7
Freya
Auf den Schulfluren und in den Klassenzimmern hörte ich es regelmäßig.
Ace und ich waren im Volksmund als Die Zwillinge bekannt. Dabei gab es noch andere Zwillingspaare an unserer Schule, sogar in unserem Jahrgang, aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund, waren wir Die Zwillinge und sobald diese Bezeichnung fiel, schien jeder zu wissen, dass wir gemeint waren. Sogar der Kunstlehrer, der Anfang des Jahres neu an unserer Schule angefangen hatte, hatte uns nach zwei Wochen als Die Zwillinge gekannt.
Offenbar gab es in den Köpfen der Leute nicht nur Ace oder mich. Es gab nur Ace und mich. Wir waren eine Person, wie es schien. Das ärgerte mich manchmal, aber vermutlich hatten wir uns das selbst zuzuschreiben. Wir saßen im Unterricht nebeneinander, schrieben dieselben Noten, beteiligten uns selten am Geschehen in den Pausen, aßen nur zu zweit zu Mittag und hatten keine engen Freundschaften in der Schule. Eigentlich hatten wir gar keine Freundschaften. Höchstens lose Bekanntschaften.
Trotzdem, Die Zwillinge fand ich beleidigend. Manche Lehrer besaßen immerhin noch genug Anstand, um uns Die Catrell Zwillinge zu nennen, und damit die anderen Zwillinge an unserer Schule nicht völlig außen vor zu lassen.
Schlimmer noch fand ich aber die Leute, die mich und Ace als Die Catrells bezeichneten. Es klang, als wären Ace und ich verheiratet und ich übergab mich jedes Mal beinahe.
Und genau diesen Spitznamen verwendete unser Chemieprofessor, als er unsere Klasse für ein Projekt in Pärchen einteilte. Über seine Liste gebeugt murmelte er die Namen vor sich hin, bis er zum C kam, was nicht lange dauert.
„Atkins und Abernathy, Barnes und Cat-..., Moment, die Catrells lassen sich nicht trennen, also Barnes und Graham, die Catrells, dann Keegan und..."
Ace hakte sich zufrieden grinsend bei mir ein, während ich das Gesicht verzog. „Die Catrells", murmelte ich angewidert.
„Ziemlich ekelhaft", sprach er meinen Gedanken aus. Es störte mich nicht, dass ich mit meinem Bruder eingeteilt wurde. Es war praktisch, ein Schulprojekt mit jemandem ausarbeiten zu müssen, mit dem man sich nicht extra nach dem Unterricht verabreden musste.
Aber gleichzeitig war Ace nicht der motivierteste Schüler, zumindest nicht in Chemie, und wie so oft, blieb auch an diesem Nachmittag die Vorbereitung und Planung für unser Projekt an mir kleben, während er alles im Wohnzimmer spannender zu finden schien als meine Vorschläge.
„Wir haben noch massenhaft Zeit", meinte er und ließ seinen Kopf rückwärts über die Lehne des Stuhls hängen, um mich anzusehen. Ich saß mit meinem Laptop vor mir auf der Couch und versuchte ein Grundkonzept zu erstellen, während er am Esstisch saß und kalte Lasagne löffelte.
„Das Projekt muss in drei Wochen fertig sein."
„Massen-haft", wiederholte er, zog sich das Haargummi aus seinen schulterlangen Locken und ich verdrehte die Augen.
„Wir müssen einen Projektplan ausarbeiten, ein Arbeitsprotokoll von fünf Seiten schreiben, eine Präsentation vorbereiten und eine Zusammenfassung als Informationszettel für die Klasse schreiben."
Ace überschätzte mich. Es machte mir nichts aus, ihm bei Prüfungen den Arsch zu retten, weil er nicht gelernt hatte. Ich lernte schließlich auch nie. Aber das bedeutete nicht, dass ich ein so umfangreiches Projekt, das einen bedeutenden Teil unserer Jahresnote ausmachen würde, in zwei Tagen aus dem Ärmel schütteln konnte.
„Wir könnten was explodieren lassen", schlug er vor und ich verdrehte die Augen.
„Ihr wollt etwas explodieren lassen?", fragte Trish, die gerade die Treppen herunterkam. „Aber bitte nicht in unserem Haus."
Ace spannte das Haargummi über seine Finger, zielte und schoss mich ab.
„Wir werden gar nichts explodieren lassen", knurrte ich und schoss das Haargummi kräftiger zurück. Er wehrte es grinsend ab.
„Wir setzen dich einfach vor der Klasse auf ein Podest und ich nerv dich so lange, bis du explodierst", schlug Ace grinsend vor.
„Ich explodiere gleich, wenn du mir nicht sofort hilfst!"
„Dann aber Hand hoch", murrte Dee, die ihre Finger in den Haaren vergraben hatte und mit einigen Notenblättern am Flügel ihrer Mutter saß. „Wer muss in einem Monat ein fünfminütiges Stück komponiert haben und der ganzen Klasse vortragen, damit das Beste gewählt wird, um gegen Ende des Jahres vor der ganzen Schule gespielt zu werden?" Sie reckte den Arm in die Luft und ließ ihn dann frustriert auf die Tasten fallen. Ein schiefer Klang erfüllte das Wohnzimmer für ein paar Sekunden.
„Selbst schuld", gab ich ungerührt zurück. „Keiner hat dich gezwungen auf eine Musikschule zu gehen."
Es war eine Frechheit, dass sie sich beschwerte. Dee hatte massenhaft Talent von Trish geerbt. Und selbst wenn sie das nicht hätte: Ihre Fähigkeit, die Menschen für sich zu gewinnen, genügte, dass sie fünf Minuten auf ein und dieselbe Taste hätte hauen können und trotzdem als die beste Komponistin gewählt worden wäre.
Natürlich funktionierte ihre Gabe nicht ganz so simpel und wir versuchten sie immer noch genauer zu ergründen, aber im Grunde genommen benahmen sich die Menschen in ihrer Gegenwart anders. Sie taten alles, um Dee zu geben, was sie in ihren Augen verdiente, was sie in ihren Augen brauchte, damit es ihr gut ging.
Das trug manchmal skurrile Früchte mit sich. Dee, Ace und ich waren einmal in der Stadt bummeln gewesen und an einem Obdachlosen vorbeigekommen, der an einer Flasche Vodka genuckelt hatte. Er hatte Dee erblickt und war uns ganze sieben Blocks hinterhergerannt und hatte versucht, Dee seine Flasche anzudrehen, weil er der festen Überzeugung gewesen war, dass es ihr damit besser ginge. Dee war dreizehn gewesen und hatte zu weinen angefangen, weil wir damals noch nicht gewusst hatten, dass sie eine Sirene war.
Ihre Gabe wirkte sich nicht bei allen Menschen gleich aus. Manche mussten sie nur ansehen und lagen ihr zu Füßen, andere wurden kaum von ihr beeinflusst, aber eines stand fest: Es gab nicht einen Menschen auf dieser Welt, der Dee nicht mochte. Es war ihnen unmöglich, Dee nicht zu mögen. So, wie es einem Verliebten nicht möglich war, sich einfach so zu entlieben, zumindest hatte mein Bruder es einmal damit verglichen.
Ich war noch nie verliebt gewesen, deshalb konnte ich das nicht beurteilen.
Träge ließ Dee ihre schlanken Finger über die Tasten des Flügels gleiten, ließ aber irgendwann den Kopf fallen. „Mom!", jammerte sie. „Ich kann das einfach nicht, hilf mir."
„Inspiration kann man nicht erzwingen", entgegnete Trish, die sich zu Ace gesetzt hatte und ebenfalls von der Lasagne naschte, die Dad gestern gekocht hatte.
„Die Deadline interessiert sich aber nicht sonderlich für meine Inspiration."
Trish schmunzelte. „Du schaffst das schon. Mach ein paar Tage Pause von dem Stück und versuch, nicht dran zu denken. Geh raus, lies ein Buch, schau dir einen Film an oder mach sonst was. Aus einem leeren Tank kann man nichts schöpfen. Und weißt du, was Inspiration am meisten vergrault? Druck. Inspiration hat Angst vor Druck und versteckt sich vor ihm."
Dee seufzte tief, dann nickte sie, sammelte die Notenblätter ein und ließ den Deckel auf die Tasten sinken.
Nachdem sie geknickt auf ihr Zimmer verschwunden war, wandte ich mich noch einmal zu Ace um. „Und was ist nun mit unserem Projekt? Wir brauchen eine Idee!"
Er wischte sich den Mund mit einer Serviette ab, streckte sich, trank einen Schluck Sprite und drehte sich dann zu mir. „Weißt du... Druck ist das Kryptonit der Inspiration."
Ich funkelte erst ihn und dann Trish zornig an. „Herzlichen Dank!", blaffte ich sie an, als Ace sich neben mich auf die Couch warf und den Fernseher einschaltete. Trish räumte grinsend den Tisch ab und ich klappte wütend meinen Laptop zu und verschwand ebenfalls auf mein Zimmer.
Am Abend brachte Onkel Aidan Ally vorbei. Sie übernachtete bei mir und während die Erwachsenen im Wohnzimmer lachten und Ace und Dee im Garten an unserem Pool lagen und höchstwahrscheinlich Druck vermieden, saßen meine Cousine und ich auf meinem Bett und löffelten Ben&Jerry's. Ich aß dieses Eis oft, seit Onkel Aidan mir vor ein paar Jahren erzählt hatte, dass es das Lieblingseis meiner Mom gewesen war. Eigentlich mochte ich Süßes nicht wirklich. Ab und zu war es ganz nett, aber ich gehörte nicht zu den Menschen, die bei jeder Gelegenheit Eiscreme aus der Packung löffelten. Oder einfach den Deckel eines Glases Schokoladencreme aufschraubten und den Löffel darin versenkten, so wie Trish.
Aber ich tat gerne Dinge, von denen ich wusste, dass meine Mom sie auch getan hatte. Ich fühlte mich ihr dadurch irgendwie näher, auch wenn ich wusste, dass es eigentlich nicht so war. Die Distanz zwischen uns konnte ich nicht mit Eiscreme überwinden.
„Und? Hast du aus deiner Mom schon herausquetschen können, wer der Mann im Schloss war, vor dem sie dich verstecken wollte?", fragte ich. Ally hatte mir zwar nicht davon erzählt, aber dass Ace mir alles erzählt hatte, hatte sie sich bestimmt denken können, deshalb war sie nicht überrascht, als ich es ansprach.
„Ja und nein", sagte sie.
„Was ist das denn für eine Antwort?"
Ally tauchte den Löffel ins Eis. „Ich hab Mom und Dad vor ein paar Tagen streiten hören."
„Wie ungewöhnlich", entgegnete ich sarkastisch.
„Manchmal wünschte ich, die beiden würden sich trennen...", murrte Ally zustimmend und ein düsterer Ausdruck breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Sie halten es ja kaum fünf Minuten allein in einem Raum aus, ohne dass sie zu streiten anfangen. Was soll das Ganze überhaupt noch?"
Ich nickte. „Ja..." Ich konnte mich auch nicht daran erinnern, wann ich Tante Beverly und Onkel Aidan das letzte Mal zusammen gesehen hatte. Genau in diesem Augenblick war Tante Beverly mit Finn zu Hause und Onkel Aidan war mit Ally hier und ich war mir nicht sicher, ob er nicht auch über Nacht in unserem Gästezimmer bleiben würde.
Dabei wusste ich gar nicht, worüber die beiden immer stritten. Getrennt voneinander waren beide ruhige, witzige Menschen, die ich wirklich gerne um mich hatte. Sie waren auch nicht immer miteinander auf Kriegsfuß gewesen. Als ich noch klein gewesen war, waren die beiden wirklich glücklich miteinander gewesen. Zumindest hatten sie so gewirkt. Ich wusste noch, wie gerne sie auf mich und Ace aufgepasst hatten, besonders Onkel Aidan, bevor die beiden Ally bekommen hatten.
Doch eines Tages, vor ungefähr fünf Jahren, hatten Dad, Ace und ich Tante Beverly und Onkel Aidan besuchen wollen. Als wir aus dem Auto ausgestiegen waren, hatte sie im Garten vor dem Haus gestanden und mächtig mit Ally und Finn geschimpft. Finn war erst vier Jahre alt gewesen. Es war nicht die Art von Ärger gewesen, die man bekam, wenn man etwas kaputt gemacht hatte. Es war die Art von Ärger gewesen, die man bekam, wenn man sich auf dem Parkplatz von der Hand seiner Eltern losriss und fast vor ein Auto lief.
„Wie oft muss ich euch das noch sagen?", hatte sie geschimpft und ich erinnerte mich daran, dass ich Angst vor Tante Bev bekommen hatte. „Wenn euch etwas seltsam vorkommt, sagt ihr es mir! Wenn euch jemand anspricht, den ihr nicht kennt, sagt ihr es mir! Und wenn verdammt noch mal eine fremde Frau bei uns im Garten auftaucht, die ihr noch nie gesehen habt, dann sagt ihr es mir!"
Sie hatte unser Auto bemerkt, ihrer und Dads Blick hatten sich gekreuzt und beide hatten uns fast zeitgleich ins Haus gescheucht und unter vier Augen über das gesprochen, was passiert war. Ich hatte Ally damals gefragt, was sie ausgefressen hatte, aber sie hatte gemeint, dass sie sich nicht sicher war. Sie und Finn hatten im Garten gespielt und eine nette, hübsche Frau sei an den Gartenzaun herangetreten und hätte sich ein wenig mit den beiden unterhalten. Eigentlich kein Grund, so sehr auszurasten, hatte Ally gefunden und Ace und ich hatten ihr zugestimmt.
„Eltern machen sich immer viel zu viele Sorgen", hatte mein Bruder abgewinkt.
Doch kurz darauf war Tante Bev für zwei Monate verreist. Ich war mir nicht sicher, wo sie in der Zeit gewesen war, aber ich hatte auch nie gefragt.
Danach war nichts mehr so harmonisch gewesen, wie ich es gekannt hatte.
„Was hast du denn nun gehört?", fragte ich Ally, die ihren Blick im Eis festgekrallt und schon fast die halbe Packung leer gefuttert hatte.
„Nur einen Namen. Viggo."
„Viggo? Was für ein seltsamer Name..."
„Er kommt aus Dänemark", murmelte sie, den Mund voller Eis. „Glaube ich. Er war einmal für kurze Zeit der Vorsitzende des Consiliums. Aber das ist lange her."
Das Consilium war der unfassbar kreative Name für den engsten Kreis von Hexen und Zauberern, die alle möglichen Entscheidungen trafen und Gesetze bestimmten. So ähnlich wie das Weiße Haus, denke ich. Alles, was ich über das Consilium wusste, war, dass Tante Beverly es hasste. Sie sagte immer, dass das Consilium meinte, ein Recht auf sie und ihre Kinder zu haben, weil sie nun einmal hexen konnten, und das ärgerte sie.
Ich zog die Augenbrauen zusammen. „Und sonst weißt du nichts über diesen Mann?"
Sie schüttelte nachdenklich den Kopf und schob sich eine braune Haarsträhne hinters Ohr. „Ich glaub, meine Mom war einmal mit seinem Sohn verlobt... oder verheiratet... oder irgendetwas."
„Deine Mom war vor Onkel Aidan verlobt? Oder verheiratet?"
Ally nickte. „Ja, aber das war nur arrangiert. Arlen hat sich da Mal verplappert und mir das erzählt."
„Wow..."
Sie legte den Löffel beiseite und betrachtete mich nachdenklich. „Ich könnte es Mal bei Lorcan probieren. Vielleicht erzählt er mir ja etwas..."
„Glaubst du?" Ich zuckte mit den Schultern und legte meinen Löffel neben ihren. „Naja, versuchen kannst du es ja..."
Dann begann sie an ihren Handschuhen herumzuzupfen und sah plötzlich sehr besorgt aus. „Freya?"
„Hm?"
Sie schluckte. „Kennst du das Gefühl..., dass bald etwas Schlimmes passieren wird? Etwas richtig Schlimmes?"
„Was ist denn richtig schlimm? So schlimm wie... die Nacht, in der... na, du weißt schon." Ich sah auf ihre Hände. Mir lief ein Schauer über den Rücken.
Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. „Keine Ahnung. Aber ich spüre, dass mich nichts Gutes erwartet. Keinen von uns. Und das macht mir Angst."
~~ ~~
Es war das erste Mal gewesen, dass Ace und ich bei den Erwachsenen hatten sitzen dürfen. Draußen in Bakersfield in Tante Bevs und Onkel Aidans Haus. Es war eine angenehme Sommernacht gewesen. Dad hatte mir und Ace sogar erlaubt, ein Viertelglas Wein mitzutrinken. Das Licht hatte sich im Pool gespiegelt. Es hatte magisch ausgesehen, oder vielleicht hatte mich der Wein das denken lassen. Ace und ich hatten mit den Gesprächen der Erwachsenen nicht viel anfangen können, sie hatten uns sogar gelangweilt, aber wir waren endlich dabei gewesen, das war aufregend genug gewesen, um uns nicht zu beschweren, dass wir wieder nach Hause wollten. Wir hatten auf einer der Poolliegen gesessen, Karten gespielt und an unseren Getränken genippt, die uns nicht einmal sonderlich gut geschmeckt hatten, aber Dad erlaubte uns so selten coole Sachen, weshalb wir auch dazu im Traum nicht nein gesagt hätten.
Irgendwann gegen Mitternacht war Finn in seinem weißen Schlafanzug mit den vielen Raketen darauf, barfuß zu uns in den Garten getapst, weil er einen Alptraum gehabt hatte. Er hatte sich müde die Augen gerieben und Tante Beverly hatte ihr Glas zur Seite gestellt, eine dünne Couchdecke aus dem Wohnzimmer geholt, sich mit Finn auf die Gartenliege gelegt und sie beide in die Decke gehüllt.
Finn hatte sich eingekuschelt und war sofort wieder eingeschlafen, obwohl der Alkohol die Stimmen der Erwachsenen hatte laut werden lassen.
Ich hatte meinen Blick nicht losreißen können. Meine Mom hatte mich immer genauso in den Armen gehalten. Vielleicht war das ein universelles, gemeinschaftliches Mutterding, dass sie ihre Kinder alle gleich in den Armen hielten. Natürlich war ich damals wesentlich kleiner gewesen als der fünfjährige Finn, aber die Geste schien dieselbe gewesen zu sein. Ich hatte mir in diesem Moment so sehr gewünscht, dass meine Mom noch lebte und mich genauso in den Armen hielt, wie Tante Bev Finn umarmt hatte.
Ace hatte dieses Bild ähnlich wehmütig in Erinnerung. Das wusste ich, weil seine Tagträume manchmal zu meinen wurden und ich plötzlich Dinge empfand oder dachte, die nicht meinem Gehirn entsprangen. Ace' Gedanken und Gefühle von meinen trennen zu lernen, hatte mich Jahre gekostet und manchmal fiel es mir immer noch schwer, aber bei dieser Erinnerung nicht. Denn wenn ich daran dachte, dann vermisste ich Mom. Wenn Ace daran dachte, wollte ich von Trish in die Arme genommen werden.
Ich wurde immer wütend, wenn ich spürte, dass Trish in ihm dasselbe Gefühl weckte, das die Erinnerungen an Mom in mir weckten, aber ich konnte ihm deshalb nicht böse sein. Er erinnerte sich nicht an Mom. Kein Stück. Wenn es keine Fotos von ihr gäbe, wüsste Ace vermutlich nicht einmal, wie sie aussah. Einmal hatte er mir erzählt, dass er sich zwar wünschte, sie kennengelernt zu haben und genauso gerne mehr über sie erfuhr wie ich, aber sie nicht wirklich vermisste.
„Man vermisst nicht, was man nicht kennt", hatte er gesagt und ich hätte in Tränen ausbrechen können. Und als wäre all das nicht schlimm genug gewesen, hatte er mir gesagt, dass das einzige Gesicht, das ihm in den Sinn kam, wenn er an Mom dachte, Trishs Gesicht war.
Ich schlug die Türe des Schließfaches zu, ging zum Waschbecken hinüber und klatschte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Heute Abend war wieder ein Kampf angesagt und ich konnte es mir nicht leisten, Ace' Emotionen meine eigenen trügen zu lassen. Mit beiden Händen umklammerte ich das Waschbecken und starrte mein Spiegelbild düster an.
Es war alles okay. Ich war nicht sauer auf Ace. Ich war nicht sauer auf Trish. Ich war nicht sauer auf Dad. Ich war nicht sauer auf Mom.
Im Grunde genommen war ich es doch, -ich war auf die ganze Welt sauer- aber ich stieß den Atem aus, drückte mich vom Waschbecken ab und machte mich auf den Weg in die Halle. Die Luft war erdrückend. Es roch nach Schweiß und Bier. Laut war es auch, aber ich blendete all das aus. Der große, muskelbepackte, glatzköpfige Kerl, der die Kämpfe beaufsichtigte und dem (wie ich vermutete) dieser Keller gehörte, erblickte mich und ich musste ihm nicht sagen, dass ich hergekommen war, um zu kämpfen. Ich wollte immer kämpfen, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab.
Er nickte zu dem Kampfring und ich verstand es als Aufforderung, die Kämpfe von heute Abend zu eröffnen. Es wurde Zeit, meinen Bruder und seine Sentimentalität endgültig abzuschütteln, sonst würde ich mich nicht konzentrieren können und ich wollte verhindern, wieder eine verpasst zu bekommen und mit einer blutenden Nase nach Hause zu fahren.
Aber als ich im Ring stand und sah, wer mein Kampfpartner sein sollte, hätte ich viel dafür gegeben, mir das Gesicht blutig schlagen zu lassen, wenn das bedeutet hätte, dass ich einen anderen bekommen hätte. Mir gefror das Blut in den Adern und ein paar Sekunden lang, bewegte ich mich nicht einen Millimeter.
Warum? Warum hatte ich ihn heute nicht gespürt?
Auf dem Absatz kehrte ich um und stampfte an den Rand des Kampfrings, wo der Glatzkopf mit verschränkten Armen stand.
„Ich will nicht gegen den kämpfen", blaffte ich ihn an.
„Du kennst die Regeln", gab er ungerührt zurück.
Die Regeln. Beinahe hätte ich gelacht. Die einzige Regel war, dass mein Kampfpartner auf dem Boden liegen musste, wenn die Zeit rum war. Wie ich das anstellte, war völlig egal. Ob er danach noch lebte oder nicht, war vermutlich genauso egal. Aber ich hatte noch nie davon gehört, dass ich meinen Partner nicht wechseln durfte.
Doch mir blieb keine große Wahl. Ich musste diesen Kampf beginnen, denn wenn ich es nicht tat, wenn ich mich weigerte, würde der Glatzkopf mich hier nie wieder kämpfen lassen und das wollte ich nicht riskieren. Dieser Ort war die Therapie gegen die Wut, die ich seit Jahren mit mir herumschleppte und wenn ich sie nicht regelmäßig rauslassen konnte, würde Ace Vorschlag mit mir als explodierendes Chemieprojekt vielleicht doch Realität werden.
Doch wie um alles in der Welt sollte ich gegen einen ausgebildeten Jäger kämpfen? Ich konnte meine volle Stärke nicht einsetzen, weil sie nicht menschlicher Natur war, und das hätte er sofort bemerkt.
Egal, wie ich mich entscheiden würde, diesen Kampf hatte ich bereits verloren, obwohl er noch gar nicht begonnen hatte. Jetzt konnte ich mich nur noch um Schadensbegrenzung bemühen.
Ich schob meine aufkeimende Panik zur Seite, drehte mich um und begab mich wieder in die Mitte des Kampfrings. Als ich dem Jäger gegenüberstand, bemerkte ich, dass er seinen Anhänger aus Dämonenglas nicht trug. Deshalb hatte ich ihn nicht bemerkt. Was für ein amateurhafter Jäger.
Aber ob du gegen den amateurhaften Jäger im Zweikampf gewinnen wirst?
„Was für eine Überraschung", bemerkte er trocken und sein Körper nahm eine halb angriffsbereite, halb verteidigungsbereite Haltung ein. „Ich hoffe, du willst mich nicht so zurichten, wie den armen Boxsack."
Ich war mir sicher, dass er sich über mich lustig machte und das alleine schürte das Feuer in meiner Brust. Würde die Glocke ertönen und den Start dieses Kampfes für bereit erklären, würde ich diesen aufgeblasenen Jäger zu Brei schlagen.
Doch als der Gong ertönte, bewegte ich mich nicht.
„Ich dachte, du wolltest so unbedingt kämpfen", bemerkte er nach ein paar Sekunden. Ich war mir nicht sicher, ob in seinem Blick Spott oder Sorge lag. Vielleicht eine seltsame Mischung aus beidem. Ich wollte ihn nicht angreifen. Das konnte ich nicht und das lag nicht nur daran, dass ich gegen einen Jäger im Zweikampf haushoch verlieren würde.
Ich hatte noch nie gegen jemanden gekämpft, mit dem ich mich unterhalten hatte. Gut, wir hatten nur ein paar Sätze getauscht, aber ich wusste, dass er aus Portland kam. Das war mehr, als ich über jeden meiner Kampfpartner jemals gewusst hatte.
Wir umkreisten einander ein paar Sekunden. Er griff mich nicht an. Ich griff ihn nicht an. Die Menge an Zuschauern wurde unruhig.
„Warum greifst du nicht an?", fragte er spöttisch.
„Warum greifst du nicht an?", schoss ich zurück.
Er zuckte mit den Schultern und sein herablassendes Grinsen war wie ein Schlag in die Magengrube. „Ich prügle mich doch nicht mit einem Mädchen."
„Dafür allein gehört dir eine gewischt!"
„Weil ich mich weigere, ein Mädchen zu schlagen? Du könntest mir doch auch dankbar-"
Er konnte seinen Satz nicht zu Ende bringen, denn mein Körper hatte sich selbstständig gemacht und ihm einen ordentlichen Schlag gegen das Kinn verpasst. Ich hatte mich zurückgehalten und nicht mit voller Stärke zugeschlagen, aber es musste trotzdem wehgetan haben.
Er taumelte zurück, die Menge explodierte und seine Hand schoss an sein Kinn. Als er sich von seiner Überraschung erholt hatte, richtete er sich auf und sah mich empört an. „Was sollte das?!"
„Dachtest du, ich tu's nicht?"
„Du hast mir einen Schlag verpasst!"
„Wenn du keine Mädchen schlägst, wird dieser Kampf eben ziemlich einseitig", bemerkte ich lässig, obwohl es in mir brodelte.
Ich konnte sehen, wie er die Lippen zusammenpresste und seinen Kiefer anspannte, als er wieder nähertrat und die Fäuste hob.
Ich war geliefert.
Etwas an seinem Blick änderte sich. Er wirkte konzentrierter, seine Muskeln spannten sich deutlicher an und ich glaubte, dass mein letztes Stündchen geschlagen hatte. Warum hatte ich einen Jäger angegriffen? Hatte ich denn komplett den Verstand verloren? Hatte ich einen Todeswunsch von dem ich noch nichts wusste?
Aber jetzt war es zu spät für Rückzieher, also versuchte ich mein Glück gleich noch einmal mit ein paar Schlägen und Tritten -ich hielt mich zurück, benutzte nicht meine volle Stärke, aber er wehrte ohnehin jeden meiner Angriffe ab oder wich ihnen aus. Das ging ein paar Sekunden so weiter, bis ich beschloss, dass ich mit voller Stärke zuschlagen musste, wenn ich diesen Kampf gewinnen wollte. Kurz wog ich ab, ob es mir das wirklich wert war. Wenn er merkte, dass ich stärker war, als ich es hätte sein sollen, würde ihn das misstrauisch machen.
Ich warf einen raschen Blick auf die roten Zahlen auf der Anzeige, die sekündlich abstiegen. Zwanzig Sekunden, dann musste einer von uns auf dem Boden liegen, oder keiner würde gewinnen und wenn ich Pech hatte, würde der Kerl, der uns zusammen in diesen Ring gesteckt hatte, eine Verlängerung ausrufen, um die Meute milde zu stimmen.
Schließlich fasste ich einen Entschluss und ging zum Angriff über. Diesmal traf ich tatsächlich mit einem ordentlichen Tritt in seine Rippen, aber er geriet kaum ins Wanken und ich fragte mich, ob er überhaupt Schmerzen verspürte. Meinem nächsten Schlag, der sich gegen seinen Kopf gerichtet hatte, wich er blitzschnell aus, und seine Hand schloss sich um mein Handgelenk. Mit einer schnellen, flüssigen Bewegung zog er mir die Füße unter den Beinen weg und ich landete auf dem Rücken, ohne überhaupt zu begreifen, wie das passiert war.
Ich war nicht einmal aufgeprallt. Es hatte nicht einmal wehgetan. Er hatte mich nicht fallen lassen, sondern so lange festgehalten, bis ich ohnehin schon halb auf dem Boden gelegen hatte.
Der Gong ertönte erneut und ließ mich wissen, dass der Kampf vorbei war. Ich rappelte mich auf. Der Jäger hatte sich von mir entfernt und betrachtete mich mit einem Blick, den ich nicht deuten konnte. Er war nicht einmal ins Schwitzen gekommen. Ich hörte die schockierten und jubelnden Ausrufe unserer Zuschauer kaum, als ich aus dem Ring stürmte.
Ich wollte nach Hause, aber ich schaffte es kaum bis zu den Toiletten, als ich die ersten Tränen auf meinen Wangen spürte. Ich hatte versagt, total versagt. Schnell riss ich mir ein paar Lagen Toilettenpapier herunter und presste den Stoff gegen meine nassen Augen. Das letzte Mal, hatte ich mich so hilflos gefühlt, als Mom gestorben war. Und damals hatte ich noch nicht einmal wirklich begriffen, was überhaupt los war, aber als Baby hat man ja vor absolut allem Angst.
Ich konnte hören, wie die Türe aufgeschoben wurde, das Grölen der Menschen von draußen drang kurz zu mir herein, dann wurde es wieder stiller, als die Türe zufiel. Ich lauschte und irgendwann klopfte jemand gegen meine Kabinentüre.
„Hallo? Ähm... Mädchen?", drang seine Stimme durch die Türe. Ich rollte mit meinen verheulten Augen, presste beide Hände gegen meinen Mund und hielt die Luft an, um möglichst leise zu sein. Auf keinen Fall sollte er denken, dass das Mädchen, das er eben mühelos im Zweikampf besiegt hatte, gekränkt auf der Toilette hockte und heulte.
„Hab ich dir wehgetan?"
Er hatte mir nicht wehgetan. Um genau zu sein, war ich vermutlich nie unbeschadeter aus einem Duell herausgekommen. Ich hatte noch nie einen Kampf verloren. Und nun hatte mich ein Mensch besiegt, ohne überhaupt nach mir auszuholen. Diese Tatsache war niederschmetternd.
Plötzlich hörte ich ein kratzendes Geräusch auf dem Boden und als ich nach unten blickte, sah ich meine Halskette vor meinen Füßen auf den grauen Fliesen liegen. Sofort bückte ich mich und hob den Adleranhänger auf. Ich musste ihn bei dem Kampf verloren haben.
„Ich fühl mich mies", sagte er dann. „Ich kämpfe normalerweise wirklich nicht gegen Mädchen. Sowas macht man nicht..."
Wieder hätte ich ihm gerne eine verpasst. Schnell wischte ich mir das Gesicht trocken. Die Wut über seine ständigen Kommentare darüber, dass ich ein Mädchen war, verdrängten das Gefühl der Hilflosigkeit in meiner Brust und ich stieß sauer die Türe auf.
„Hör auf, mich dauernd ein Mädchen zu nennen!"
Er lehnte mit verschränkten Armen an der gegenüberliegenden Wand und blinzelte mich verwundert an. „Tut mir leid... bist... bist du keines?" Ich stieß ein verärgertes Knurren aus. „Ich dachte nur, wegen den... den langen Haaren und den..." Er deutete wage auf meine Oberweite.
„Halt die Klappe!", blaffte ich. Er presste die Lippen aufeinander und ich hasste es, dass er so belustigt aussah. „Natürlich bin ich ein Mädchen! Aber du sagst es ständig so, als würde mich das automatisch zu einem unfähigen, schwachen Menschen machen!"
Wenn er sich jetzt bei mir entschuldigte, mich zum Weinen gebracht zu haben, weil seine Mom ihm beigebracht hatte, dass man Mädchen nicht zum Weinen brachte, würde ich ihm eine scheuern. „Ständig", sagte er stattdessen.
„Ständig!", pflichtete ich ihm bei und rauschte aus dem Raum zu den Schließfächern, wo ich meine Sporttasche abgestellt hatte. Ich streifte mir die Halskette über, zog mir meine Jacke an und wollte so schnell wie möglich von hier verschwinden.
Als mein Blick wie von allein zu ihm zurückfand, merkte ich, dass seine Ernsthaftigkeit vollständig verschwunden war und er mich amüsiert musterte.
„Was ist?!"
Sein Grinsen wurde ein wenig breiter und ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte. „Wirst du nächsten Freitag Hunger haben?"
Seine Worte warfen mich vollends aus der Bahn. Und ich glaubte nicht, dass es irgendjemand schon einmal geschafft hatte, mich innerhalb kürzester Zeit so sehr zu irritieren. Nicht einmal mein Bruder. „Was?"
„Ob du nächsten Freitag Hunger haben wirst."
Langsam schüttelte ich den Kopf. Dieser Mensch wurde mir immer suspekter. „Was ist das denn für eine Frage?" Natürlich würde ich nächsten Freitag Hunger haben.
Seine Belustigung meiner Verwirrung gegenüber stieg ins Unermessliche. „Willst du mit mir was essen gehen?"
Ich trat einen Schritt zurück, als hätte er mir nun doch eine verpasst.
Das hatte seine Frage zu bedeuten? Er wollte mit mir essen gehen?! Beinahe hätte ich gelacht. Ein Jäger und ein Halbdämon treffen sich zum Dinner... das klang wie der Anfang eines schlechten Witzes.
„Ich glaube nicht", sagte ich nach einigen Augenblicken und schlug die Schließfachtüre zu.
„Warum nicht?"
„Warum willst du mit mir Essen gehen?", fragte ich zurück.
„Wenn du ein Mädchen bist, fällst du in die Kategorie der Menschen, mit denen ich unheimlich gerne essen gehe", zwinkerte er und ich funkelte ihn an.
„Tja. Bedauerlicherweise fällst du in die Kategorie der Menschen, denen ich lieber vor die Füße kotzen möchte."
„Ich nehm ein zweites Paar Schuhe mit."
„Nett. Aber ich möchte nicht mit dir Essen gehen."
„Warum nicht?", fragte er noch einmal, aber es klang nicht aufdringlich, nur neugierig. Vielleicht auch ein wenig verwirrt. Ich ging davon aus, dass er es nicht gewohnt war, dass Mädchen nicht mit ihm essen gehen wollten. Objektiv betrachtet war er jedenfalls ganz nett anzusehen.
Aber mit einem Jäger essen zu gehen stand nicht unbedingt auf meiner Bucket-List.
Er ließ die Arme sinken und wurde wieder ein wenig ernster. „Ich verschwinde am Samstagmorgen aus der Stadt."
„Okay?" Was sollte ich mit dieser Information nun wieder anfangen?
„Du siehst mich nie wieder."
„Gut."
Er stieß amüsiert den Atem aus. „Fändest du es nicht... nett, mit jemandem ein paar Stunden zu verbringen, den du danach nie wieder sehen wirst?"
Sofort wollte ich eine Antwort zurückschießen, die vielleicht beinhaltet hätte, dass ich mehr Spaß gehabt hätte, wenn ich meine Zunge in ein Wespennest gesteckt hätte.
Aber dann hielt ich inne. Seine Worte hatten meine Neugierde geweckt. Ich hatte mich noch nie verabredet. Noch nie. Ich hatte keine Freunde und auf Dates ging ich auch nicht. Mit einem fremden Menschen essen zu gehen, meine Beichte abzulegen und danach wieder getrennte Wege zu gehen klang wirklich nach einer spannenden Erfahrung.
Er merkte, dass er mein Interesse geweckt hatte und machte einen kleinen Schritt in meine Richtung. „Freitag gegen sechs? Das Burgerrestaurant vorne an der Hauptstraße gegenüber von diesem großen Bankgebäude? Wir müssen keine Nummern austauschen, keine Namen, keine Adresse. Du musst nur auftauchen."
War das ein Trick? Wusste er, dass ich ein Halbdämon war? War das eine Falle, um mich umzubringen? War ich paranoid, wenn ich nein sagte? War ich lebensmüde, wenn ich ja sagte?
„Denk drüber nach", meinte er dann. „Ich werde dort sein." Er drehte sich um, verschwand in die Halle zurück und ließ mich verwirrt stehen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top