₀₅₁
Gedankenverloren starre ich auf den Küchentisch und kaue auf meinen Cornflakes herum.
„Na, wie war die erste Nacht im eigenen Bett?", fragt Mom lächelnd.
Grottenschlecht, denke ich.
„Ganz okay", meine ich stattdessen. Ich will keine schlechte Stimmung verbreiten und wenn ich ihnen von dem erzähle, worüber ich mir gerade den Kopf zerbreche, halten sie mich bestimmt für verrückt. Bin ich nur paranoid?
„Ich laufe heute zur Schule", teile ich Mom nebenbei mit.
„Okay, soll ich dich dann abholen?"
„Mom, ich bin keine zwölf mehr. Ich kann eine halbe Stunde laufen, ohne, dass mir etwas passiert."
Ich verdrehe die Augen und sie hebt beschwichtigend die Hände.
Unter dem Tisch presse ich meine Knie zusammen, verschränke die Hände, um das Zittern zu unterdrücken. Seit gestern Abend hat mich das Gefühl nicht mehr verlassen, das irgendetwas gewaltig falsch ist. Ich habe keine Erklärung dafür, kann ich meinen Gefühlen überhaupt noch vertrauen?
Als Erin auch mit ihrem Essen fertig ist, stehe ich auf und ziehe meine dicke Jacke an. In der Zeit, in der ich die Therapie gemacht habe, ist es Winter geworden, der Schnee ersetzt nun die Blätter auf den Bäumen, der Frost die Fliegen an den Fensterscheiben.
Ich schlüpfe in meine Stiefel und nehme mir die Kopfhörer von der Ablage und meinen Rucksack, trete in die Kälte hinaus.
„Anas, warte! Schau mal meinen neuen Pullover an", schreit Erin und ich drehe mich um.
Sie hat einen schwarzen Pullover mir einer Katze drauf an, ich schenke ihr ein breites Lächeln und recke beide Daumen in die Höhe.
Dann laufe ich weiter, die Kleinstraße entlang. Und für eine kurze Zeit bin ich nicht vollständig auf die Verwirrung seit gestern Abend fokussiert. Aber das liegt nicht an mir, sondern an Erins Worten.
Anas. Woher auch immer sie auf diese Idee eines Spitznamens gekommen ist, ich liebe sie dafür.
Ich glaube, mit Anas kann ich leben. Anastasia, den Namen habe ich gehasst, verabscheue ihn noch immer, wegen Leon. Und mit Anas müsste ich nicht meinen Namen ändern lassen, aber er unterscheidet sich doch genug, dass ich nicht ständig an ihn denken müsste. Anas, denke ich lächelnd.
Schnellen Schrittes laufe ich die Straßen entlang, mit der Musik, die durch meine Kopfhörer strömt, fühle ich mich wie in einem Film. Mir begegnen einige Nachbarn, denen ich höflich zunicke. Ich fühle mich frei.
Bis mir wieder das mit den Erinnerungen einfällt. Sofort fällt die Leichtigkeit von mir ab.
Ich versuche mich abzulenken, indem ich mir überlege, wie ich Leon bestmöglich aus dem Weg gehe, aber bei dem Gedanken an ihn fühle ich mich auf einmal schuldig. Das Gefühl erwischt mich kalt, ich packe die Träger meines Rucksackes und beschleunige meine Schritte. Als würde ich vor meinen Emotionen weglaufen können. Was ein Schwachsinn.
₪
Die ersten beiden Stunden verlaufen besser, als ich dachte. Zwar werden mit einige überraschte, verwirrte Blicke zugeworfen, aber Leon war nicht da. Vielleicht schwänzt er nur, aber die Lehrer haben auch nicht nach ihm gefragt.
Schon wieder habe ich das Gefühl, irgendetwas wichtiges verpasst zu haben. Ich fühle seltsame Dinge, weiß aber nicht wieso. Ich erinnere mich nicht, zumindest an nichts außer den wichtigen Dingen von meiner Therapie, weiß aber nicht wieso.
Es scheint mir, als würde die Welt Kopf stehen und ich wäre die einzige, die es bemerkt.
"Na, war die Zeit mit Leon schön?", spricht mich auf einmal jemand von hinten an. Ich drehe mich um, Paul.
"Wie meinst du?", frage ich verwirrt.
"Ihr seid beide am gleichen Tag verschwunden, ohne ein Wort zu sagen und bis heute nicht wieder aufgetaucht."
"Ich habe keine Ahnung, wo Leon ist. Ich war...in einer privaten Angelegenheit weg", sage ich. Ich weiß nicht wieso ich mich überhaupt vor Paul rechtfertige. Er war nie so schlimm wie Leon. Und doch hat er mitgemacht.
Die neue Information jagt mir einen Schauer über den Rücken. Ich sehe die Puzzleteile, kann sie aber nicht zusammenfügen. Ich kenne die Informationen, kann sie aber nicht verknüpfen. Und es wird immer verwirrender.
"Ich muss weiter", murmele ich geistesabwesend. Wieso ist Leon am gleichen Tag wie ich verschwunden? Wo ist er hin?
Meine Füße tragen mich zu meinem nächsten Klassenraum, ich lasse mich auf einen Stuhl in einer Mittelreihe fallen. Dann stütze ich meine Ellenbogen auf den Tisch und mein Kinn auf meine Fäuste.
"Was machst du denn hier?"
Ich drehe mich zur Seite und erkenne den Jungen aus dem Park. An dem Tag, als Leon mir die Cola über dem Kopf ausgeschüttet hatte und ich auf der Parkbank gesessen habe, hatte er mich angesprochen.
„Äh, Essen an die Wand werfen, wonach sieht's denn aus?", antworte ich ironisch und hasse mich dafür, dass ich nicht einmal normal antworten kann.
„Ich...ich meine, dass ich dich hier noch nie gesehen habe", meint er, runzelt die Stirn nach meinen Worten, ich kann's ihm nicht verdenken. Was gebe ich eigentlich manchmal von mir?
„Ich dich auch nicht, was willst du mir jetzt damit sagen?", hake ich verwirrt nach. Gerade bin ich nicht wirklich in der Lage über so etwas nachzudenken, meine Gedanken schwirren immer noch um meine verwirrende Situation.
„Ähm, egal", murmelt er und macht Anstalten, wegzugehen.
„Warte, sorry. Ich wollte nicht unhöflich sein, bin nur nicht wirklich gut in dem ganzen ‚Freundschaftsding' und hab gerade ein anderes Problem", erkläre ich mich und hoffe, dass er nicht geht. Er lässt sich auf den Stuhl neben mir fallen und winkt ab.
„Alles gut. Vielleicht kann ich dir ja bei deinem Problem helfen?", schlägt er vor und Ich runzele die Stirn. Habe ich ihn jetzt so leicht überzeugt? Oder war das Teil eines Plans? Hat er irgendetwas vor?
Ich reiße mich zusammen und schüttele nur ein wenig abwesend den Kopf. Wieso bin ich so misstrauisch? Vielleicht will er mir ja wirklich nur helfen...
Aber eine Stimme in meinem Kopf flüstert weiterhin: Erzähl ihm nichts, er ist bestimmt mit Leon verbündet. Vertrau ihm nicht.
Vertrau ihm nicht. Diese drei Worte. Vielleicht hat mir die Therapie doch nicht so sehr geholfen, wie ich dachte.
„Wie heißt du denn?", wechsle ich das Thema, weil ich mir selbst beweisen will, dass ich ihm vertrauen kann, wenn ich ihn nur gut genug kennenlerne.
„Jurij, du?"
„Anastasia, aber nenn mich Anas, das ist mir lieber. Russisch?"
„Ja, meine Eltern kommen aus Moskau", erwidert er und grinst.
Er hat etwas vor! Alle meine Alarmglocken schrillen auf, aber es passiert nichts. Er lächelt mir nur zu und zögernd biege auch ich meine Mundwinkel nach oben. Es fühlt sich falsch an. Genauso wie der Stich in meinem Herzen, als er Russland erwähnt hat.
„Also, wie kommt es, das du mir nie aufgefallen bist?", fragt er.
„Ich war in einer...privaten Angelegenheit weg", erkläre ich und nehme allen Mut zusammen, bevor ich weiterspreche, „Einer Therapie, um genau zu sein."
Ich atme tief durch, streiche mir nervös eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Oh-...aber das muss dir gar nicht unangenehm sein, ich mach auch ne Therapie", sagt er.
„Ehrlich?"
„Ja! Ich finde, in unserer Gesellschaft sollten wir das viel mehr normalisieren. Man kann ungehindert über seine Gefühle reden und...und wird es los. Danach fühlt man sich einfach besser, oder nicht?"
Ich bin beeindruckt, das muss ich zugeben. Er scheint echt vernünftig zu sein.
„Ja, stimmt." Ich blinzle, noch immer überrascht.
Mehr und mehr Schüler betreten den Raum und die Lautstärke erhöht sich drastisch. Der Schulgong und die laut durch den Raum hallende Stimme der Lehrerin bereiten dem allerdings ein Ende. Somit beginnt die Doppelstunde Deutsch.
Ich habe mich zwar nicht mehr mit Jurij unterhalten, aber am Ende des Tages bin ich glücklicher als an meinen früheren Schultagen. Ich weiß noch nicht, inwiefern ich ihm vertraue, aber das wird noch. Diesbezüglich bleibe ich zuversichtlich. Das wird. Ganz bestimmt.
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