₀₄₆
"Ich...ich war zwischendurch wieder in der Realität. Um genau zu sein war ich hier und da gleichzeitig. Aber ja, mehr da. Erinnert ihr euch noch, als Álvadro und ich diese komischen Zusammenbrüche hatten?"
Ich weiß, was es für ein Risiko birgt, ihnen alles zu erzählen. Bestenfalls nehmen sie es hin, schlimmstenfalls hassen sie mich, dafür, dass ich es ihnen nicht früher gesagt habe und stürzen in ein Loch. Wie gesagt, der Gedanke, dass dein Kopf nicht mehr nur deiner ist, ist furchteinflößend.
Als die anderen auf meine Frage mit einem Nicken antworten, hole ich erneut tief Luft.
"Das lag daran, dass die Leiter des Projekts das ganze eigentlich nur zum Sinn und Zweck der Forschung machen. Sie haben etwas neues entwickelt, dass es ihnen erlaubt...ja...Gedanken zu lesen sozusagen. Ich verstehe das ganze auch noch nicht wirklich, aber Álvadro und ich hatten irgendein Problem und hatten daraufhin diese - Anfälle."
"Warte...wie? Die lesen unsere Gedanken? Aber-"
ich unterbreche Anastasias Gestammel.
"Das war noch nicht alles, was ich zu sagen habe."
Ist es die richtige Entscheidung? Lügen ist nie gut, aber die Wahrheit einfach ein bisschen zu verdrehen? Etwas wegzulassen?
Nein. Sie verdienen die ganze Wahrheit.
"Álvadro's Zustand hatten sie schnell behoben. Deswegen war es nur ich, der mehr Folgen davon hatte. Also...ich war ja irgendwann weg und Alexej und Anastasia haben mich gefunden."
Anastasia zuckt zusammen, als ich seinen Namen erwähne und ich weiß, dass es alle daran erinnert, was wir zu verlieren haben.
"Kurz davor haben sich all eure Gedankenströme mit meinem verbunden. Ich, ich habe alle eure Gedanken gehört...", stottere ich. Ich schließe meine Augen, um die Reaktionen nicht mitbekommen zu müssen und stattdessen fertig erzählen zu können.
"Auf jeden Fall haben sie mich dann in die Realität zurückgeholt und mir alles erklärt. Die analysieren rund um die Uhr unsere Gedanken und...ja, das wars, was ich euch sagen wollte."
Als ich es schließlich wage, meine Augen aufzumachen, weiß ich nicht mehr, was richtig und falsch ist.
₪
Es schweigen alle. Minuten sind bereits vergangen, die Wut, Verwirrung, das Entsetzen, die Realisierung stehen ihnen noch immer aufs Gesicht geschrieben. Ich kratze mich nervös am Kopf, die Gedanken rasen durch meinen Kopf. Ich hinterfrage alles. Hätte ich es ihnen nicht sagen sollen? Aber sie verdienten doch die Wahrheit.
"Warte...du willst und weismachen, dass die unsere Gedanken lesen?", fragt Loise panisch.
"Ja, ich habe auch ne Weile gebraucht um das zu realisieren. Vielleicht kann ich es immer noch nicht ganz."
"Du verarschst uns grad, oder?"
Ich schüttele wehleidig den Kopf und verziehe den Mund. Mittlerweile habe ich akzeptiert. Ich werde nichts daran ändern können und ein dunkles Geheimnis habe ich ebenfalls nicht. Natürlich fände ich es nicht gut, wenn die ganze Welt meine Gedanken kennen würde, aber es sind nur knapp ein dutzend Menschen.
"Ich hätte es euch früher sagen sollen", gebe ich zu.
"Das hättest du", wirft mir Leon vor - sein Gesicht vor Wut verzogen.
"Ich durfte nicht, das müsst ihr doch verstehen. Die haben alle Macht über uns. Ohne ihr Einverständnis kommen wir hier nie raus", versuche ich mich verzweifelt zu erklären.
"Dann holen wir uns unsere Macht zurück. Damit war ich nie einverstanden!"
"Hast du mich nicht gehört? Ohne sie kommen wir hier nie wieder raus!"
"Das denkst du", widerspricht Leon vehement.
"Und was denkst du? Dass sie uns einfach hier rauslassen?"
"Nein."
"Egal was du planst, sie werden es doch sowieso mitbekommen und dich davon abhalten!"
"Bleibt mal ruhig. Wenn wir hier rauskommen wollen, dann entweder zusammen oder gar nicht!"
Fernando, der sonst immer so aufbrausend ist, versucht diesmal Ruhe zu bewahren. Dafür bin ich ihm verbunden. In Momenten wie diesen, in denen ich mich selbst nicht unter Kontrolle habe, brauche ich jemanden, der dazwischengeht. Zwischen meine Vernunft und meine Impulsivität.
"Okay, Leon, was ist dein Vorschlag?", fragt Fernando.
"Ich weiß etwas..."
"Aber sie wissen doch jetzt auch, dass du etwas weißt. Wie soll uns das denn helfen?", werfe ich ein.
"Das mögen sie ja wissen. Aber sie können nichts dagegen machen", sagt Leon und lächelt.
"Und wieso das?"
"Weil sie damit unseren Vertrag brechen würden. Und dann könnten wir sie anklagen."
"...Sofern wir hier rauskommen", beende ich seinen Satz. Es ist riskant, aber was für einen besseren Plan habe ich?
Dann übernimmt wieder die Stille. Wir sitzen auf den Matratzen, nah beieinander und doch so weit voneinander entfernt. Wir sind aus verschiedenen Welten gekommen und wurden zusammengeworfen. Kein Wunder, dass nicht alles glatt läuft. Und trotzdem schaffen wir es irgendwie. Vielleicht.
Hallo Olivia, denke ich.
du willst nur unser Bestes, aber ich glaube nicht, dass du weißt, dass wir selber am besten wissen, was das ist.
Wahrscheinlich hört sie das nicht, bekommt es nicht mal mit, aber ich will ihr eine Chance zu geben, uns zu verstehen.
Neben mir sackt die Matratze ein, als Anastasia sich hinlegt und einrollt. Seitdem ich gebeichtet habe, hat sie kein Wort gesagt. Irgendwie beunruhigt mich das.
Auch die anderen legen sich nach und nach hin, auch ich lasse mich nach hinten fallen, bette mein Kopf in das weiche Kissen.
Ich bin nicht müde, aber geistig erschöpft. Ich fange hier doch nichts mit meinem Leben an. Was will ich machen, wenn ich hier raus bin?
In diesem einen verhängnisvollen Moment denke ich an meine Mutter. Wie sie sich jetzt neben mich gesetzt hätte und solange auf mich eingeredet hätte, bis ich eingeschlafen wäre, sodass ihre Worte Träume bildeten, die mich die ganze Nacht begleiteten. Und wenn ich dann eingeschlafen wäre, war sie aufgestanden und zurück ins Wohnzimmer gegangen, hätte sich mit meinem Vater gestritten, bis ich wieder aufgewacht wäre.
Zwischen ihnen gab es kein Alkoholproblem, keine Gewalt, keine anderen Probleme. Sie haben nur nicht zusammengepasst. Und das jeden Tag meiner Kindheit mitzuerleben hat mir klar gemacht, dass nichts menschliches unendlich ist. Nicht die stärkste Liebe, nicht die längste Ehe.
Deswegen bin ich weggerannt. Weil ich es nicht mehr ertragen habe, immer nur die negative Seite in allem zu sehen.
In dieser Nacht träume ich nicht von den aufmunternden Worten meiner Mutter, die meine Träume hoffnungsvoll und wunschlos machten.
Ich durchlebe den Albtraum der Worte, die sie meinem Vater an den Kopf geworfen hat, die Beleidigungen, die eine Ehe zerstörten.
₪
Nach dieser unruhigen Nacht bin ich nicht gerade glücklich darüber, geweckt zu werden. Auf einen kurzen Blick hin, stelle ich fest, dass alle noch schlafen. Mich hatte ein kurzer Schauer geweckt, der sich von meiner Wirbelsäule über meinen ganzen Körper gezogen hatte.
Als ich erneut aufschaue, schwebt ein Zettel in der Luft. Ich falte ihn auf und fange an zu lesen.
Vielleicht ist es wahr. Vielleicht ist es wahr, dass nur wir über unser bestes Bescheid wissen. Aber wieso habt ihr dann über Anastasias Rücken weg entschieden?
Damit meine ich nicht, dass du nicht recht hast. Damit meine ich nur, dass du dir gewisse Sorgen darüber machen solltest, wie es ihr geht. Nicht zu sprechen von Alexej.
Denke mal drüber nach,
Olivia P.
PS: Zähl nochmal.
Ich runzele die Stirn und recke den Hals. Und als ich zähle, fällt mir auf, dass nur fünf noch schlafen. Leon, Loise, Fernando, Maria und Álvadro. Ich stehe langsam und ganz vorsichtig auf. Hinter mir höre ich Schritte, die sich entfernen, ich wirble auf der Stelle herum.
"Anastasia, warte", schreie ich noch, dann wird alles schwarz.
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