nicht gut. Ich brauche eure Hilfe, weil ich einfach nicht weiterweiß", meine ich. Und das stimmt. Ich bin unglaublich verzweifelt. 
"Okay, gemeinsam finden wir bestimmt einen Weg. Finde erstmal zu dir. So schlimm wird's schon nicht sein", meint Àlvadro, versucht die Stimmung aufzuheitern. 
Aber als ich verkrampft anfange zu lächeln, merkt auch er, dass es wohl nicht so leicht sein wird.

"So schlimm ist es, leider", warne ich die anderen vor. Das einzige, was ich hier nicht will, ist das sie das hier unterschätzen. Ich wäre nicht grundlos hier oder wenn es nur was kleines wäre.

Ich atme tief durch, als hätte ich nach einem langen Tauchgang wieder die Wasseroberfläche durchbrochen. Und vielleicht passt dieser Vergleich besser als er sollte. Es geht nichts übers Worten freien Lauf lassen, wenn sie einem im Kopf zu viel werden.

Und dann erzähle ich. 
Ich erzähle von Olivias Plan und wie er von ihrem Mann zerstört wurde. Von der Angst, die ich in den Momenten verspürte. Davon, wie ihr Blut an meinen Händen klebte, dass ich kaum mehr Luft bekam, weil mir so übel war. Ich rede über Dinge, die ich fühle, die sowohl keinen Sinn machen, gleichzeitig aber auch so viel Sinn machen. 
Und die ganze Zeit schaue ich die anderen an, die mich mit ihren Blicken zu noch mehr ermutigen. Die sich Mühe geben, für mich da zu sein, obwohl es auch für sie immer unangenehmer wird.

Als ich zum Punkt komme, an dem ich erfahren habe, dass sie an die Presse gehen, spüre ich die Anspannung, die sich ausbreitet. Und ich erzähle alles in der richtigen Reihenfolge. Erst von meinem Plan, dann davon, wie er schief gegangen ist, damit sie die Hoffnung spüren, die auch ich spürte. 
Dann berichte ich von George's Rede, wie er aller Welt von uns erzählte. Selbst meine Panikattacke, die keine war, lasse ich nicht weg, wobei ich versuche, es so gut zu erklären wie möglich. 

Abschließend erzähle ich von Jenson und wie er mir half. Und von den zwei Stunden, die ich Zeit habe. 

Als ich den Mund endgültig schließe, fühlt sich meine Zunge merkwürdig pelzig an, vom vielen Reden.

"So schlimm wars also doch", meint Àlvadro und er hat recht. Er klingt durcheinander. So sehen die anderen auch aus und ich weiß, wie sie sich fühlen. Wir haben darum gekämpft, hier heraus zu kommen, damit so etwas nicht passiert, damit unsere Privatsphäre nicht so eingeschränkt wird. Und jetzt ist es zu spät. Und nicht nur das. Es ist viel schlimmer gekommen.

"Und ich weiß nicht einmal, ob ich hier wieder raus komme. Ich habe Jenson reingelegt und weil George jetzt in euren Gedanken lesen kann, dass Jenson der Verräter war, weiß ich nicht, was dieser machen wird, sobald er das feststellt. Vielleicht stecke ich jetzt wieder mit euch hier fest. Aber das Risiko einzugehen hat sich gelohnt...wegen euch. Ihr habt die Wahrheit verdient."

Meine Stimme bricht, aber ich reiße mich zusammen.
"Ihr habt mein Leben echt wieder lebenswert gemacht. Und auch wenn ihr auch ziemlich anstrengend sein könnt, seid ihr doch für einen da, weil ihr wisst, wie schlimm es sein kann. Und deswegen verdient ihr die Wahrheit. Ich habe es auch gemacht, weil ich nicht mehr weiterwusste, aber mehr, weil ich euch nicht allein lassen kann. Ihr seid so gute Menschen und keiner von euch verdient das, nicht einmal du Leon."
"Ich weiß das mit deinem Bruder", füge ich hinzu und lächele verkrampft.

Dieses Mal lasse ich die Tränen kommen und auch Loise weint. Der Rest schafft es irgendwie, die Gefühle aufzuhalten herauszufließen. Ich weiß nicht wie. 

"Da sind wir in ein ziemliches Schlamassel geraten", murmelt Fernando. Ich nicke. 
"Ich glaube, damit hat niemand gerechnet, als er sich entschlossen hat herzukommen."

"Danke Lien", meint Maria. Ich will abwinken, aber scheinbar hat sie noch etwas loszuwerden.
"Ich kann das ganze noch nicht ganz realisieren. Aber was ich weiß, ist, dass wir das ganze ohne dich nicht einmal annähernd mitbekommen hätten. Und du bist ein guter Mensch, auch wenn du alle hasst."

"Dankeschön", sagt auch Fernando. Das von ihm gesagt zu bekommen, bedeutet mir so viel. Ich kenne ihn nicht. Nicht wirklich. Die paar Wochen habe ich kaum etwas über ihn gelernt. Aber ich weiß, wie stark er ist. Und wie schwer es für ihn sein muss, solche Worte zu sagen. Erneut steigen mir Tränen in die Augen, aber dieses Mal vor Rührung.
"Das war selbstverständlich."

"Das war es nicht. Deswegen bedanke ich mich auch."
Unter Tränen blinzle ich Àlvadro an, der mir hier wohl am meisten geholfen hat. Mit seiner unbeschwerten Art hat er sich gar nicht anmerken lassen, wie schlecht es ihm geht. Und ich glaube, er wird niemanden so wirklich an sich dranlassen. Er macht einfach Witze drüber. Aber ich denke, dass er es alleine schaffen wird, solange da Menschen sind, die hinter ihm stehen.
"Ich mich auch", schließt sich Loise an und auch Leon nickt mir zustimmend zu. 

Ich atme tief durch. Dieses Mal nicht, weil ich auftauche. Dieses Mal, weil ich an Land gehe.

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