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Als Mrs May die schwere Holztür zum Büro der Heimleiterin öffnete, war diese gerade dabei einen edel aussehenden Brief zu lesen.
"Mrs Grey, wir müssen etwas wegen Victoria machen! Es war schon wieder so ein... Vorfall. Sie hat drei der Jungs Schmerzen zugefügt... Und das Schlimmste daran, sie hat nichts gemacht. Wir müssen wirklich etwas tun!" redete sie drauf los.
Mrs Grey, die am Anfang gar nicht bemerkt hatte, dass jemand in ihr Büro gekommen war, sah noch ein wenig erschrocken aus, sagte mit ruhiger und sanfter Stimme: "Beruhige dich erstmal, Cathy. Obgleich ich nicht verstehe, was du mit 'Sie hat nichts gemacht' meinst, würde ich sagen, die Kleine und somit auch die ganzen Vorfälle sind nicht mehr unser Problem."
"Aber... Warte, was meinst du mit 'nicht mehr unser Problem'?" fragte Mrs May die Heimleiterin, die nun endlich den Brief weggelegt hatte, den sie währemd der ganzen bisherigen Unterhaltung gelesen hatte und erklärt dann:
"Dieser Brief ist von einem Professor Dumbildar...Dobldor?
Keine Ahnung. Aufjedenfall ist er der Direktor eines Internats für besondere Kinder und schreibt, dass Victoria dort einen Platz hätte und dass er sie gerne zu sich an eben dieses Internat holen würde.
Anscheinend sind ihre Eltern ebenfalls an das Internat gegangen und haben ihr somit einen Platz... reserviert.
Morgen, an ihrem Geburtstag will er kommen und mal mit uns und ihr sprechen. Übermorgen ist wohl Schulanfang. Wir sind sie also frühestens Morgen nachmittag los."
Triumphierend sahen sich die zwei alten Frauen an, die nun nicht nur ein Problem weniger, sondern auch noch ein Bett mehr hatten.
***************
Victoria saß auf ihrem Bett-und weinte. Zum ersten Mal in ihrem Leben, seit sie sich erinnern konnte, weinte sie. Sie hatte Angst, Angst davor, dass dieser jemandder sie untersuchen wird, herausfindet, was sie wirlich war-ein Freak.
Das erste Mal hasste sie das was sie konnte, hasste sich dafür, dass sie es konnte. Sie wollte einfach normal sein. Freunde haben, eine Familie.
Doch das blieb ihr wohl verwährt. Als würde irgendeine böse Macht verhindern wollen, dass das kleine Mädchen glücklich war. Als schließlich die letzte, salzige Träne aus den vom weinen roten Augen Victoria's über ihre Wange lief und der leise tickende Wecker auf ihrem Schreibtisch eine Minute nach Mitternacht zeige, lächelte sie und murmelte:
"Happy Birthday, Vici."
Einige Augenblicke später schlief sie ein.
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Einige, durch das dreckige Fenster getrübte Sonnenstrahlen fielen in das Zimmer, in dem Victoria nun schon ihr gesamtes Leben verbracht hatte
Die einzigen Möbel darin waren ein kleines, unbequemes Bett aus Holz, das aussah, als wurde es schon von den Gründern des Waisenhauses benutzt worden, ein alter Schreibtisch mit einem zu kurzen Bein und ein noch älteren Holzschrank, in den kaum etwas hinein passte.
Ihre pechschwarzen, glatten Haare waren wie ein Schleier auf dem im Gegensatz weißen Kissen verteilt. Sie waren stets glänzend, wirkten dabei aber nie fettig.
Victoria mochte sie wirklich sehr, Keines der anderen Kinder hatte so schwarzes Haar. Und obwohl diese Tatsache sie nur erneut anders machte, das war ihr egal.
Langsam öffnete sie die Augen, stieg lautlos aus ihrem Bett, und machte sich schleichend auf den Weg aus ihrem Zimmer und zu dem großen Gemeinschaftsbad des Mädchengebäudes, immer darauf bedacht, so leise zu sein wie möglich, um niemanden zu wecken.
The Grey Orphanage war einst ein reines Waisenhaus für Mädchen mitten in London, doch vor vielleicht 15 Jahren wurde ein alter, unbenutzter Gebäudeteil renoviert und die neu aufgenommenen Jungs zogen dort ein. Was den Nachteil hatte, dass bei ihnen alles schöner und neuer war, und auch jedes Schlafzimmer und jeder Schlafsaal ein eigenes Bad hatte.
Die rund 60 Mädchen mussten sich dagegen eines Teilen, dass so aussah, und so roch, als wäre es schon bevor das Waisenhaus überhaupt gebaut wurde, benuzt worden.
Victoria hatte Glück. Um diese Uhrzeit war natürlich kaum jemand wach, folglich war niemand im Bad. Verschlafen putzte sie sich die Zähne, wusch sich das Gesicht, und kämmte sich unnötigerweise die sowieso immer ordentlich aussehenden Haare.
Heute war der 1. August 1991.
Victorias elfter Geburtstag.
Und wie jedes Jahr wird sie ihn allein verbringen. Nein, dachte sie, und ein Schauer lief ihr über den Rücken, nicht alleine. Mit einem Professor wie ihr gestern Abend noch mal ausgerichtet wurde.
Eines der älteren Mädchen hatte ängstlich an ihre Tür geklopft und bekam noch mehr Angst, als sie sah, dass das sonst so emotionslose Mädchen tatsächlich weinte. Das ältere Mädchen, Victoria meinte sich erinnern zu können, dass sie Mary hieß, redete irgendwas davon, dass Mrs May ausrichten lässt, es würde heute ein Professor zu Victoria kommen.
Und Professor war so eine Art Doktor, redete Victoria sich ein. Gerade als sie aus dem Bad raus gehen wollte, kam eine Gruppe Mädchen zwischen 14 und 15 in das Bad. Darunter auch Mary, die den andern gerade etwas erzählte:
"...wirklich geweint! Stellt euch das mal vor. Und wie ängstlich der kleine Freak aussah, als ich ihr die Nachricht von der alten May überbracht habe. Das hättet ihr..."
Sie stoppte jäh, als sie sah, wer vor ihr stand. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck, und auch die anderen der Gruppe wurden nervös als sie Victoria vor sich sahen. Diese zeigte keine Gefühlsregung auf ihrem puppenartigen Gesicht.
Eins der Mädchen, Nancy, trat mutig vor. "Du machst uns keine Angst, du Freak!", spottete sie, "Und jetzt geh uns aus dem Weg."
Ein kaltes, ironisches Lächeln breitete sich auf Victorias Gesicht aus und ruhig erwiderte sie: "Ich hatte auch nicht die Absicht, euch Angst zu machen, was denkst du von mir, Nancy? Und nicht ich stehe euch im Weg, sondern ihr mir. Ich wollte gerade rausgehen.
Und wenn du nicht das gleiche Schicksal teilen möchtest wie dein Freund Andrew, dann beweg deinen zu breit geratenen Körper von der Tür weg und lass mich raus."
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