21
Freya
Es klingelte an der Türe. Mom machte die Türe auf. Der große, breite Kerl, den alle immer Jerry nannten, brachte meinen Bruder und mich in das Zimmer von Mom und Dad. Ich mochte ihn, weil er mich immer anlächelte und am Arm durch unsere Küche trug.
Er kam herein.
Ich wollte Mom anschreien, dass sie ihn nicht hereinlassen durfte. Sie sollte weglaufen, auch, wenn er wie ein harmloses Kind aussah. Jerry verließ das Zimmer. Ich begann zu schreien und hörte kaum, was im Wohnzimmer gesprochen wurde. Kurz darauf fiel etwas Schweres zu Boden. Mom schrie. Ich schrie.
Mom. Mom. Mom.
Ich konnte nicht sehen, was passierte, ich konnte mich nicht bewegen, ich konnte nur schreien. Ace weinte neben mir. Ich wusste nicht was vor sich ging, aber ich spürte es.
„Lass mich dir helfen." Die einzigen Worte, die ich über meine Schreie hinweg verstand. Ich wusste, was passierte, ich spürte, was passierte.
Die Türe wurde aufgeschoben. Blutgeruch, den ich noch nicht als solchen identifizieren konnte, stieg mir in die Nase.
Mom. Mom. Mom.
Es war nicht Mom. Es war der Junge mit den roten Haaren. Es war Cash. Er beugte sich über mich und Ace. Er weinte, warum weinte er, er hatte kein Recht zu weinen! Ich sah die blutbedeckte Klinge in seiner Hand. Ich schrie ihm in sein Gesicht. Schrie meinen Zorn, meinen Schmerz, meinen Hass in sein Gesicht. Seinen Tränen tropften auf meine Wangen. Sie vermischten sich mit meinen. Ich wischte sie nicht weg. Ich schlug fester und fester und fester und fester.
Sein Gesicht würde ich niemals vergessen. Diese traurigen Augen, die mich angesehen hatten, als würden sie um Verzeihung bitten. Als hätte er das Recht, darum zu bitten! Ich würde ihm nie verzeihen. Warum hatte er das getan, warum hatte er meine Mutter so kaltblütig ermordet? Warum durfte er leben, aber Mom nicht?
Tränen strömten über mein Gesicht, meine Fingerknöchel waren taub, ich spürte sie nicht, ich schaffte es nicht, durch den Schleier meiner Erinnerungen zurück in die Realität zu dringen.
Mit jedem Schlag schrie ich. Komm zurück, komm zurück, komm zurück!
„Es tut mir leid." Seine Stimme, sein Schluchzen. Es würde ihm noch leidtun!
Lass mich dir helfen.
Er hatte mir meine Mom genommen!
Es tut mir leid.
Er lief immer noch frei herum!
Ich wollte raus aus diesen Erinnerungen. Ich ertrug sie nicht mehr. Die Erinnerungen flackerten zu schnell hinter meinen Lidern. Jerry; Mom, die Schreie, das Blut, Cash. Den Schleier fast durchdrungen, sah ich Moms Gesicht, kurz bevor sie gestorben war. Ich spürte, wie Onkel Aidan mich in ihre Arme legte. Jemand musste etwas tun, jemand musste ihr helfen! Ich konnte nicht zu weinen aufhören.
Ich konnte spüren, wie ihr Herz zu schlagen aufhörte.
Mom, Mom, Mom!
Ich würde Cash umbringen.
~~ ~~
Krampfhaft starrte ich auf meine blutigen Fingerknöchel. Jetzt spürte ich den Schmerz, aber es war eine gute Art von Schmerz, denn er bewies mir, dass ich wieder in der Realität angekommen war.
Die Erinnerungen an das, was damals geschehen war, hatten mich mit sich gerissen, wie Wellen bei einem Unwetter auf hoher See. Ich hatte ihnen nicht entkommen können. Und sie hatte mir einmal mehr das Herz zerfetzt.
Mein Hals tat weh. Ich war mir sicher, dass ich wirklich geweint und geschrien hatte. Wie in Alpträumen, aus denen man mit nassem Gesicht aufwacht.
Ich wusste, dass meine Familie niemals verstehen würde, warum ich so sehr an Mom hing. Vielleicht mehr, als sie es taten. Aber meine Erinnerungen verblassten nicht. Sie wurden mit der Zeit nicht weniger, wie sie es wohl für andere Menschen wurden. Ich war immer schockiert, wenn ich Onkel Aidan etwas zu seiner Kindheit fragte und er den Kopf schüttelte und sagte: „Das weiß ich nicht mehr." Wie konnten Menschen ihr Leben vergessen? Sich nicht daran erinnern, was passiert war? Das war doch völlig verrückt, man hatte es doch am eigenen Leib erlebt. Aber vielleicht tat es deshalb nach all den Jahren immer noch so weh. Weil es sich jeden Tag anfühlte, als wäre Mom erst gestern gestorben. Die Bilder, die Gerüche, die Geräusche, sie waren alle so detailgetreu abgespeichert, dass ich glaubte, mich täglich aufs Neue von Mom verabschieden zu müssen.
Ich liebte mein Gedächtnis, meist war es toll, nichts zu vergessen und in der Vergangenheit spazieren gehen zu können, aber manchmal hasste ich es.
„Sagst du mir, was passiert ist?"
Ich sah auf. Nicholas hielt mir eine geöffnete Flasche Wasser hin und musterte mich besorgt. Ich hasste diesen Blick. Als wäre ich ein schwaches Kind, das selbst nichts auf die Reihe bekam. Warum sonst hätte er die Flasche für mich öffnen sollen? Ich war nicht schwach, ich war entschlossen wie nie.
Protestlos nahm ich das Wasser entgegen und leerte die Hälfte in einem Zug.
Meine Locken waren nass. Meine Kleidung auch. Ein bisschen war ich noch neben der Spur.
Ich war in den Duschkabinen unter eiskaltem Wasser aus den restlichen Erinnerungen aufgetaucht. Der Jäger hatte die Arme fest um meinen Oberkörper geschlungen und jegliche Energie hatte meine Muskeln verlassen. Als hätte das Wasser alles weggespült. All den Zorn, all die Trauer, all den Schmerz. Und dann hatte ich endlich die Ruhe verspürt, die ich so dringend gebraucht hatte. Mir waren die Beine weggesackt und eine Weile hatte ich nur unter dem eiskalten Wasser in den Armen des Jägers geweint.
Etwas Peinlicheres war mir in meinem Leben noch nicht passiert. Echt nicht. Als ich mich wieder beruhigt hatte, hätte ich mir beinahe gewünscht, mich selbst verflüssigen und auch den Abfluss runter gespült werden zu können, so peinlich war mir das ganze gewesen.
Kein Wunder, also, dass er mich nun so ansah. Wie ein schwaches Kind. Oder in seinen Worten: Ein Mädchen.
Er setzte sich mit etwas Abstand neben mich auf die Holzbank der Umkleidekabinen. Sein Blick durchbohrte mich, aber ich sah ihn nicht an, sondern begann, das Papier von der Wasserflasche, das von dem Kondenswasser ganz aufgeweicht war, abzupulen.
Ich hätte dem Jäger gerne erklärt, warum ich so aufgelöst war, aber wie? Jede Erklärung hätte mich und meine Familie als das entlarvt, was wir waren.
„Was machst du überhaupt hier?", fragte ich stattdessen, meine Stimme rau.
„Vor zehn Minuten hab ich ein hysterisches Mädchen kalt abgeduscht", erwiderte er. Seinem Tonfall nach zu urteilen wollte er die Stimmung auflockern, aber ich konnte ihm nicht einmal meinen standardisierten, bösen Blick zuwerfen, der mittlerweile fast überwiegend für ihn reserviert war. Dann sagte er etwas ernster: „Ich hab die Schlüssel zu meinem Motelzimmer vergessen, als ich vorhin trainieren war und bin nochmal zurückgekommen. Keine Panik, ich stalke dich nicht." Noch ein Versuch, mich zum Lachen zu bringen.
Die Gefühle drückten immer noch schwer auf meine Brust, aber ich war auch erschöpft. Endlich war ich erschöpft und müde und ausgelaugt und spürte nicht mehr diese brennende Wut in mir. Sie würde zurückkommen, aber für den Moment hätte ich mich gerne auf dem schmutzigen Boden zusammengerollt und einfach nur geschlafen.
Er stützte die Ellenbogen auf die Knie. Seine blonden Haare waren unter der Dusche ebenfalls nass geworden und kräuselten sich in seinem Nacken ein wenig. „Was ist passiert?"
Ich wollte eigentlich nicht darüber reden, aber während meine Finger das Papier der Flasche weiterabkratzten, schien mein Mund mit mir zu tun, was er wollte. „Erinnerst du dich an den Abend, als wir zum ersten Mal essen waren?", begann ich langsam. „Du wolltest wissen, warum ich das Kämpfen lernen will."
„Du hast gesagt, dass du als Kind miterlebt hast, wie jemand, der dir nahestand, gestorben ist. Und dass du dich nie wieder so hilflos fühlen willst."
„Die Person, von der ich da gesprochen habe, war meine Mom."
Nicholas ließ den Kopf hängen und stieß einen tiefen Seufzer aus. „Das tut mir leid."
„Ich war dabei, als meine Mom umgebracht wurde."
„Das war sicher grauenvoll."
„Heute Abend habe ich den Namen ihres Mörders erfahren", sagte ich bitter und hätte vielleicht die Wut zurückkommen gespürt, wenn ich nicht eben all meine Energie verbraucht hätte. „Und ich hab erfahren, dass mein Dad all die Jahre wusste, wer sie umgebracht hat. Er hat diesen Mistkerl einfach laufen lassen."
„Und was hast du jetzt vor?", fragte Nicholas und sah mich nach einem Moment des Schweigens wieder an.
„Ich werde diesen Mann finden und ihn umbringen", sagte ich ohne Umschweife und zerknüllte die nasse Banderole der Flasche zwischen meinen Fingern. „Dieser Mann hat zwei Menschen umgebracht und meine Familie zerstört. Er verdient es nicht, zu leben. Ich werde tun, was mein Dad nicht gemacht hat." Ich wollte Rache, ich wollte Gerechtigkeit!
Der Jäger antwortete nicht sofort. „Glaubst du denn, dass du das kannst?"
„Was?"
„Einen Menschen töten. Hast du das schon mal gemacht?"
Ich wandte den Blick ab. Er, als Jäger, hatte bestimmt schon den ein oder anderen Menschen getötet. „Nein." Ich schluckte. „Aber ich habe mir schon immer geschworen, dass ich diesen Menschen eines Tages finden und dafür bestraften werde, was er getan hat. Ich weiß jetzt, wie er heißt und ich weiß, wo ich ihn finden kann. Näher war ich meinem Versprechen noch nie."
Der Jäger stemmte sich hoch und legte den Kopf in den Nacken. Zwei der Rohrleuchten an der Decke waren kaputt, aber es war trotzdem hell genug. „Naja, so wie du den armen Boxsack mal wieder zugerichtet hast, wirst du einen Menschen schon umbringen können."
„Ein Mensch ist aber kein Boxsack."
„Das kommt ganz auf deine moralische Einstellung an."
Ich stellte die Flasche zur Seite. Im Grunde genommen hatte ich keine Ahnung, ob ich es tatsächlich schaffen würde, einem Menschen das Leben zu nehmen. In meiner Vorstellung gab es kaum etwas Befriedigenderes, als diesem Arschloch das Genick zu brechen. Ich hatte so viele Jahre meines Lebens Angst davor gehabt, noch jemanden aus meiner Familie zu verlieren und er war der Grund für diese Angst, der Ursprung. Aber ob ich es wirklich zu Stande bringen würde, ihn zu töten und Gerechtigkeit für meine Mom zu schaffen, war eine andere Frage. Besonders, da der Mann offenbar ein Zauberer war. Der Sohn einer von Tante Beverlys Schwestern. Es war nicht bloß ein irrer Einbrecher gewesen, der nach Wertgegenständen gesucht hatte, weil er sonst verhungert wäre. Es war etwas Persönliches gewesen und jetzt nahm ich es persönlicher als je zuvor.
„Ich helfe dir, den Mann zu finden", sagte Nicholas plötzlich und mein Blick schoss skeptisch in die Höhe. „Wenn du das willst."
„Wieso?"
Er drehte sich um und ich konnte den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht sehen. Es war nur seine Stimme, die eine Bitterkeit angenommen hatte, die ich nicht kannte.
„Weil ich weiß, wie du dich fühlst."
~~ ~~
Ein lautes Geräusch schreckte mich aus dem Schlaf, ich fuhr hoch und war sofort in Verteidigungsmodus, aber als meine Augen Nicholas zu fassen bekamen, der eine braune Tüte und zwei weiße Pappbecher mit Deckel auf dem Tisch abstellte, beruhigte sich mein Herzschlag wieder und ich ließ mich zurück in die Kissen fallen. Das Geräusch war die Türe gewesen und ich war nicht in Lebensgefahr. Na, solange der Jäger nicht herausfand, was ich wirklich war, zumindest.
Ich hatte gestern nicht nach Hause gewollt und in einem Moment der Schwäche hatte ich Nicholas Angebot, bei ihm im Motel zu übernachten, angenommen. Er hatte mir sein Bett angeboten und ich war darauf eingeschlafen, bevor ich es überhaupt bemerkt hatte. Es war ein traumloser Schlaf gewesen. Mir fiel das Kissen auf, das neben dem Bett auf dem Boden lag.
„Hast du die ganze Nacht auf dem Boden geschlafen?", murmelte ich und rieb mir die Augen. Wie spät es wohl war? Eigentlich war ich kein Langschläfer, aber die Sonne stand schon hoch.
Sein Blick fiel auf mich, als er sich die schwarze Jacke auszog. „Guten Morgen", grinste er schief. „Ja, hab ich. Nachdem du das ganze Bett für dich beansprucht hast."
„Du hattest keine Decke?"
„Ist ja auch nicht kalt hier", gab er ungerührt zurück und ein recht seltenes Gefühl schlich sich in meinen Bauch: Es war ein schlechtes Gewissen.
„Ich hab uns Kaffee und Donuts geholt. Du magst Kaffee doch wohl hoffentlich." Er hängte die Jacke über die Stuhllehne.
„Ich trinke ihn", murmelte ich. Perplex sah ich zwischen ihm und seinen Einkäufen hin und her. „Wieso?"
„Wieso was?" Die Tüte raschelte, als er hineingriff.
„Wieso hast du uns Kaffee und Donuts geholt?"
Er hielt in seiner Bewegung inne und sah mich an. „Weil... na, weil es elf Uhr vormittags ist."
„Das war nicht wirklich meine Frage." Ich wollte mir durch die Haare fahren, aber da meine Locken gestern ziemlich unfreiwillig nass geworden waren, waren sie nun ein verknoteter, struppiger Haufen, in dem meine Finger sofort hängen blieben. Genervt zog ich meine Hand zurück, drehte meine Haare ein und machte sie mit einem Haargummi, das ich am Handgelenk trug, fest.
„Ich weiß." Er hielt mir einen der beiden Becher hin und reichte mir die Tüte, während er in einen Schokoladendonut biss. „Aber sowas machen Freunde nun Mal", nuschelte er.
„Freunde?" Ich nahm den Kaffee und die Tüte entgegen.
„Hältst du uns nicht für Freunde?"
„Ich halte uns für Kollegen", gab ich zurück und fischte den zweiten Donut mit nur einer Hand umständlich aus der Packung.
„Kollegen dürfen aber nicht in meinem Bett schlafen."
„Es ist nicht dein Bett", stellte ich klar. „Es ist das Bett in irgendeiner billigen Absteige."
Er presste sich gespielt verletzt eine Hand gegen die Brust. „Autsch. Zielst du immer so tief, wenn du ohne dein Schmusehäschen schlafen musst?"
„Ich halte gerade einen Becher brühendheißen Kaffee in der Hand", sagte ich. „Denk lieber scharf nach, bevor du redest."
Er zwinkerte mir amüsiert zu und leider musste ich mir eingestehen, dass mir dieser kleine Schlagabtausch am Morgen viel zu gut gefiel.
„Hast du schon einen Plan?", fragte er dann und ließ sich auf dem Stuhl nieder.
Ich schüttelte den Kopf, während ich den Donut verschlang. Irgendwie hatte ich den Zucker wohl doch nötig, es ging mir schlagartig besser. „Keine Ahnung", sagte ich, als ich mir die geschmolzene Glasur von den Fingern leckte. „Aber er lebt in Philadelphia, also..."
„Müssen wir nach Philadelphia", vervollständigte er meinen Satz. Ich betrachtete ihn nachdenklich, während er den Deckel von seinem Becher nahm und an seinem Kaffee schnupperte. Dann nahm er einen vorsichtigen Schluck. Dann einen großen. Ich hatte nicht vergessen, dass er gemeint hatte, er würde verstehen, wie ich mich fühlte. Aber weiter nachgefragt hatte ich auch nicht. Über seine toten Eltern zu reden war etwas, das man nicht erzwingen sollte, ich wusste, wovon ich sprach. Wenn er mir davon erzählen wollte, würde er es irgendwann tun.
Wo wanderten meine Gedanken bloß schon wieder hin? Nicholas und ich waren keine Freunde, verdammt.
„Wir?", hakte ich schließlich nach. Er sah auf und irgendetwas an seinem Blick machte mich nervös.
„Ich hab gesagt, dass ich dir helfe."
„Aber Philadelphia ist am anderen Ende des Kontinents. Das wusstest du nicht, als du das gesagt hast. Ich erwarte nicht von dir, dass du mit mir quer durch die Staaten reist."
Ich wusste nicht einmal, ob ich das von mir selbst erwarten konnte. Jetzt, da ich eine Nacht drüber geschlafen und einen Donut gehabt hatte, kam mir die Vorstellung, einfach so nach Philadelphia zu fahren, um den Mörder meiner Mutter zu suchen, von dem ich lediglich den Namen hatte, doch etwas verrückt vor. Noch dazu einen Namen, den er vielleicht gar nicht mehr trug.
Ich musste zur Schule. Und meiner Familie wollte ich eigentlich die Sorgen ersparen, die sie sich machen würden, wenn-
Ich musste an Dad denken. An die Dinge, die ich ihm gestern an den Kopf geworfen hatte, die alle Berechtigung hatten! Ich musste daran denken, wie ich mich gefühlt hatte. So verloren, so hintergangen, so im Stich gelassen. Von Dad, Trish, Ace und sogar Onkel Aidan und meiner Tante Beverly. Vielleicht verdienten sie es doch, nicht zu wissen, wo ich war. Besonders Dad.
„Ich meine... einfach so durch die Staaten reisen?"
„Hast du das noch nie gemacht?", er klang beinahe belustigt.
„Natürlich nicht, wer tut so etwas?"
„So ziemlich alle Jäger, die ich kenne."
„Schön, aber ich gehe noch zur Schule. Wann hätte ich das denn tun sollen?"
„Mach dir keine Sorgen." Er winkte ab. „Ich hab das schon hundert Mal gemacht. Nach Philly brauchen wir höchstens vier Tage. Und das auch nur, wenn wir in Motels übernachten. Aber wir können sicher schneller dort sein, wenn wir nur zum Tanken und Essen halten und uns ansonsten beim Fahren abwechseln." Es klang, als hätte er das bei seinem Frühstückseinkauf schon alles durchdacht, ohne überhaupt zu wissen, wohin ihn unsere Reise führen würde. Ja, er schien sich richtig darauf zu freuen.
„Meinetwegen müssen wir uns nicht beeilen. Ich hab es nicht eilig, zurück nach Hause zu kommen. Wenn ich ehrlich bin, ist das sogar so ziemlich der letzte Ort, an dem ich im Augenblick sein will..."
„Hast du nicht eben noch von Schule gesprochen?"
„Ich bin eine glatte Einserschülerin, ein paar Fehltage werden mich nicht zurückwerfen. Aber was machen wir, wenn wir in Philadelphia sind? Ich weiß doch nichts über den Kerl."
„Das überlegen wir uns dann."
Das war eine Ally-Antwort und ich hasste Ally-Antworten.
„Ich hätte lieber einen Plan. Mit Plänen geht selten etwas schief."
Er stellte den Kaffee zur Seite und verankerte seinen blauen Augen in meinen. „Aber wenn du keinen Plan hast, dann kann gar nichts schief gehen." Ich fand seine Logik bescheuert. „Ich habs dir doch schon Mal gesagt: Ich steh auf aussichtslose Unternehmungen."
„Ich erinnere mich. Hast du denn inzwischen Fortschritte bei der Suche nach deiner Familie gemacht?"
Sein Blick verharrte kurz auf mir, vielleicht, weil ich normalerweise keine persönlichen Fragen stellte. „Ja und nein. Ein paar Jäger hier könnten die Familie gekannt haben, aber ich habe noch niemanden gefunden, der für mich den Kontakt herstellen könnte."
Weil ich nicht wusste, was ich darauf sagen sollte, schlürfte ich meinen Kaffee im Stillen. Eigentlich mochte ich meinen Kaffee mit viel Milch und Zucker, der hier kam mir fast schwarz vor, aber ich trank ihn trotzdem.
„Was sagst du deiner Familie?", fragte er dann.
„Weiß noch nicht... vielleicht sage ich gar nichts."
„Wird sich dein Dad keine Sorgen machen?"
„Natürlich, aber das soll mir nur recht sein."
Er zog die Augenbrauen ein Stück hoch. „Wir könnten ganz schön lange weg sein..."
Ich beugte mich ein Stück weit nach vorne und sah ihm fest in die Augen. „Wenn das mit unserer Zusammenarbeit klappen soll und du mir wirklich helfen willst, dann musst du dich aus meinen Entscheidungen raushalten, die nur mich etwas angehen."
Vielleicht würde ich mein Handy loswerden müssen, sonst würde Dad mich bestimmt per GPS orten können. Oder so. Ansonsten hatte ich nur meine Hausschlüssel und meine Geldbörse, die ich in die Bauchtasche meines Hoodies gesteckt hatte, für den es eigentlich viel zu warm war, aber ich hatte keine Tasche zu Allys Geburtstag mitnehmen wollen, und ohne meinen Ausweis und Geld fühlte ich mich irgendwie unvollständig. Das waren die drei Gegenstände, die ich eigentlich immer mitnahm, egal, wohin ich ging. Handy, Schlüssel, Geld. Die Heilige Dreifaltigkeit, sozusagen.
„Also, dann... fahren wir wirklich zusammen nach Philadelphia?", hakte der Jäger noch einmal nach. Ein letztes Mal gab er mir die Möglichkeit, das ganze abzublasen, aber vielleicht war es Schicksal gewesen, dass Odilia gestern Allys Party gesprengt und mir all diese Dinge erzählt hatte. Vielleicht war es meine Bestimmung, der ich nun folgen musste. Worin sonst läge der Sinn an der ganzen Sache? Und ich wusste, dass ich es für immer bereuen würde, wenn ich diese Chance jetzt nicht ergriff.
„Wir fahren", nickte ich.
Er stieß leise den Atem aus und betrachtete mich noch einen Augenblick, bevor er seinen Becher wieder an die Lippen führte. „Mein Auto ist gerade in der Werkstatt. Die Bremsbeläge waren schon ziemlich runtergekommen, ich kann es erst morgen Nachmittag holen. Was machen wir bis dahin?"
„Ich hab da eine verrückte Idee: Wir könnten uns überlegen, was wir tun, wenn wir in Philadelphia sind."
Er schmunzelte. „Du magst Plänen, wie mir scheint."
„Ich will bloß nicht vier Tage mit dir auf engstem Raum feststecken, nur um dann festzustellen, dass alles für die Katz war, weil wir nicht weiterkommen."
„Keine Sorge", winkte er ab, ohne auf meinen spitzen Kommentar einzugehen. „Ich beherrsche meinen Job. Ich kann jeden aufspüren, wenn ich will."
Der Kaffee in meinem Magen verwandelte sich in Lava und mir wurde übel. Seine Worte erinnerten mich nur daran, dass ich mit dem Feuer spielte.
Mit dem Jäger zu trainieren war eine Sache, aber ihn in meine privaten Angelegenheiten reinzuziehen? Noch dazu eine so heikle! Hatte ich den Verstand verloren? Ich hatte ihm nicht gesagt, dass Cash ein Zauberer war. Ich wusste gar nicht, ob er überhaupt wusste, dass es Hexen gab! Viele Jäger hatten keine Ahnung. Wenn Nicholas herausfinden würde, dass Cash ein Zauberer war, würde er dann tiefer graben? Würde er herausfinden wollen, warum er meine Mutter getötet hatte?
Je näher mir der Jäger kam, desto mehr brachte ich meine Familie und besonders Ally in Gefahr...
Aber andererseits würde ich ohne seine Hilfe mit meinen Racheplänen nicht sonderlich weit kommen.
„Was ist mit dem Monster?", fragte ich dann. „Legen wir unsere Jagd danach einfach auf Eis?"
„Vorerst", nickte er. „Es sind noch andere Jäger an ihm dran. Die werden mich auf dem Laufenden halten." Das beruhigte mich kein Stück, denn wenn ich nicht hier war, konnte ich Ally nicht vor diesen Jägern beschützen, wenn es drauf ankam, aber das konnte ich Nicholas schlecht sagen.
„Aber wenn wir schon davon reden..." Er stemmte sich hoch und streckte sich, wobei sich jeder Muskel seines Körpers anspannte. Sein Blick ruhte unternehmungsfreudig auf mir. „Lust auf eine kleine Trainingseinheit?"
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top