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*kreativer Einleitungstext* 

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Ich stand vor dem Internat, das mir vor weniger als zwei Jahren noch so unfassbar groß vorgekommen war, und hielt Lukes Hand, während ich darauf wartete, dass Mr. Newman noch irgendetwas sagte. Zu meiner Rechten stand Louis; sein Blick war genauso ernst wie meiner. Neben ihm standen unsere drei Koffer, die er später allein irgendwie zum Taxi befördern musste.

„Josie ist nicht mehr hier; sie ist nach Hause gefahren. War komplett durcheinander, verstört und wollte nur noch zu ihrer Schwester", informierte mich der Internatsleiter anstelle von irgendwelchen Abschiedsworten.

Betreten senkte ich den Blick. Verdammt, sie tat mir so leid. Jetzt bloß nicht anfangen zu weinen.

„Außer ihr sind noch viele weitere Schüler von ihren Eltern vom Internat geholt worden. Sie dachten, diese Schule wäre ein sicherer Ort für ihre Kinder. Doch das ist sie nicht", fuhr Mr. Newman fort.

Ich wusste nicht, wie ich mich wohl fühlen würde, wenn ich mein Kind auf ein Internat schickte, in der Hoffnung, es würde dort in Sicherheit lernen, seine Kräfte zu kontrollieren. Und wenn ich dann erfahren würde, dass die Hälfte der Schüler dieses Internats - oder sogar mein eigenes Kind - tot war. Mir lief ein Schauer über den Rücken. Die Vorstellung allein war furchtbar.

„Verständlich", kommentierte ich leise und mit kratziger Stimme, während ich meine Schuhspitze auf dem Boden umherdrehte, um mich wenigstens auf irgendeine Art von den Gedanken an Jessie und irgendwelchen zukünftigen Kindern abzulenken.

Eine Weile war es still. Dann seufzte Louis und verkündete uns, dass sein Taxi auf 15 Uhr bestellt war und wir langsam aufbrechen mussten, um rechtzeitig zum Tor zu kommen. Seine Stimme klang dabei etwas zu übertrieben gefasst, damit ihm seine lockere Unbefangenheit abkaufen konnte. In Wirklichkeit ging er wahrscheinlich innerlich ein, so wie ich.

Die Tatsache, dass wir eine dreiviertel Stunde Zeit hatten, um das Tor zu erreichen und nicht einmal fünf Minuten brauchen würden, ignorierte mein Cousin gekonnt. Wahrscheinlich wollte er einfach nur weg von hier. Weg von dem Ort, an dem seine Freundin gestorben war.

Mr. Newman nickte bedächtig. „Ja. Solltet ihr", pflichtete er ihm nachdenklich bei und sah währenddessen in die Ferne, als würde er irgendetwas Bestimmtes suchen.

„Wir sehen uns doch wieder, oder?", wollte er plötzlich wissen und sein Blick schnellte fast schon panisch zu Luke, als würde er eine Antwort wie „Och Gott, nee, bitte nicht!" erwarten.

Dieser grinste leicht. „Will ich doch hoffen!", entgegnete er, bevor er den Mann, der ihn aufgenommen hatte, nachdem seine Eltern gestorben waren, umarmte wie einen Vater, sodass ich mich augenblicklich erneut nach Dad sehnte.

Als sie sich wieder voneinander gelöst hatten, nickte Mr. Newman Louis zu. „Wenn du das Internat ganz verlassen und dein letztes Jahr auf einer ‚normalen' Schule machen willst wie die anderen beiden gezwungenermaßen, verstehe ich das", versicherte er ihm aus heiterem Himmel, als hätte er unser Gespräch von wegen ‚von dem Mist fernhalten' mit angehört. „Du bist mehr als gut im Umgang mit deinen Fähigkeiten und das weißt du, Louis. Sag mir nur Bescheid."

Louis sah kurz auf den Boden, dann nickte er und warf dem Internatsleiter ein dankbares, müdes Lächeln zu.

Als ich seinen Seitenblick bemerkte, wusste ich, dass die Entscheidung wieder einmal bei mir lag. Nur warum? Warum taten Louis und Luke das? Warum ließen sie mich über ihr Leben entscheiden? Warum ließen sie mich auch noch eine so wichtige Entscheidung treffen, ohne dabei an sich zu denken?

Ich seufzte und sah dann Mr. Newman an. Mr. Newman, der mir gleich an meinem zweiten Tag an der Elementaria einen Verweis verpasst hatte. Mr. Newman, der mich bereits in meinem ersten Jahr in den Wächterkreis aufnehmen wollte.

„Viel Glück", war das einzige, was er zu mir sagte, als er jetzt auch mir zunickte.

Bevor ich mich in irgendeiner Art und Weise bedanken konnte, hörte ich plötzlich eine bekannte Stimme hinter mir meinen Namen rufen und drehte mich überrascht um.

Wild und ungestüm kam Zoey auf mich zugerannt, während ihre hellblonden Haare, die sie wieder zu Zöpfen geflochten hatte, hin und her flogen. Gemächlich liefen Lisa und Jeremy Hand in Hand hinter ihr her und schon von weitem konnte ich sehen, dass es Jeremy und Zoey wohl Mühe gekostet hatte, Lisa aus dem Bett zu bekommen. Und wenn man die Uhrzeit beachtete, bezweifelte ich, dass es daran lag, dass Lisa unbedingt hatte weiter schlafen wollen wie ein Stein, wie sie es immer tat.

„Lily, warte!", schrie Zoey mir etwas zu laut zu, wenn man bedachte, dass es nach 14 Uhr war.

Und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass Zoey keine Ahnung davon hatte, dass ihre Freundin tot war, als sie mich so stürmisch umarmte, dass ich beinahe nach hinten umflog.

Ihr Grinsen trotz dieses traurigen Umstands versetzte mir einen Stich. Wir versuchten alle, in Anbetracht der Situation, das Ganze zu verdrängen, doch Zoey war darin offensichtlich eine Meisterin. Und trotzdem erkannte ich, dass ihre Zöpfe heute nicht ganz so akkurat geflochten waren wie sonst, und auch ihre grauen Augen leuchteten nicht so sehr.

„Ihr wolltet doch nicht etwa gehen, ohne euch von uns zu verabschieden!", beschwerte sich meine jüngere Freundin und ließ mich widerwillig wieder los, um Louis und mich vorwurfsvoll anzusehen.

„Könnte daran liegen, dass ihr nirgends aufzufinden wart", gab ich zurück und bemerkte, dass mir das aufgesetzte Grinsen nicht halb so gut gelang wie Zoey.

Lisa, die in uns in diesem Moment ebenfalls erreicht hatte, versuchte es gar nicht erst. Die Schatten unter ihren Augen sahen beinahe aus wie angemalt, woraus ich schloss, dass wohl tatsächlich nicht jeder die Technik mit dem Verdrängen beherrschte.

Langsam ging ich auf sie zu, dann schlang ich die Arme um sie. „Wehe, du kommst auch nicht wieder", murmelte Lisa an mein Ohr.

Könnte sich als schwierig herausstellen. Sie hatten mich schließlich hier rausgeworfen. Also eher unwahrscheinlich. Trotzdem versprach ich ihr, dass wir uns definitiv irgendwann wieder sehen würden. Und ich selbst wollte auch daran glauben.

Ich wusste nicht, wie lange wir in etwa so dastanden, aber irgendwann ließ Lisa mich tatsächlich los. Mittlerweile hatten sich auch die anderen verabschiedet und Louis drängte zum gefühlt zehnten Mal, dass der Taxifahrer es nicht lustig finden würde, wenn er zu spät kam. Und falls dieser Henry hieß, musste ich meinem Cousin da sogar recht geben.

„Louis, es ist doch erst halb drei! Wir haben noch Zeit!", versuchte ich, ihn zu beruhigen, aber offensichtlich sah er das anders.

Die Tatsache, dass wir ursprünglich 14 Uhr aus dem Internat sein mussten, ignorierte ich bei meiner Aussage. Und sowieso: Wir standen ja nur auf dem Schulhof. Im Internat waren wir nicht mehr.

„Er hat recht, wir müssen gehen. Mrs. Smith beobachtet uns durch das Fenster wie ein Racheengel und wenn wir nicht gleich verschwinden, enden wir als Adventskerzen", pflichtete Luke Louis bei und zog mich schließlich ohne Vorwarnung und ohne, dass ich mich vergewissern konnte, ob Mrs. Smith tatsächlich aussah wie ein Racheengel, einfach mit sich. Und soweit ich wusste, gab es vier Adventssonntage und wir waren nur zu dritt.

Ich warf noch einen kurzen Blick über die Schulter, um meine Freunde und Mr. Newman noch einmal zuzulächeln und zu winken. Doch als ich sah, dass Lisa weinte, wandte ich mich ab, da ich befürchtete, dass mir sonst selbst die Tränen wieder weglaufen würden.

Und dann waren wir hinter einem Baum verschwunden. Beinahe den ganzen Weg zum Tor und damit Ende des Internatsgeländes schwiegen wir alle. Zumindest, bis es mir zu viel wurde und ich die Tränen, die wieder aufsteigen wollten, spürte.

„Ich hab mich entschieden", sagte ich mit einer ein wenig zu festen Stimme, als dass sie nicht gestellt sein könnte.

Verwirrt drehte Luke, der mich immer noch halb hinter sich herzog, sich um und zog irritiert eine Augenbraue nach oben. Etwa zeitgleich mit Louis' verständnislosem „Wie jetzt?" Einmal mehr fiel mir auf, wie ähnlich sich die beiden waren.

Ich seufzte. „Ich werde mich von dem Ganzen hier fernhalten", gab ich meine Entscheidung kund, ohne direkt auf die Frage einzugehen. „Es...wächst mir einfach über den Kopf", gab ich dann zu, bevor ich ganz kurz stehenblieb, um die beiden Jungen nacheinander scharf zu mustern, die sich jetzt beide zu mir umdrehten, „Und ihr werdet ebenfalls selbst darüber nachdenken! Benutzt euer Hirn!"

Lukes Augenbraue wanderte beim letzten Satz noch ein Stück weiter nach oben, doch es antwortete mir keiner.

„Ich weiß ja, dass es egoistisch ist, aber...", wollte ich hastig weiterreden und strich mir nervös eine Haarsträhne hinters Ohr. Ja. Es war sogar unglaublich egoistisch, Lisa und Zoey genau jetzt alleine zu lassen - nicht wissend, ob ich sie wieder sehen würde.

„Lily!", unterbrach mich Luke, sodass ich augenblicklich die Klappe hielt und ihn vorsichtig ansah, „Ich bin immer für dich da! Und zwar egal, was du tust! Und das ist auch der Grund, warum ich dich die Entscheidung treffen lasse! Ich stehe hinter dir! Du hast das hier nicht verdient, aber du sollst trotzdem selbst entscheiden, ob du das genauso siehst oder nicht!"

Ich blinzelte, doch bevor ich antworten konnte, fiel mir auch Louis ins Wort. „Und du darfst jetzt egoistisch sein. Es ist dein gutes Recht", fügte er hinzu, nachdem er Lukes Aussagen einzeln jeweils mit einem zustimmenden Nicken bestätigte, „Außerdem...hätte ich die gleiche Entscheidung getroffen."

Mittlerweile waren wir am Tor und gleichzeitig am Eingang des, durch den ich damals gerannt war, nachdem ich von Nicks wahrer Natur erfahren hatte, angekommen. Durch genau diesen Wald würden wir auch jetzt gehen müssen. Luke hatte auf eine genaue Wegbeschreibung Louis' verzichtet, da er seiner Meinung nach noch jeden einzelnen Winkel kannte.

Mit dem Hindurchschreiten des Tores nun auch das Schulgelände verlassen, sodass ich erneut stehenblieb.

Da die Emotionen in mir erneut verrücktspielten - vermutlich eine Mischungsreaktion auf die Aussagen der beiden Jungen und der Tatsache, dass ich endlich das Gebiet des Internats hinter mich gelassen hatte -, gab ich mich seufzend mit einem leisen „Okay" geschlagen.

Dann schwiegen wir alle und starrten einfach nur wortlos zu Boden.

„Tja..." Louis seufzte schließlich und brach damit die aufkommende Stille. „Ich geh dann mal...", verkündete er, bevor er auf mich zukam und mich urplötzlich an sich drückte wie ein verloren geglaubtes Plüschtier. „Pass auf, dass Luke keinen Scheiß macht. Und pass auf dich auf, Cousinchen."

Ich musste schlucken. Die Stimme meines Cousins klang wie aus einer Werbung für Hustenbonbons entsprungen, doch trotzdem lächelte er. Es war ein schwaches, trauriges Lächeln, aber er lächelte. „Du auch", murmelte ich leise, bevor er mich losließ.

Für einen kurzen Moment schien es, als würde Louis angestrengt über irgendetwas nachdenken, denn sein Blick wurde ernst und war in die Ferne gerichtet. Im nächsten Augenblick erwachte er aus seiner Starre, drehte sich um, lief ein paar Schritte und blieb schlussendlich vor Luke stehen.

Ich hielt die Luft an und wechselte angespannt mein Standbein. Fehlte nur noch, dass ich nervös anfing, auf der Stelle zu laufen. Was hatte er vor?

Luke hob jetzt den Kopf, während ich mir vorkam, wie in einem Film. Für ein paar Sekunden, die mir eher schienen wie Minuten, blieb die Zeit stehen. Und mein Herz auch. Ob das an der Anspannung oder Lukes Blick lag, wusste ich auch nicht.

„Danke, Luke. Ehrlich. Ich weiß, dass ich ohne dich...drei Meter tiefer wäre, also... Danke", brach Louis schließlich die unerträgliche Stille und seine Stimme klang dabei mehr wie ein Flüstern. Aber er meinte es ernst, das war nicht zu überhören.

Die gesamte Anspannung des kurzen Moments fiel mit einem Mal von mir ab und in mir breitete sich eine ungewöhnliche Wärme aus. Wie lange hatte es gedauert?

Eine Weile sah Luke Louis einfach nur an. In seinem Blick spiegelte sich Überraschung und gleichzeitig eine unbeschreibliche Erleichterung. Dann nickte er, als wollte er sagen: „Und ich würde es jederzeit wieder tun."

„Und tu mir den Gefallen und pass auf meine Cousine auf", fügte Louis hinzu und rang sich tatsächlich ein ehrliches Lächeln ab. Sollte ich nicht ursprünglich auf Luke aufpassen?

Ganz kurz, für den Bruchteil einer Sekunde, hoben sich Lukes Mundwinkel zu einem Grinsen und in diesem Moment musste auch ich unwillkürlich lächeln. Zum ersten Mal seit Jessies Tod fühlte ich mich irgendwie glücklich.

Und dann erstarb mir das Lächeln auf den Lippen und war so schnell verschwunden, wie es gekommen war. Urplötzlich verfinsterte sich mein Blick und ich presste die Lippen zusammen. Denn was ich sah, war überhaupt nicht zum Lächeln. Eher zum Schreien und Wild-um-sich-schlagen.

„Endlich alle drei zusammen", bemerkte eine mir nur allzu bekannte Stimme und das süffisante Grinsen brauchte ich gar nicht sehen, um zu wissen, dass es da war.

Und obwohl ich Nick bereits gesehen hatte, zuckte ich unbewusst zusammen, als wäre ich vom Blitz getroffen worden. Wortwörtlich. 

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Hehe xD Cut ^^ Mir war gar nicht mehr bewusst, dass ich so einen wundervollen Cut hier hatte *Denker* Das Witzigste ist, dass ihr jetzt bis zur Lesenacht (Infokapitel folgt sofort) warten müsst xD Aber keine Sorge...so viel Zeit, dass ihr alles vergesst, liegt echt nicht dazwischen ^^

Das letzte Kapitel vor der Lesenacht widme ich meiner wunderbaren Testleserin Ary-Lu! Danke, dass du dir immer so viel Zeit für mich nimmst!

Tschüsssss ^-^

Over and out.

Elena.

PS: Verpasst es nicht! 😏

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