₀₄₉
"Mom", rufe ich und renne zu ihr hin, springe ihr in die Arme.
"Na, wie wars?", fragt sie und strahlt mich an.
"Ganz doof", meine ich ironisch und wir lachen gemeinsam. Und auch, wenn ich die Zeit genossen habe und ich glaube, das sie mir gut getan hat, ist es doch am schönsten, meine Mutter in die Arme zu schließen.
"Komm, gehen wir zum Auto, dann haben wir ja genügend Zeit, dass du mir alles erzählst."
Ich nicke fröhlich und drücke ihr absichtlich den größeren Koffer in die Hand, woraufhin sie wieder auflacht und mich danach liebevoll anlächelt.
Am Auto angekommen setze ich mich auf den Beifahrersitz und rutsche aufgeregt drauf rum.
"Es sind immer noch über 11 Stunden, bis du sie siehst, beruhig dich", meint Mom, als sie einsteigt. Sobald sie den Zündschlüssel dreht, schalte ich das Radio ein und grinse sie an. Normalerweise mag sie es nicht, Musik zu hören, bevor wir auf der Autobahn sind.
"Ausnahmsweise", murmelt sie und wirft mir einen mahnenden, aber amüsierten Blick zu.
Dann fährt sie vom Parkplatz herunter und ich werfe einen Blick zurück. Das weiße Gebäude wird mich nun immer begleiten. Ich meine in einem der Fenster Menschen gestresst hin und her zu laufen, aber das kann täuschen. Dort waren alle so nett und unglaublich liebenswürdig.
"Dann erzähl doch mal, wie wars denn?"
"Geht's spezifischer?", frage ich nach, weil ich es von mir aus hasse zu erzählen. Ich beantworte gerne Fragen, aber einfach so aus mir herauskommen ist nicht so meins.
"Wie hieß denn deine Therapeutin?"
"Erstmal- es war ein Therapeut..."
"Ach ja? Wie alt war er denn?", hakt sie interessiert nach und schaut mich verschmitzt an.
"Mom! Der war viel zu alt. Außerdem, wie komisch wäre es denn, mit meinem Therapeuten was zu haben", erwidere ich angewidert.
"Und wenn er jünger gewesen wäre?" Ihr Lächeln zeigt ihre Belustigung, ich weiß, dass das alles sowohl größtenteils sarkastisch, aber auch teilweise ernst gemeint ist, weil sie sich Sorgen um mich macht.
Ich verdrehe nur die Augen und schaue nach draußen.
"Es war schön. Alle waren nett, es war gar nicht erzwungen oder so. Eigentlich hat es echt Spaß gemacht und die anderen habe ich zwar kaum gesehen, aber man konnte sich gut mit ihnen unterhalten. Ich habe euch aber vermisst", erzähle ich nach einer Weile. Ich sehe Mom nicht, aber ich kann mir vorstellen, wie überrascht sie gerade ist, dass ich mich ihr geöffnet habe. Als ich meine Haare zur Seite schiebe, um sie durch die Spiegelung anzuschauen, hat sich ein breites Lächeln auf ihrem Gesicht breitgemacht.
₪
Erin kommt so schnell angerannt, dass ich von ihr fast umgestoßen werde. Sie ist in den letzten Monaten echt gewachsen. Ich wuschele ihr durch die braunen Haare, die sie von Dad geerbt hat und lächle sie an.
"Schau mal, meine Zahnlücke", meint sie und grinst mich an, um sie mir zu zeigen.
"Wunderschön", erwidere ich und lege ihr eine Hand auf den Rücken, um sie zur Tür zu führen, in der Dad lächelnd steht.
Ich umarme auch ihn und als ich unser kleines Haus betrete, wird mir sofort warm ums Herz. Es ist alles noch so, wie es davor war. Mein Zuhause.
"Wir haben Nudeln gekocht", ruft Dad aus der Küche und ich streife schnell meine Jacke ab, bevor ich meiner Familie folge. Ich lasse mich auf meinen Stuhl fallen, Erin setzt sich neben mich und Mom mir gegenüber, während Dad die Nudeln auf den Tisch stellt.
"Also, wie wars?"
"Toll, ziemlich toll", sage ich und schaufle eine Kelle Nudeln auf Erins Teller, bevor ich mir selbst etwas nehme.
Daraufhin herrscht gefrässige Stille, ich konzentriere mich auf mein Essen.
"Gabs dort nichts zu essen oder wieso schaufelst du es dir so rein?", fragt Dad lachend.
"Ganz witzig, Dad", murmele ich und verdrehe belustigt die Augen.
Nur haben seine Worte mich ins Denken gebracht. Egal, wie angestrengt ich mich versuche zu erinnern, mir fällt nicht ein, was ich gegessen habe dort. Absolut nichts.
Ich runzele die Stirn, lasse mir aber nichts anmerken und esse weiter, genieße die Zeit, die ich bei meiner Familie verbringe.
₪
In meinem Zimmer sitzend, starre ich auf meine offenen Koffer.
Es ist nicht so, als würde etwas nicht stimmen. Es ist alles ordentlich, alles perfekt. Nur ist genau das mein Problem.
Es ist zu ordentlich. Das hätte niemals ich packen können. Und ich erinnere mich nicht einmal daran, es gepackt zu haben. Ich erinnere mich nur an grobe Sachen, an meinen Therapeuten, die Gespräche mit ihm, wie es mir nach und nach besser ging. Aber nicht, was ich zwischendurch gemacht habe. Was ich gegessen, was ich angehabt habe.
Wie kann das sein?
Wieso zum Teufel erinnere ich mich nicht?
Und dann kommt da noch das ursprünglich leichte, nun immer präsenter werdende Gefühl, das irgendetwas nicht stimmt. Ich fühle Schuld, Angst, Trauer - Emotionen, deren Ursprung mir unklar sind.
Ich stehe auf und nehme mir ein T-Shirt aus dem Koffer und rieche daran. Unbenutzt. Das nächste, unbenutzt. Als alle meine Klamotten unordentlich verteilt auf dem Teppich liegen, bin ich mit den Nerven am Ende. Allesamt unbenutzt. Das kann doch nicht wahr sein!
Mein Kopf arbeitet auf Hochtouren, aber ich komme zu keinem Schluss, der eine logische Erklärung für all das hier zu bieten hätte. Ich ziehe mich um und wünsche Erin und meinen Eltern eine gute Nacht, um mich abzulenken. Sobald ich aber wieder alleine in meinem Zimmer bin, mich an die Fensterbank lehne und in die Nacht starre, kommt die Verwirrung in Lichtgeschwindigkeit zurück. Irgendetwas fühlt sich unglaublich falsch an.
Falsch, schreit mein Kopf. Falsch, falsch, falsch.
Als ich nach einiger Zeit realisiere, dass ich morgen Schule habe und für Leon völlig ausgeschlafen sein muss, um das Ganze irgendwie zu überstehen, lege ich mich in mein Bett. Die Decke ziehe ich bis zu meinem Kinn, im Arm halte ich Erins Giraffe, die ich vergessen habe, ihr zurückzugeben und fühle mich auf einmal nackt, ungeschützt.
Gefühle der letzten Monate kommen mit voller Wucht zurück. Wieso fühle ich Schuld, Trauer? Wieso fühle ich mich so schwer?
In dem Moment ist mir alles zu viel. Irgendwas stimmt nicht, ich weiß aber nicht was. Ich fühle so viel, dass es mich überschwemmt. In mir gibt es diese gewisse Leere, aber auch diese Entschlossenheit.
Unkontrolliert fangen meine Augen an zu tränen, durchnässen mein Kissen. Ich fühle mich schwach. Mein Atem rasselt, als ich versuche, irgendetwas unter Kontrolle zu bekommen. Blind greife ich nach einem Taschentuch auf meinem Nachtisch und werfe dabei mein Glas Wasser um.
Stöhnend stehe ich auf, laufe zum Bad und lege ein Handtuch auf die Pfütze, bevor ich einen Schluck aus dem Wasserhahn trinke. Erschöpft und mit den Nerven blank, lege ich mich erneut ins Bett.
Der Schlaf kommt jedoch erst früh am Morgen und ich wälze mich stundenlag im Bett umher, bis ich zur Ruhe komme.
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