6
Ace
Freya und ich hatten beide -wenig überraschend-, eine Eins auf den Englischtest geschrieben. Meine Schwester schrieb nur Bestnoten, dabei hatte ich sie noch nie für einen Test ihre Nase in ein Schulbuch stecken sehen. Aber solange Freya Bestnoten schrieb, schrieb ich sie auch.
„Ich weiß wirklich nicht, wie ihr das macht", sagte Ms. Mercer mit einem studierenden Lächeln und schüttelte den Kopf. „Wieder einmal fast identisch."
„Zwillingsmagie", sagten Freya und ich wie aus einem Mund und holten uns die Tests an ihrem Pult ab.
„Wir haben telepathische Fähigkeiten", schob ich vollkommen ernst hinterher und Freya versteckte ihr Grinsen hinter ihrem Testbogen.
Ms. Mercer lachte. Ich fand diese Frau zum Dahinschmelzen. „Natürlich. Freya, Ace, ich möchte dieses Semester gerne noch einmal mit eurem Vater sprechen", sagte sie, während sie ihre Unterlagen in ihre Tasche schob und Freyas Lächeln erstarb. „Richtet ihr ihm bitte aus, dass er demnächst in meine Sprechstunde kommen soll?"
„Schon wieder?", fragte meine Schwester patzig und ich packte sie unauffällig am Handgelenk, damit ihr nicht unabsichtlich etwas Dummes herausrutschte.
Reiß dich zusammen.
„Ja", sagte Ms. Mercer lediglich und Freya stieß einen verärgerten Laut aus, zerknüllte ihren Test und warf ihn bockig in den Mülleimer neben der Türe, bevor sie aus dem Klassenzimmer stampfte. Ms. Mercer sah Freya missbilligend nach und ich lächelte ihr kurz entschuldigend zu, dann verließ ich den Raum.
Bleib stehen! Ich reckte den Hals, in der Hoffnung, ihren Lockenkopf zu entdecken. Freya!
„Diese blöde Kuh", sagte sie, als ich um die Ecke bog. Sie lehnte mit verschränkten Armen an der Wand und hatte auf mich gewartet. „Wir schreiben nur gute Noten, wir arbeiten in ihrem Unterricht immer mit und wir geben unsere Hausaufgaben pünktlich ab! Was will sie denn noch?!"
„Reg dich nicht auf", sagte ich müde.
„Ich kann nun Mal nicht anders."
Ich legte einen Arm um ihre Schultern und drückte sie kurz. „Ich weiß. Komm, in der Cafeteria gibt es heute Schokoladenpudding zum Nachtisch."
An diesem Tag war Dad zur Abwechslung einmal vor uns zu Hause, stand in der Küche und bereitete das Abendessen zu. Der herrliche Geruch von Bratensoße genügte mir, um meine Stimmung anzuheben.
„Wie war die Schule?", fragt Dad.
„Ms. Mercer will mit dir reden", murrte Freya und schleuderte ihre Schuhe in eine Ecke. „Schon wieder."
„Was ausgefressen?", hakte Dad unbesorgt nach und wischte sich die Hände an einem Küchentuch ab. „Einen Test verhauen? Spickzettel umgehen lassen?"
„Nein, wie immer! Wir sind gute Schüler!"
„Dann ist ja gut. Ich werde sehen, dass ich demnächst an eurer Schule vorbeischaue."
Freya stieß einen genervten Laut aus. „Das ist so lächerlich!"
„Reg dich nicht auf", sagte Dad, in fast demselben Tonfall, denn ich heute in der Schule verwendet hatte. Wahrscheinlich hatte ich es mir sogar von Dad abgeschaut.
„Weißt du, was mich aufregt? Wenn mir ständig jeder sagt, dass ich mich nicht aufregen soll!" Sauer stampfte sie die Treppen nach oben. Dad sah ihr nach.
„Blendende Laune, wie immer. Ob diese... sagenumwobene Pubertät jemals aufhört?"
Wahrscheinlich nicht. Ich konnte mich zumindest an keine Zeit erinnern, in der Freya nicht stur und aufbrausend gewesen war.
„Ich seh mal zu, dass sie sich beruhigt", sagte ich und wollte nach oben verschwinden.
„Ace, warte einen Moment." Er kam zu mir und ich stieg die zwei Treppenstufen, die ich hinaufgetrabt war, wieder herunter.
„Was ist?"
„Du weißt nicht zufällig, was sich deine Schwester zum Geburtstag wünscht, oder?", raunte Dad.
„Wir haben doch noch gar nicht Geburtstag."
„Je früher ich mir den Kopf zerbreche, desto besser." Dad sah mich an, als müsste er sich auf den Kampf seines Lebens vorbereiten und ich musste grinsen.
„Ich werd was herausfinden."
„Aber mach es subtil! Ich will nicht, dass sie weiß, dass ich keine Ahnung habe, was ich ihr schenken soll."
„Jaja!", winkte ich ab, verschwand nach oben auf Freyas Zimmer und ließ die Türe hinter mir zufallen. Sie saß an ihrem Schreibtisch, hatte sich mit angesäuertem Gesichtsausdruck über ihre Hausaufgaben hergemacht und ich warf mich auf ihr Bett.
„Was wünscht du dir zum Geburtstag?"
„Ein Anklopfen-verdammt-nochmal Schild für mein Zimmer", murrte sie, legte den Stift weg und drehte sich zu mir. „Was wünschst du dir denn?"
Ich kniff irritiert die Augen zusammen. Normalerweise fragten Dad und Trish nur mich über Freya aus, weil meine Schwester deutlich schwerer zu beschenken war als ich.
„Wirklich?"
„Wirklich", nickte sie. „Trish hat mich schon drei Mal gefragt. Ich hab gehofft, dass ihr und Dad irgendwann von allein was einfällt. Aber das ist wohl nicht passiert."
„Ich schreib dir eine Liste. Was ist mit dir?"
„Keine Ahnung", brummte sie genervt. „Solln sie mir eine Badekugel schenken."
„Werde ich weitergeben."
Sie drehte sich wieder zu ihrem Schreibtisch und ich starrte an die Decke.
„Ally hat mich gestern angerufen", sagte sie dann. „Tante Bev will die Krönungszeremonie verschieben und Ally will ausziehen."
Ich schmunzelte bei dem Gedanken daran, dass Ally Tante Bev damit gedroht hatte, auszuziehen. Ich konnte mir den unbeeindruckten Blick meiner Tante genau vorstellen, aber dann wurde ich wieder ernst und richtete mich auf.
„Hat Ally gesagt, warum die Krönung verschoben wird?"
Freya zuckte mit den Schultern. „Nein. Aber du kommst sicher von selbst drauf."
„Glaubst du, es hat etwas mit dem Kerl zu tun, der in Irland war?"
„Ding, ding, ding! Hundert Punkte." Dann sah sie nachdenklich auf. „Vielleicht. Ich weiß es ja nicht mit Sicherheit, aber..."
„Es würde auf jeden Fall Sinn ergeben." Ich hätte wirklich zu gerne gewusst, wer dieser Mann gewesen war, worüber Tante Bev mit Corona und Arthur gestritten hatte und warum nun die gesamte Krönungszeremonie verschoben wurde.
„Ich wette, Trish weiß, was los ist", vermutete ich.
Freya nickte. „Wahrscheinlich. Willst du sie fragen?"
„Ja. Sie wollte morgen nach der Schule mit mir Essen gehen. Vielleicht krieg ich was aus ihr raus..."
Tante Beverly und Trish waren beste Freundinnen. Wenn jemand wusste, was in Tante Bevs Leben und in ihrem Kopf vorging, dann war es Trish.
~~ ~~
Es war eine Tradition, dass jeder von uns einmal im Monat einen Nachmittag nur mit Dad oder Trish verbrachte. Freya quälte sich durch diese Nachmittage mit Trish, aber für die mit Dad fanden entweder er oder sie eine Ausrede und ich wusste nicht, wann die beiden das letzte Mal unter sich gewesen waren.
Aber ich genoss diese Zeit meistens. Es waren Momente, in denen ich mit ihnen über Dinge reden konnte, über die ich nicht sprach, wenn meine Geschwister dabei waren. Dinge, die ich am Esstisch nie ansprechen würde.
An einem dieser weniger schönen Nachmittage hatte ich mit Dad dieses fürchterliche Gespräch über Hormone und Mädchen und Erwachsenwerden gehabt. Ein ähnliches Gespräch hatte ich zwei Jahre später erdulden müssen, nachdem ich mir mein Piercing hatte stechen lassen, und Dad mir versichert hatte, dass er mich nicht enterben und auch nicht rausschmeißen würde, wenn ich mich in einen Jungen verliebte. Wahrscheinlich hätte ich mich darüber irgendwie glücklich schätzen sollen, aber Dad war einfach nicht gut darin, solche Gespräche zu führen. Meist dauerte es gute fünf Minuten, bis ich überhaupt raffte, worüber er mit mir reden wollte. Er war viel besser darin, mir Sachen zu erklären. Praktische, nicht-emotionale Sachen. Wie zum Beispiel das Chloren unseres Pools im Garten. Oder wie man sein berühmtes Backhähnchen mit Kartoffeln und Zwiebeln zubereitete. Er hatte mir das Fahren beigebracht und bevor er diesen riesigen Betrugsfall einer Bank übernommen hatte, waren wir in seiner Freizeit oft zusammen joggen oder wandern gegangen. Jetzt hatte er nicht mehr so viel Zeit, besonders, weil der Fall Unmengen an medialer Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte und Dad unter Druck stand, den ganzen Prozess so schnell und sauber wie möglich über die Bühne zu bringen. Aber er versprach, dass es bald vorbei sein und er sich dann eine kleine Auszeit nehmen würde.
Aber heute wollte ich nicht über Mädchen oder die Schule reden, sondern über etwas anderes.
Als Trish für uns beide eine Mousse au Chocolat bestellte, fragte ich sie: „Wann hast du denn das letzte Mal mit Tante Bev gesprochen?"
„Warum fragst du?" Sie rührte mit ihrem Strohhalm die Eiswürfel in ihrem Glas herum.
„Komisch, diese Zeitangabe kenn ich gar nicht...", murmelte ich.
Sie lächelte. „Keine Ahnung. Vor zwei Tagen, vielleicht?"
„Also... etwa zu der Zeit, als Ally Freya angerufen hat, und ihr die Ohren vollgeheult hat, weil Tante Bev die Krönungszeremonie verschoben hat?"
Etwas an Trishs Blick veränderte sich. Sie wurde wachsamer.
„Ja. Gut möglich."
Ich nickte und ließ ein paar Augenblicke verstreichen, in der Hoffnung, weniger verzweifelt nach der Suche auf Antworten zu wirken. „Warum findet die Krönung denn nicht wie geplant statt?"
„Das musst du deine Tante fragen, das weiß ich nicht", sagte sie leichthin, aber ich glaubte ihr nicht.
„Hat es etwas mit diesem Mann zu tun, der in Irland war und wegen dem wir sofort wieder abgereist sind?", fragte ich weiter und mittlerweile klang es mit ziemlicher Sicherheit verzweifelt.
Der Kellner brachte unsere Desserts, aber keiner von uns rührte den Löffel an oder warf auch nur einen Blick auf die Nachspeise.
„Welcher Mann?" Jetzt stellte sie sich dumm. Aber sie versuchte auch nicht, das zu verstecken. Ich legte den Kopf schräg und sie seufzte resigniert. „Wieso fragst du mich das alles?"
„Na, weil ich wissen will, was los ist. Tante Bev erzählt ja nichts. Weder mir, noch Ally. Aber ich bin sicher, dass sie dir alles erzählt."
Sie nickte. „Okay. Du hast Recht. Ich weiß, warum Bev die Krönungszeremonie verschoben hat und ich weiß, wer der Mann war, vor dem sie Ally verstecken wollte. Aber sagen werde ich es dir trotzdem nicht."
„Wieso denn nicht?"
„Weil alles, was ich dir sage, bei deiner Schwester landet. Und alles was bei Freya landet, landet früher oder später auch bei Ally und Finn. Ihr seid doch alle zusammen ein Haufen Tratschtanten."
„Besser, als Geheimniskrämer zu sein", schoss ich zurück und sie grinste amüsiert. „Komm schon, ich verspreche, dass ich niemandem etwas sagen werde."
Sie überlegte kurz. „Na schön. Ich sage es dir, wenn du mir verrätst, wo Freya Dienstagnachmittag wirklich hingeht", grinste sie neugierig und beugte sich über den Tisch zu mir. „Sie sagt zwar, dass sie trainieren geht, aber das glaube ich ihr nicht. Geht sie zu einem Jungen? Hat sie einen Freund, von dem sie uns nichts sagt?"
Ich stieß einen frustrierten Laut aus. So sehr ich auch wissen wollte, was Tante Bev mir verheimlichte, ich konnte meine Schwester nicht verraten. Sie hätte mich umgebracht. Und Dad hätte mich auch umgebracht, hätte er herausgefunden, dass ich Freya all die Jahre zu diesen brutalen, gefährlichen Kämpfen hatte gehen lassen und nie einen Ton gesagt hatte.
Trish lehnte sich wieder zurück, griff nach ihrem Löffel und begann, ihr Dessert zu löffeln. „Tja, dann eben nicht. Schade, eigentlich... Ich hab mich schon darauf gefreut, dass endlich einer von euch beiden jemanden mit nach Hause bringt."
Ich rollte mit den Augen. Trish hielt uns schon seit längerem vor, dass wir langsam anfangen mussten, in die Welt hinauszugehen. Dass es an der Zeit war, dass wir uns verliebten. Dad räusperte sich immer unmissverständlich, wenn Trish dieses Thema aufgriff, aber ich hätte mehr Finger gebraucht, wenn ich an meinen Händen die Male abzählen wollte, in denen Trish versucht hatte, mich zu verkuppeln. Letztens erst mit der Tochter des Restaurantbesitzers unseres Running-Sushi-Stammlokals. Mir war lange nichts mehr so peinlich gewesen.
Der Punkt war auch gar nicht, dass ich mich nicht manchmal fragte, ob es nicht doch ganz nett wäre, in einer Beziehung zu sein, auf Dates zu gehen, Händchen zu halten und vielleicht einmal jemanden zu küssen. Das Problem war, dass ich in einer Familie aufgewachsen war, die als völlig abnormal durchgehen konnte. Selbst Freundschaften zu schließen hatte ich über die Jahre aufgegeben und die, die ich gehabt hatte, hatten sich im Sand verlaufen. Dafür hatte ich gesorgt. Es hatte sich nie echt angefühlt. Ich hatte nie ganz ehrlich sein können. Wem hätte ich denn genug vertrauen können, um zu erzählen, dass ich ein Halbdämon war, ohne für verrückt erklärt zu werden? Wem hätte ich Magie zeigen sollen, ohne dass sich mein Gegenüber selbst für verrückt erklärt hätte?
Es war schlicht nicht möglich. Es würde niemals möglich sein.
Aber Trish hatte gut reden. Sie hatte ihre Menschen schon gefunden. Sie hatte Dad und Onkel Aidan und Tante Beverly. Als sie ein Teenager gewesen war, war Onkel Chase ihr bester Freund gewesen und sie war eine Zeit lang mit einer von Tante Beverlys Schwestern ausgegangen. Das waren alles Menschen, die von Magie und Dämonen und Hexen wussten.
Aber außerhalb meiner Familie kannte ich niemanden, der in meiner Welt lebte. Und selbst, wenn ich durch Zufall so jemandem über den Weg gelaufen wäre: Woran hätte ich das erkennen sollen? Wir gaben uns nicht zu erkennen, das war schließlich der Sinn der Übung. Freya hätte es vielleicht erkannt, sie hätte es gespürt, aber ich war nicht intuitiv genug dafür.
„Muss ich mir Sorgen machen?", fragte ich, als wir unsere Desserts fertig aufgegessen hatten und Trish nach der Rechnung gefragt hatte. „Tante Bev meinte, ich muss mir keine Sorgen machen, aber das macht mir ja gerade Sorgen..."
Trish lachte auf. „Kann ich verstehen. Aber du musst dir wirklich keine Sorgen machen. Diese ganze Geschichte hat absolut nichts mit dir zu tun."
„Und mit Ally? Und Finn?"
„Es hat nichts mit dir zu tun", wiederholte sie.
„Trish, ich- Wir sind doch eine Familie. Sollte ich da nicht wissen, was vor sich geht?"
„Netter Versuch", zwinkerte sie.
Oh Gott. Wenn nicht einmal die Familienmasche zog, dann musste es etwas wirklich Schlimmes sein.
~~ ~~
Am nächsten Tag erzählte ich Freya in der großen Pause von meinem kaum ergiebigen Gespräch mit Trish. Es war warm genug, sodass wir draußen sitzen konnten. Die Sonne schien auf uns herab und ich setzte meine Sonnenbrille auf.
„Langsam wird mir klar, was los ist", meinte Freya schließlich.
„Ach so?"
Sie tunkte zwei Pommes gleichzeitig in ihr Ketchup und schob sie sich in den Mund. „Ace. Mein Schatz." Ich verdrehte die Augen. „Was passiert, wenn Ally gekrönt wird?"
Ich zog die Schultern hoch. „Keine Ahnung. Sie darf eine Krone tragen?"
Freya seufzte. „Und was symbolisiert diese Krone?"
Ich wusste nicht, worauf sie hinauswollte, aber ich versuchte mitzuspielen. „Dass Ally offiziell eine Prinzessin ist?"
„Genau. Und was bedeutet das?"
Sie deutete mit einer ausladenden Handbewegung auf mich, und vermutlich hätte ich jetzt das fehlende Puzzlestück einfügen sollen, aber ich hatte es nicht. Sie kaute noch eine Weile an ihren Pommes herum, bevor sie sagte: „Wenn Ally gekrönt wird, wird sie offiziell in den Stand der Königsfamilie erhoben. Und das heißt, dass Ally den Gesetzen des königlichen Hofes unterliegt."
Ich zog die Augenbrauen zusammen. „Ich raff's immer noch nicht."
„Sie unterliegt Coronas Willen. Was Corona sagt, ist dann Allys Gesetz."
„Und was soll sie sagen?"
„Ace, hat Dad dich auf den Kopf fallen lassen, als du ein Baby warst?"
„Schon möglich", nickte ich. Aus dem Augenwinkel betrachtete ich die Gruppe Jungs drei Tische weiter, die uns schon die ganze Zeit in Augenschein genommen hatte. Freya bemerkte sie nicht, denn sie saß mit dem Rücken zu ihnen.
Plötzlich löste sich einer der Jungen -ein großer Kerl mit braunen Haaren, einer Jeansjacke und durchgetretenen Sportschuhen-, und steuerte auf unseren Tisch zu.
Kein Wort mehr, ließ ich Freya wissen. Sie ließ sich nichts anmerken, aber sie hatte sofort verstanden, dass sie nicht weiter über Hexen reden durfte.
„Kann ich deine Mayonnaise haben?", fragte sie und ich stellte mein Schälchen auf ihr Tablett, als der Typ neben uns stehen blieb.
„Hey, Freya", sagte er, hob die Hand, schob sie aber sofort wieder in seine Hosentasche.
Sie sah auf. „Hallo, Fremder?"
Ein nervöses Lächeln huschte über sein Gesicht. „Ich... Ich bin Marco. Ich bin in deiner Parallelklasse. Ich sehe dich immer, wenn du Mittwoch nach der dritten Stunde den Chemiesaal verlässt."
„Ach so?", sie tunkte unbeeindruckt ein Pommes in meine Mayo.
Was für ein Stalker...
Freya schoss mir einen flüchtigen, amüsierten Blick zu, während Marco leicht vor und zurück wippte. Sein Adamsapfel hüpfte aufgeregt auf und ab. Dann drehte er sich zu mir und räusperte sich. „Hör mal, Mann, kannst du uns kurz allein lassen?"
„Hör du mal, Mann. Nein", entgegnete ich, gab mir nicht die Mühe, meine Sonnenbrille in meine Haare zu schieben und stach meine Gabel in das Essen. „Ich esse hier mit meiner Schwester zu Mittag. Du hast gerade unser Gespräch unterbrochen. Wenn du ihr was zu sagen hast, kannst du es auch vor mir tun. Wenn's peinlich wird, erzählt sie es mir hinterher sowieso."
Freya spülte ihren Bissen mit einem Schluck Apfelsaft herunter, während sie sich ihr Grinsen verbiss. Dann sah sie Marco abwartend an.
Halb rechnete ich damit, dass meine Worte allein ihn genug abgeschreckt hatten, sodass er sich umdrehen und gehen würde, aber zu meiner Überraschung wandte er sich wieder meiner Schwester zu, sah auf Freya hinab, und fragte: „Ist dein Essen gut?"
Sie zog die Augenbrauen zusammen. „Ist ganz okay."
Er nickte. „Schön."
„Ich meine, das sind Pommes mit Ketchup. Das kann man gar nicht versauen."
Er nickte wieder. „Richtig. Das stimmt. Ich wollte dich was fragen, äh..."
Ich warf einen Blick zu seinen Freunden, die die Szenerie grinsend verfolgten.
„Magst du Filme?", fragte Marco weiter.
Freyas Augenbrauen wanderten noch ein Stück weiter nach unten. Dann stand sie auf, um mit ihm auf gleicher Augenhöhe zu sein und er trat einen unruhigen Schritt von unserem Tisch weg. Sie stützte ihre Hände auf der Tischkante ab und musterte ihn schulterzuckend.
„Kommt auf den Film drauf an."
Ich spießte ein paar Pommes auf meine Gabel, tunkte sie in die Mayonnaise auf Freyas Tablett und aß weiter.
„Magst du... lustige Filme?"
„Nicht wirklich."
„Actionfilme?"
Sie schüttelte den Kopf.
„Was für Filme magst du denn?"
Freya grinste. „Ich schau gerne Pornos."
Ich verschluckte mich fast an meinen Pommes und Marco lief knallrot an, wich ihrem Blick aus, drehte sich um und rauschte zu seinen Freunden zurück, die ihn lachend empfingen und auf die Schulter und den Rücken klopften.
Freya sah ihm einen Augenblick lang irritiert nach, dann setzte sie sich wieder und aß weiter.
„Dabei hab ich ihm noch gar nicht meinen Lieblingsfilm verraten...", sagte sie nach einigen Sekunden.
„Mutig, dich anzusprechen, während ich dabei bin und eine Gabel in der Hand halte."
„Ja, ich fürchte, deine Ansprache hat ihn nervös gemacht", lachte sie.
Es geschah nicht selten, dass ich miterlebte, wie Jungs versuchten, mit meiner Schwester zu flirten. Und ich fragte mich jedes Mal, ob Freya die Hinweisschilder nicht lesen konnte, oder schlicht und einfach ignorierte. Und fairerweise stellten sich die meisten auch nicht sonderlich geschickt an, aber Freya war nun einmal ein harter Brocken und ihre raue Art machte den meisten schnell Angst, dabei war das gar nicht ihre Absicht. Zumindest glaubte ich das.
Ich warf noch einen Blick zu der Truppe. Marco hatte den Kopf auf die Tischplatte gelegt und seine Freunde lachten immer noch und spielten das Gespräch zwischen meiner Schwester und ihm theatralisch nach.
„Also", ich wandte mich wieder Freya zu. „Was soll Corona über Ally bestimmen?"
Sie machte noch eine dramatische Pause, lehnte sich zurück und verkündete: „Ich glaube, Corona will Ally verheiraten."
Es war das zweite Mal, dass ich mich fast an meinem Essen verschluckte.
Ungläubig sah ich Freya an. „Spinnst du? Ally ist dreizehn!"
Sie zuckte mit den Schultern. „Und? Du vergisst, dass Tante Bevs Familie -von Tante Bev mal abgesehen- aus einem anderen Jahrhundert stammt. Da waren Hochzeiten unter Teenagern nichts Ungewöhnliches."
Ich stocherte in meinen Pommes herum und dachte nach. Es war völlig verrückt, aber eine bessere Erklärung fiel mir auch nicht ein.
„Aber warum sollten Tante Bev und Trish darum so ein Geheimnis machen?"
Freya verdrehte die Augen. „Na, hör mal, ich weiß auch nicht alles. Wer weiß, ob meine Theorie überhaupt stimmt? Es ist nur die einzig logische Erklärung, die mir einfällt. Tante Bev will Ally mit der Verzögerung der Krönungszeremonie sicher beschützen."
„Wie lange kann sie die Krönung denn hinauszögern?"
Freya hob die Augenbrauen. „Wahrscheinlich nicht lange genug..."
Ich stieß den Atem aus. Selbst, wenn meine Schwester Recht hatte, es musste mehr dahinterstecken. Warum Ally? Warum jetzt? Wenn Corona Ally verheiraten wollte, dann musste es dafür einen Grund geben.
Doch bevor ich meine Überlegungen aussprechen konnte, bemerkte ich, dass sich noch ein Kerl aus der Gruppe löste und zu uns an den Tisch kam.
Und da kommt Nummer zwei.
„Hey. Freya?" Er lächelte. Ihn kannte ich. Sein Name war Patrick und er und Freya waren einmal Projektpartner in Physik gewesen. Er hatte ein paar Mal versucht, mit ihr zu flirten, aber seine Worte waren an Freya abgeprallt, wie Tropfen an einer Windschutzscheibe.
„Was?!", schnauzte Freya und Patrick hielt inne. Sie seufzte. „Tut mir leid, aber... ich will hier nur in Ruhe mit meinem Bruder essen, verstehst du?"
„Ja klar, geht auch ganz schnell. Hast du schon eine Verabredung für den Schulball im Herbst?"
„Ich geh da nicht hin", sagte sie, bevor er den Satz überhaupt zu Ende gesprochen hatte.
Sofort wirkte er enttäuscht. „Wieso?"
Sie zuckte mit den Schultern. „Ist eben nicht mein Ding."
„Oh... schade", lächelte er zerdrückt. Freya musterte ihn ehrlich verwirrt.
„Wieso? Macht es für dich einen Unterschied, ob ich auf diesen Ball gehe oder nicht?"
Ich musste mich zusammenreißen, um nicht zu lachen anzufangen.
Der Junge sah Freya einen Augenblick lang an, als würde sie scherzen, aber ihr konfuser Blick verschwand nicht. Schließlich schüttelte er den Kopf.
„Egal, vergiss es, ich muss in die nächste Stunde." Er deutete hinter sich und rannte in seiner Hektik gegen einen der Tische. Seine Freunde begannen grölend zu lachen, als er zu ihnen zurückhumpelte und Marco war der erste, der ihm schadenfroh die Faust hinhielt.
Freya drehte sich wieder zu mir und sah mich todernst an. „Morgen essen wir bei den Mülltonnen hinter der Schule."
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