₀₄₂
Am nächsten Morgen ist alles anders. Ich fühle mich nicht mehr so leer, meine Gedanken sind klar.
Vielleicht war es gut gewesen, meine Meinung in die Welt zu rufen. Vielleicht tat es mir gut, nahm mir Last ab.
Ich trete aus meinem Zimmer heraus und obwohl es draußen schon hell wird, ist anscheinend noch niemand wach. Wenngleich es auch gut möglich ist, dass sie einfach keine Lust auf die anderen haben. Alleine zu sein erscheint einigen vielleicht einladender, als in Gesellschaft zu schweigen. Man konnte es ihnen nicht verübeln.
Draußen angekommen gehe ich zu unserem Sammelplatz, mit den Baumstümpfen, die wir an einem der ersten Tage hierher gewuchtet hatten. Damals hatten wir zusammengearbeitet, voller Vorfreude auf das Projekt. Was hatte sich verändert?
Ich kenne die Antwort nur zu gut.
Als erstes fällt mir Anastasia ins Auge, dann die Position, die sie eingenommen hat.
Sie sitzt an einen Baumstamm gelehnt, ihr Kopf nach vorne gesackt, als hätte der Schlaf sie letztendlich doch noch übermannt.
Doch das ist nicht das, was mein Herz zusammenziehen lässt. Es ist die Tatsache, dass ihre Hände so positioniert sind, als würde sie eine liegende Person halten.
Alexej. Er war genau an der Stelle gestorben. Sie sitzt da, als könnte sie ihn noch immer halten. Als könnte sie seine Körperwärme noch spüren, wie sie wich.
Und das bricht mein Herz.
Ich setze mich hin, aber nicht in ihre unmittelbare Nähe, weil ich nicht in ihre Privatsphäre eindringen will. Lege meinen Kopf in den Nacken und seufze leise.
Ich wünschte, ich könnte ihr helfen, aber wie? Ich bin nicht der Mensch, der gut mit Worten umgehen kann, erst recht nicht, wenn es um Emotionen geht. Ich könnte sie nicht einmal aufmuntern, wenn ich wollte.
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Als Anastasia aufschreckt, reißt sie mich aus meinem Halbschlafzustand. Ich bin wohl noch einmal eingedöst.
"Alles gut", murmele ich, als sie panisch hin und herschaut.
"Es tut mir übrigens leid", füge ich hinzu, weil ich gerade eben den Mut habe, es zu sagen. Vielleicht ist es nicht gut, sie nach einem Albtraum, den sie allen Anschein nach hatte, auf das Thema anzusprechen, aber irgendwas muss sie da sowieso durch.
"Jaja", flüstert sie, immer noch durch den Wind. Ich bin mir nicht mal sicher, ob sie weiß, wovon ich spreche, aber ich will das Thema nicht vertiefen.
"Was ist denn hier passiert?"
Ich drehe mich um und folge Álvadros Blick. Statt den einzelnen Bäumen befindet sich dort nämlich jetzt eine weite Ebene, der ich nicht viel Aufmerksamkeit schenken würde, wäre nicht mit Steinen ein Pfeil ins Gras gelegt. Wie hatte mir das nicht auffallen können?
Der Pfeil zeigt direkt von der Hütte weg und während ich mich langsam erhebe, stößt Álvadro einen Freudenschrei aus.
"Endlich!"
"Was meinst du?", frage ich ihn. Es fällt ihm wohl erst jetzt auf, dass Anastasia und ich auch hier sind, denn er zuckt beim Klang meiner Stimme zusammen.
„Jetzt haben wir etwas zu tun, gemeinsam zu tun. Wir werden ein Team!"
Jetzt zeigt sich das, was ich auch am Anfang unserer Begegnung feststellen konnte, sein aufrichtiger, unverkennbarer Wunsch nach Gesellschaft, einem Team, dem er angehörig ist. Nur im entferntesten Sinne verstehe ich seine Angst alleine zu sein, während ich diesen Trieb sehr gut nachvollziehen kann. Schließlich ist es immer schön, Menschen zu haben, auf die man sich verlassen kann.
„Lass uns die anderen wecken", ruft er begeistert.
„Lass ihn das machen", meine ich zu Anastasia, die sich auf den Weg macht, ihm zu folgen.
„Nimm dir noch eine Minute für dich."
Sie nickt zwar, doch noch immer sieht sie nicht hundertprozentig anwesend aus. Ich frage mich, was wohl in ihrem Kopf vorgeht.
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Sobald Álvadro alle geweckt hat und wir all unsere Habseligkeiten gepackt haben, machen wir uns gemeinsam auf den Weg.
Kurz haben wir in Erwägung gezogen, jemanden zurückzulassen, der auf die Hütte aufpasst, aber scheinbar haben wir alle genug von dem Nichtstun, denn alle wollten mit.
Voller Entschlossenheit laufen wir in die Richtung, in die der Pfeil gezeigt hat. Die Wiese streckt sich über den gesamten Horizont, nichts als Gras, so weit das Auge reicht.
„Ist das nicht cool?", ruft Álvadro, der begeistert die Führung übernommen hat und schnellen Schrittes vorausgeht.
„Ganz toll", murrt Leon vor mir, worauf Loise ihn warnend anschaut.
„Lass ihn sich doch freuen. Immerhin gibt es noch etwas, dass ihn begeistern kann."
Neben mir läuft Anastasia, ab und zu werfe ich ihr einen Blick zu, nur um festzustellen, dass sie noch immer nur auf den Boden vor ihren Füßen starrt. Dann wende ich meinen Blick wieder ab und lausche lieber den Gesprächen der anderen oder schaue mich um. Irgendwann findet Anastasia doch noch ihr Wort wieder.
„Es tut mir leid", sagt sie.
„Was tut dir leid?", hake ich nach, sie hat ihren Blick doch auf Leons Rücken verankert.
„Leon."
„Hä?", fragt dieser und dreht sich zu uns um.
„Es tut mir leid", wiederholt sie und senkt den Blick.
Er zieht überrascht die Stirn zusammen, bleibt zusammen mit Louise stehen, die wiederum ihn fragend anschaut. Hinter uns halten auch Fernando und Maria an, bleiben aber im Hintergrund, während Álvadro einfach weitergeht, sein Wanderlied vor sich hin trällernd.
Erst nach wenigen Augenblicken geht mir auf, wovon Anastasia spricht. Aber woher weiß sie das? Als ich ihre und alle anderen Gedanken gelesen habe, wusste sie es jedenfalls noch nicht.
„Leon, wovon redet sie?", fragt Loise leise, er bedeutet ihr nur leise zu sein.
„Eine Entschuldigung reicht nicht", erwidert er, ich halte angespannt die Luft an. Es war ein großer Schritt von ihr, sich zu entschuldigen, vor allem, weil sie keine direkte Schuld trifft. Diese Antwort ist respektlos und ich hoffe, sie antwortet mit etwas schnippischem.
„Ich weiß", sagt sie stattdessen leise und starrt auf ihre Füße.
„Warte, was? Du lässt das hier einfach auf dir sitzen?", frage ich entsetzt.
„Sie entschuldigt sich. Für etwas, das sie nicht kann. Daraufhin sagt man Dankeschön. Und du", ich wende mich Anastasia zu, „Wo ist die Anastasia hin, die schnippisch und sarkastisch und wütend war - zu recht?"
Anastasia erwidert nichts, obwohl ich ihre Gedanken lesen kann, weil sie ihr auf der Stirn geschrieben stehen. Mit Alexej gestorben.
Oder aber: Durch die Schuld erdrückt worden.
Die Schuld an ihrem ‚Mord'.
„Woher weißt du davon?", fragt allerdings Leon mit zusammengekniffenen Augen; und ich weiß, dass ich einen ungeheueren Fehler gemacht habe.
Ich denke nach, suche nach einer Ausrede, aber in meinem Kipf ist es auf einmal lahmgelegt.
„Ich hab es ihm erzählt", meint Anastasia, ohne den Blick zu heben.
„Ja, genau", sage ich, erleichtert darüber, dass sie mir geholfen hat. Auch wenn ich befürchte, dass sie später, wenn wir allein sind, eine Antwort von mir verlangen wird - eine Antwort, die ich ihr nicht geben kann.
Leon sieht skeptisch aus, wahrscheinlich, weil ich so lange gezögert habe.
„Worum geht es?", fragt Loise mürrisch, weil sie aus der Unterhaltung ausgeschlossen wurde.
„Nicht so wichtig", erwidere ich.
„Naja, du weißt es, wieso sollte sie es nicht wissen dürfen?"
„Grob zusammengefasst hat Anastasia mir meinen Bruder geraubt", fügt Leon hinzu.
„Natürlich drehst du es so, wie es dich am besten aussehen lässt. Du weißt genauso gut wie ich, dass das nicht stimmt", springe ich für Anastasia ein, als sie den Vorwurf auf sich sitzen lässt.
Louise ist sichtlich verwirrt, ich nehme es ihr nicht übel. Das Ganze ist sehr kompliziert, auch ich verstehe nicht die Hälfte davon. Wie es sein konnte, dass Leon sich so gut an seinen Bruder erinnert, obwohl er kaum ein Jahr älter ist als Anastasia, bei dessen Geburt Theo adoptiert wurde. So habe ich es zumindest verstanden. Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht steckt da auch noch viel mehr dahinter, aber das Kernproblem verstehe ich. Anastasia ist unschuldig, ihre Eltern vielleicht eher weniger.
„Das sagt der Außenstehende. Sie hat sich entschuldigt, sie erkennt ihre Schuld immerhin an", widerspricht Leon wütend.
„Hört auf. Das-..."
Anastasia wird von einem spitzen Schrei unterbrochen, der aus der Ferne hallt.
Álvadro.
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