17

Freya

Ich war in der Hölle.

Ace hatte Dad gefragt, ob er am Wochenende bei seiner Freundin übernachten durfte, aber Dad hatte wenig überraschend Nein gesagt. Stattdessen hatte er vorgeschlagen, dass Noa am Sonntag hierherkommen sollte, wenn Ace sie sehen wollte, weil wir grillen würden.

Dass Noa uns besuchen würde, hatte ich zu spät erfahren, sonst hätte ich mich aus dem Staub gemacht. Aber so saßen wir alle zusammen draußen am großen Holztisch neben dem Pool unter zwei Sonnenschirmen. Keinesfalls hatte ich vorgehabt, auch nur ein Wort mit Noa zu wechseln, aber das stellte sich als zunehmend kompliziert heraus, weil sie mir direkt gegenübersaß. Zu allem Überfluss musste ich auch noch feststellen, dass sich Allys Befürchtung bewahrheitete. Noa war wirklich ausgesprochen hübsch in ihrem weißen Sommerkleid, den langen dunklen Haaren und der gebräunten Haut. Sie lag definitiv über dem Durchschnitt und sie war so höflich, dass ich ihr meinen Grillkäse am liebsten quer über den Tisch ins Gesicht gekotzt hätte. Dee saß neben Ace außerhalb von Noas direktem Blickfeld und warf mir immer wieder unbehagliche Blicke zu, die ich aber nicht erwiderte. Für mich existierte nur mein Teller, mein Grillkäse, die Süßkartoffeln und der Salat mit Joghurt-Knoblauchdressing. Ich liebte es, wenn wir grillten, und ich hätte mich noch mehr freuen können, wenn dieses Mädchen mir mit seiner Zuckerwattestimme nicht den Appetit verdorben hätte.

Noa versuchte ihr Glück, mich anzusprechen, als ich mir lustlos eine Portion grünen Spargel auf den Teller lud.

„Hast du schon eine Verabredung für den Schulball? Ace hat mir erzählt, dass du dich vor Einladungen kaum retten kannst." Sie konnte nicht wissen, dass das Schulballthema so ziemlich das letzte war, mit dem man mich in ein Gespräch verwickeln konnte, aber das war mir nur recht so. Ich verzog die Lippen zu einem freudlosen Lächeln.

„Nein."

Ace würde mit ihr auf den Ball gehen, wenn die Sache zwischen den beiden nicht vorher den Bach runter ging, da war ich mir sicher. Lieber hätte ich mich von Allys Monster in der Luft zerfetzen lassen, als den beiden dabei zuzusehen, wie sie über eine Tanzfläche flanierten und sich gegenseitig die Zunge in den Hals steckten.

Weil ich keine Sekunde weiter auf ihre Frage einging, hakte Trish nach, ob sie schon ein Kleid für den Ball hatte und Noa stieg dankbar darauf ein, während ich aufstand und mir noch einen Eistee holte.

Ein paar Minuten später versuchte sie es noch einmal, als Trish fragte, was Noa nach der Schule machen wollte. Ob sie studieren oder arbeiten wollte. Sie wollte Tierärztin werden und aus irgendeinem Grund hasste ich sie jetzt noch mehr. Hätte sie nicht im Schlachthaus arbeiten wollen können? Dann hätte jeder hier am Tisch meine Abneigung gegen sie verstanden.

„Willst du nach der High School studieren, Freya?", fragte Noa mich und ich zuckte im stillen Protest mit den Schultern, ohne sie anzusehen. Ich spürte Dads, Trishs und besonders Aces missbilligenden Blick auf mir, während ich meine Süßkartoffel auf dem Teller zermatschte. Sie verdarb mir wirklich den Appetit, die blöde Kuh. Wie kam sie bloß darauf, dass ich an einem Sonntag über die Schule reden wollte? Ich hatte keine Ahnung, was in einem Jahr sein würde. Himmel, ich wusste noch nicht einmal, ob ich morgen noch leben würde, auf der schmalen Gratwanderung mit Allys Monster zu meiner Linken und einem Jäger zu meiner Rechten.

„Sie lässt nicht viel von sich raus, oder?", murmelte Noa meinem Bruder zu.

„Offenbar nicht", brummte er anklagend in meine Richtung, aber weil ich ihn immer noch aus meinem Kopf ausgesperrt hatte, konnte er mir nicht ohne weiteres auf die Nerven gehen. Ich hatte keine Ahnung, wie es überhaupt dazu gekommen war, dass ich Ace ausgesperrt hatte, aber seit das passiert war, war ich auch nicht mehr in seinen Kopf gerutscht, was zumindest bedeutete, dass ich mir keine unerwünschten Bilder von ihm und der Tierärztin ansehen musste.

Nach dem Grillen fragte Ace, ob wir Nachspeise zu Hause hatten, aber das hatten wir nicht, und Trish fragte in die Runde, ob wir nicht alle ein Eis holen und ein bisschen spazieren gehen wollten.

Dad und Trish gingen voran, Ace und Noa händchenhaltend dahinter und Dee und ich bildeten mit lachhaft großem Abstand das Schlusslicht.

„Was hältst du von ihr?", fragte Dee irgendwann leise und schob sich die Sonnenbrille ins Gesicht. Ich hatte meine vergessen und kniff die Augen zusammen, ein Ausdruck, der mich bestimmt nicht grimmiger aussehen ließ als zuvor.

„War es nicht offensichtlich genug? War ich zu subtil?", hakte ich besorgt nach. „Ich wusste es... Ich hätte sie doch ankotzen sollen."

Dee entfuhr ein Kichern. „Ich mag sie auch nicht." Damit überraschte sie mich. Eigentlich gab es nicht viele Menschen, die Dee nicht mochte. Selbst mich schien sie nach all den Jahren noch immer irgendwie gerne zu haben, was ich ihr in Anbetracht der ganzen Tiraden, die ich schon veranstaltet hatte, hoch anrechnete. Zwar war sie beim Essen vorhin ruhiger als sonst gewesen, aber das hatte daran gelegen, dass sie sich so klein und unsichtbar wie möglich gemacht hatte, weil Noa ihr sofort verfallen und die ersten zwanzig Minuten an ihr gehangen war, wie eine Klette, aber nachdem Ace sie abgelenkt und Dee kurz verschwunden war, hatte sich der Nebel in Noas Kopf gelichtet und Dee hatte sich unbemerkt weit weg von ihr an den Tisch gesetzt, und kein Wort mehr gesagt, damit Noa nicht wieder in ihren Bann gezogen wurde. Dass sie Aces Freundin also nicht mochte, konnte durchaus daran liegen, dass sie sich den gesamten Nachmittag zurücknehmen musste. Bestimmt hatte Noa ihr damit auch den Appetit verdorben.

„Ich finde, die beiden passen nicht zusammen", fuhr sie fort. „Was will er von einem gewöhnlichen Menschen? Das kann doch auf Dauer nicht klappen."

„Du lässt doch selbst ständig Kerle aus deiner Hand fressen. Normale Kerle", erinnerte ich.

„Ja, und wie oft bringe ich einen von denen zum Essen nach Hause?", gab sie bissig zurück und warf sich die roten Haare über die Schulter. „Ace wollte Noa mit auf Allys Geburtstag nehmen. Stell dir das mal vor! Ein gewöhnlicher Mensch inmitten unserer Familie."

Ja, das hatte er vor zwei Tagen tatsächlich beim Abendessen gefragt. „Sag mal, hast du sie nicht mehr alle?!", hatte ich gefaucht und mein Glas so heftig abgestellt, dass das Mineralwasser darin übergeschwappt war. Er konnte doch nicht wirklich so blind vor Hormonen sein, dass er dachte, es wäre eine gute Idee, nicht nur ein Mädchen auf Allys Geburtstag mitzubringen, sondern auch noch inmitten unserer verqueren Hexen- und Dämonenfamilie. Ace hatte mich nur wütend angestarrt, aber ich hatte mindestens genau so sauer zurückgestarrt. „Soll das etwa dein Geburtstagsgeschenk für Ally sein? Du bist so ein Vollpfosten!"

„Freya", hatte Dad gemahnt, aber ich fand, dass jemand, der so blind vor Liebe war, dass er eine Herde pinker Elefanten mit einem Sack Diamanten selbst dann nicht gesehen hätte, wenn sie direkt vor ihm über die Straße marschiert wäre, durchaus als Vollpfosten bezeichnet werden konnte. Es war mir egal, wie sehr Noa Teil von unserem Familiengeschehen sein wollte und wie sehr sie ihn anbettelte, dass er sie auf Geburtstage mitnahm.

Noa würde niemals Teil unserer Familie sein!

Gut, dass zumindest Dee und Ally es genauso sahen. „Ich hab keine Lust, mich ständig zu verstecken und dauernd aufzupassen, dass ich ja nicht über Magie oder Übernatürliches rede. Ich darf überhaupt nicht reden! Sie hätte ja fast lieber mir die Zunge in den Mund gesteckt als Ace."

Ace drehte sich zu uns zurück und obwohl er mit Noa bestimmt zwanzig Meter vor uns lief, erkannte ich seinen grimmigen Blick.

„Wer die Wahrheit nicht ertragen kann, sollte niemanden belauschen, Bruderherz", murmelte ich und er drehte sich wieder um. „Unfassbar. Tut immer so, als könnte er es nicht, aber wenn es um seine Freundin geht, funktioniert es reibungslos."

Er zeigte mir hinter seinem Rücken den Mittelfinger.

Dee und ich verfielen für den Rest des Weges wieder in Schweigen und die anderen warteten vor der Eisdiele auf uns. Dee ließ ihre Haare ins Gesicht fallen und kehrte Noa so gut es ging den Rücken zu. Ich beneidete sie ein wenig dafür. Ich hätte das nie gekonnt, ohne von Trish und Dad einen tadelnden Blick zu ernten.

Als Noa und Ace ihr Eis hatten, zog mein Bruder sie ein paar Schritte von uns weg, damit Dee ungestört bestellen konnte.

„Was darf es für dich sein?", fragte die junge Frau hinter der Vitrine Dee.

„Ich nehme... Vanille und Schokolade, bitte. In einer Tüte. Die mit den Streuseln wäre nett."

„Was denn, nur zwei Kugeln? Willst du nicht noch eine dritte? Erdbeere kann ich wirklich empfehlen!", strahlte die Verkäuferin Dee an und wäre vielleicht über die Vitrine zu ihr geklettert, wenn sie es gekonnt hätte. Okay. So ungestört wie es bei Dee eben ging. Heute schien einer der ganz beschissenen Tage für sie zu sein. Sie tat mir beinahe leid.

„Nein, danke", lächelte sie.

Letzten Sommer hatte Trish Erdbeeren im Garten angepflanzt und als die ersten reif geworden waren, hatte es die Erdbeeren mit Schlagsahne zum Nachtisch gegeben, aber Dee hatte keine gewollt und auf Trishs Nachfrage, hatte sie gesagt: „Ich habe heute keine Lust auf was Scharfes."

In dem darauffolgenden Gespräch hatte sich unsere Verwirrung darüber, warum zu Hölle sie fand, dass Erdbeeren scharf schmeckten, und ihre Verwirrung darüber, warum zur Hölle wir fanden, dass es nicht so war, ziemlich bald in die Erkenntnis umgewandelt, dass Dee eine Erdbeerallergie und ihr Leben lang geglaubt hatte, dass Erdbeeren einfach scharf waren und es normal war, dass einem danach die Zunge und der Magen wehtaten.

„Aber es ist wirklich gut!", versuchte es die Frau weiter. „Es ist ganz frisch gemacht aus echten Erdbeeren. Es ist meine Lieblingssorte, es wird dir bestimmt schmecken."

„Lieber nicht."

Die Verkäuferin beugte sich zu ihr und lächelte. „Weißt du was? Die Erdbeerkugel geht aufs Haus!"

Dee lächelte immer noch. „Danke, das ist lieb..."

Die junge Frau wirkte überglücklich, als sie Dee die Erdbeerkugel als oberste auftürmte. „Hier, bitte sehr!" Sie reichte Dee die Tüte.

„Auch noch oben drauf...", murmelte sie unglücklich, als sie sich abgewandt hatte.

„Ich nehm einen Eisbecher, dann tun wir sie runter", erwiderte Dad und schob Dee aus dem Blickfeld der Verkäuferin, die es kaum schaffte, sich von ihr loszureißen.

„Und für dich?", fragte die Eisverkäuferin dann an mich gewandt, immer noch freundlich, aber nicht halb so strahlend wie bei Dee.

„Pistazie und Vanille." Die Frau begann das Pistazieneis aus den Boxen zu schaben.

„Schmeckt es gut?", hörte ich Ace Noa fragen, die ihr Eis sichtlich genoss und ich schaffte es nicht, die beiden zu ignorieren. Noa sah zu ihm auf, blinzelte ihn aus großen Augen unschuldig an und meinte: „Sag du es mir." Dann stellte sie sich auf die Zehen und er neigte sein Gesicht zu ihr und ich wandte den Blick von dem Brechreiz ab.

„Willst du die Kugeln im Becher oder in einer Tüte?", fragte die Frau.

„In meinen Kopf, bitte", nickte ich ihr trocken zu.

„Freya!", mahnte Trish kopfschüttelnd und wandte sich halb entschuldigend, halb genervt an die verblüffte Verkäuferin. „Sie findet das witzig. In einem Becher, bitte."

Trish wusste, dass ich fand, dass man Eiscreme nicht mit etwas Knusprigen wie einer Waffel mischen sollte, aber im Augenblick konnte ich ihr keine Dankbarkeit für diese kleine Aufmerksamkeit entgegenbringen. Dad und Trish bestellten sich beide ebenfalls ein Eis im Becher und Dad beförderte Dees unfreiwillige Kugel Erdbeereis auf dem Weg zurück nach Hause mit dem kleinen Plastiklöffel in seinen Becher und schabte alle Reste herunter.

„Danke", seufzte Dee erleichtert. „Hätte sie mir nicht was anderes aufs Auge drücken können? Haselnuss oder so..."

„Oh, buhu", machte ich genervt. „Wie tragisch, dass dir die Menschen gratis Essen nachwerfen."

„Freya", mahnte Dad, aber Dee gab nichts darauf.

„Dad?" Ace, der mit Noa vor uns ging, drehte sich um. „Kann Noa heute bei uns übernachten?"

„Gott, bitte nicht", murmelte ich ungläubig und Dee warf mir einen bitteren Blick zu.

„Haben wir ihm irgendwas getan?", wisperte sie mir zu und schüttelte den Kopf.

Ich spürte, dass Dad verneinen wollte, obwohl ihm das bei Noas lieblichem, unschuldigen Blick sicher nicht leichtgefallen wäre, aber Trish stieß ihn unmissverständlich an und ich hasste sie dafür.

Dad seufzte unmerklich. „Wenn ihre Eltern einverstanden sind."

Noa hüpfte aufgeregt neben Ace auf und ab und griff nach seiner Hand.

„Hey, Moment mal!", protestierte Dee. „Warum darf Aces Freundin bei uns schlafen, aber meine Freunde dürfen das nicht?"

„Dein Bruder ist siebzehn, du bist fünfzehn", sagte Dad schlicht, genervt, weil er nicht dazu kam, sein Eis zu löffeln.

„Aber-"

„Plädoyer abgeschlossen."

„Dad-"

„Iss dein Eis."

„Mom!", winselte sie, aber Trish schüttelte den Kopf.

„Tut mir leid, aber in dem Punkt gebe ich deinem Vater recht. Wir reden in einem Jahr nochmal drüber."

Missmutig schob sie die Unterlippe vor und starrte geradeaus. Ich seufzte tief und steckte meinen Löffel entschieden ins Eis.

„Dad?", fragte ich.

„Was ist denn?", stöhnte er genervt.

„Kann ich heute bei Ally schlafen?"

~~ ~~

„Okay, hör auf, hör auf, hör auf!", rief Nicholas, als ich nicht mehr auf meine Deckung achtete und mich auch nicht mehr zurückhielt, sondern blind vor Wut auf ihn einschlug. Aber ich hörte nicht auf. Ich konnte nicht. Ich war so unfassbar wütend. Auf meinen Bruder und seine dämliche Freundin, auf Ally und ihr beschissenes Monster, auf Dad und Trish und auf Mrs. Jennings und wer auch immer mich bei ihr angeschwärzt hatte. Der Zorn fraß mich auf und er hatte eine Grenze erreicht, an der ich nicht einfach zurückkehren konnte. Nicholas war ein Jäger, wenn es jemand aushalten oder abwehren konnte, dass ich mit voller Kraft auf ihn losging, dann er.

Und so war es auch. Es dauerte keine zehn Sekunden, nachdem er mir gesagt hatte, dass ich aufhören sollte, ihn blind zu verprügeln, als er mich auf der Matte niedergerungen hatte und das so geschickt, dass mir all meine Dämonenstärke nichts brachte, denn wenn ich mich befreit hätte, hätte ich mir bestimmt etwas gebrochen.

„Geh runter von mir!", fauchte ich atemlos und stemmte mich gegen sein Gewicht.

„Hast du dich beruhigt?"

„Geh sofort von mir runter, oder ich verpass dir einen Abschiebestempel zurück nach Oregon zwischen deine Beine!"

Er schnaubte und stemmte sich hoch. Ich blieb noch einen Augenblick auf dem Rücken liegen, um durchzuatmen.

Als ich mich schließlich auf die Ellenbogen stemmte, stand der Jäger am Rand des Rings und trank seine Flasche in fast einem Zug leer. Schweratmend betrachtete er mich.

„Wenn du vorhast, mich umzubringen, nimm bitte ein Messer. Oder eine Pistole. Geht schneller und tut nicht so weh."

„Ich will dich nicht umbringen." Zumindest nicht im Augenblick.

Mit einem kleinen Handtuch trocknete er sich den Schweiß vom Gesicht. „Ich hab gesagt, ich bring dir das Kämpfen bei, nicht das blinde Einschlagen auf einen Boxsack. Dafür brauchst du mich nicht."

Ich ließ mich wieder auf den Rücken fallen und starrte die Metallstäbe an der Decke an, die das Konstrukt über uns zusammenhielten. Es war spät, wir waren allein hier unten, weil er mir seit zwei Wochen Kampftechniken beibrachte, die nicht bloß auf Stärke beruhten, aber jedes Mal, wenn er kurz davor war, mich zu besiegen oder in einem imaginären Szenario umzubringen, verlor ich die Kontrolle, fühlte mich hilflos, wurde wütend und vergas, dass es kein echter Kampf war. Letzte Woche hätte ich ihm fast eine Rippe gebrochen. Er hatte zwei Ibuprofen geschluckt und war am nächsten Tag wieder gekommen. Die Blutergüsse zeichneten sich trotzdem noch immer an seinem Oberkörper ab.

Wenn mir vor drei Monaten jemand gesagt hätte, dass ich in diesem Bunker mutterseelenalleine mit einem Jäger sein und mir von ihm ein paar nützliche Kampftechniken beibringen lassen würde, hätte ich mir vermutlich eine Ohrfeige verpasst. Oder ich hätte gelacht und so etwas wie: „Guter Witz, aber so blöd bin nicht mal ich", gesagt.

Irgendwann rappelte ich mich auf, ließ den Kopf kreisen, um meinen Nacken zu lockern und der Jäger warf mir meine Wasserflasche zu. Ich fing sie auf und merkte erst, wie durstig ich war, als ich sie genauso gierig leerte wie er seine.

„Das reicht für heute", beschloss er. „Wir waren fast drei Stunden hier unten."

„Wirklich?" Es hatte sich nach deutlich weniger angefühlt und meine Muskeln jauchzten nach mehr. Das angenehme Gefühl der völligen Ruhe nach einem Training oder Kampf hatte mich noch nicht überkommen. Ich hätte noch Stunden so weitermachen können, aber obwohl der Jäger bestimmt Ausdauer hatte, war er eben auch nur ein Mensch. Er hielt einiges aus, aber nicht so viel wie ich, dafür konnte ich ihm keinen Vorwurf machen.

„Hast du Hunger?", fragte er. Er fragte es fast jedes Mal, seit wir regelmäßig zusammen trainierten, aber meist musste ich zum Abendessen nach Hause, damit es nicht noch mehr auffiel, dass ich in letzter Zeit öfter weg war als sonst. Aber heute waren Dad und Trish beide nicht da, und ich hatte keine Lust, Ace über den Weg zu laufen, der bestimmt wieder seine Freundin im Schlepptau hatte, also nickte ich.

„Von mir aus. Aber ich will vorher duschen."

Ich sperrte die Türe zu den Duschkabinen ab und rüttelte sicherheitshalber daran. Ich glaubte zwar nicht, dass der Jäger dreist genug war, mich beim Duschen zu beobachten, aber sicher war sicher. Ich ging hier nie duschen, ich fand es widerlich, aber ich wollte auch nicht völlig verschwitzt beim Abendessen sitzen.

Es tat mir fast leid, wie sehr ich auf Nicholas eingeschlagen hatte. Meine Wut galt nicht ihm und ich hatte ihm bestimmt wieder mehr als nötig wehgetan. Ich kam zwar auch selten völlig unbeschadet aus unseren Kämpfen, seit er bemerkt hatte, dass ich einiges wegstecken konnte, aber meine Blutergüsse und Verstauchungen heilten in Null Komma Nichts, weshalb ich mir größte Mühe gab, jegliche Verletzungen vor ihm zu verstecken, damit er sich nicht wunderte, wenn sie plötzlich wieder weg waren. Zwar hatte ich schon einmal fallen lassen, dass ich eine schnelle Wundheilung hatte, aber ich musste mein Glück ja nicht überstrapazieren.

Als ich frisch geduscht und angezogen wieder bei den Schließfächern stand und meine Sachen in die Sporttasche stopfte, musste ich wirklich finster ausgesehen haben, denn der Jäger betrachtete mich mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Was ist?", blaffte ich.

„Hast du da drinnen irgendwie schlechte Nachrichten gekriegt?"

„Halt den Mund. Sonst kannst du gleich allein essen."

Er verbiss sich ein Grinsen. „Wohin gehen wir denn?"

Wir entschieden uns für Pasta und fanden in der Nähe ein Pizzarestaurant. Mir knurrte schon beim Betreten des Ladens wie verrückt der Magen, weil es so gut roch. Gemeinsam setzten wir uns an einen Tisch, von dem aus man alles gut überblicken konnte -eine Eigenheit, die ich an dem Jäger schnell bemerkt hatte. Egal, wann oder wo, er hatte gerne alles im Blick und die ersten paar Sekunden, in denen wir uns setzten und auf die Speisekarten warteten, sah er sich kaum merklich genau um. Wo die Ausgänge waren, wo die Küche war, wo die Toiletten, wie viele Gäste. Mir hingegen war es ziemlich egal wo wir saßen, Hauptsache wir bekamen bald ordentlich zu essen, sonst hätte ich einen jeden Angreifer höchstens mit meinem knurrenden Magen in die Flucht schlagen können!

Ich schaufelte die Pasta wie nach jedem Kampf nur so in mich hinein. Vielleicht war es auch eine Kompensationshandlung, weil ich immer noch wütend war und nicht wusste, wohin mit meinem Ärger. Am liebsten hätte ich Tische und Stühle durch die Gegend geworfen, aus vollem Leib gebrüllt und jedem Menschen ins Gesicht gesagt, dass er mich am Arsch lecken konnte. Als ich alles verputzt hatte, wischte ich mir mit einer Serviette den Mund ab, warf sie auf den Teller und stieß einen wohligen Seufzer aus.

„Besser?", fragte der Jäger.

Ich sah auf. Er hatte nicht einmal halb so viel zu essen bestellt und war längst fertig. „Was?"

„Ob es dir besser geht." Er verschränkte die Finger ineinander. „Warst du nur hungrig oder generell schlecht gelaunt?"

„Entgegen der Snickers-Werbung soll es auch Menschen geben, deren Probleme sich nicht mit Essen lösen lassen."

„Schon, aber du musst zugeben, dass Essen ungefähr achtzig Prozent der Probleme besser macht."

„Wenn du das sagst..." Ich trank den Rest meiner Cola aus und reckte den Hals, um noch einen Kellner oder eine Kellnerin zu finden. Ich brauchte noch etwas zu trinken.

„Willst du drüber reden?", fragte Nicholas.

„Das würdest du sowieso nicht verstehen."

„Du hältst mich also für emotional so eingeschränkt, dass ich die Probleme einer anderen Person nicht nachvollziehen kann?"

„Goldrichtig", nickte ich trocken, doch sein auffordernder Blick lockerte sich nicht und ich gab nach. „Ich bin... einfach sauer."

„Das hab ich gespürt." Er rieb sich übers Brustbein, das ich mit meinem Fuß ordentlich erwischt hatte. „Mir ist fast die Luft weggeblieben."

Ja, seine Oberarme wiesen auch ein paar dunkle Flecken auf. Gut, dass er meinen Schlag in sein Gesicht abgewehrt hatte, sonst hätte er jetzt mit einem Veilchen da sitzen dürfen. Ich riss einen Streifen der Papierserviette herunter und zerknüllte ihn zwischen meinen Fingern. „Entschuldige..."

„Warum bist du sauer?"

„Hat viele Gründe."

„Zum Beispiel?"

Ich hätte einen Grund erfinden können, aber mir war nicht danach. Irgendetwas in mir wollte mit ihm reden. Wirklich mit ihm reden. Ohne Lügen. Das konnte daran liegen, dass ich ohne Ace nicht wirklich jemanden hatte, mit dem ich alles teilte. Klar, Ally erzählte ich so gut wie alles, aber seit der Sache mit ihrem Monster, war für Kleinigkeiten kein Platz mehr. Und über Noa wollte ich mit ihr erst recht nicht reden. Das hätte sie nur unnötig verletzt.

Eigentlich hatte ich mir geschworen, dem Jäger nichts von meiner Familie zu erzählen, aber...

„Mein blöder Bruder hat eine blöde Freundin..."

Er beugte sich interessiert nach vorne. „Klingt nach einer blöden Situation."

„Idiot."

Er grinste schief. „Entschuldige. Warum bist du so sauer darauf?"

„Ist kompliziert", seufzte ich und gab der Kellnerin, die an mir vorbeieilte per Handzeichen zu verstehen, dass ich noch eine Cola wollte. Sie nickte und verschwand in der Küche. Ich richtete den Blick wieder auf Nicholas. „Sagen wir einfach, mir gefällt es nicht, dass die beiden zusammen sind."

Es klang nicht sonderlich nachvollziehbar, wenn man den Hintergrund nicht kannte, das war mir klar, aber er hatte gefragt.

„Hm", machte er und für einen kurzen Moment glaubte ich, dass er sich kein Stück dafür interessierte, aber dann sagte er: „Das klingt in der Tat kompliziert."

Ich winkte ab. „Schon okay, das kapierst du nicht, du hast keine Geschwister."

„Nein", stimmte er zu. „Aber ich weiß trotzdem, wie sich Eifersucht anfühlt."

„Eifersucht?" Ich lachte trocken auf, aber seine Augen meinten es völlig ernst. „Ich bin doch nicht eifersüchtig!" Die Kellnerin stellte meine Cola vor mir ab und nahm das leere Glas mit, aber ich konnte mich nicht einmal bei ihr bedanken, so perplex war ich von seiner Andeutung, ich könne eifersüchtig sein.

Er zog die Schultern hoch und ich fand, dass er nicht so aussah, als wolle er mich aufziehen. „Ich meine ja nur. Wenn man sich gut mit jemandem versteht und derjenige plötzlich einen Freund oder eine Freundin hat... passiert es bestimmt schnell mal, dass man auf den zweiten Platz rutscht."

„Du kennst mich nicht. Woher willst du wissen, wie gut ich mich mit meinem Bruder verstehe?"

„Verstehst du dich gut mit ihm?", hakte er nach, aber sein wissender Gesichtsausdruck ersparte mir jede Antwort. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und ließ mich zurück in den Stuhl fallen.

War ich bei Ace wirklich an zweite Stelle gerutscht? Nein, sowas würde nie passieren. Wir waren Ace und Freya. Wir waren die Zwillinge. Uns gab es nur im Doppelpack. Und doch hatten wir uns so heftig zerstritten über weiß der Himmel was, dass wir seit Tagen kaum ein Wort wechselten. In der Schule aßen wir noch zusammen in der Mittagspause am selben Tisch, aber nur aus Gewohnheit. Er hatte seine Kopfhörer im Ohr und ich machte meine Hausaufgaben. Er hatte sich nicht bei mir für seine Worte entschuldigt und ich mich nicht bei ihm. Und solange Noa an seiner Seite war, würde er nicht zugeben müssen, dass er unrecht hatte. Und ich würde mich nicht entschuldigen, dafür war ich zu stolz, also lief es darauf hinaus, dass die Eiszeit zwischen uns bestehen bleiben würde.

Heilige Scheiße, war ich dabei meinen Bruder zu verlieren? Meinen besten Freund? Den Menschen, mit dem mich mehr verband, als irgendetwas anderes auf der Welt?

„Mein Bruder und ich", fuhr ich zögerlich fort. „Wir sind... Es ist..." Mir fehlten die Worte.

„Kompliziert?", bot der Jäger an, aber es klang nicht spöttisch. Ich legte meine Finger um das Glas und betrachtete die aufsteigenden Bläschen.

„Mein Bruder und ich sind eigentlich unzertrennlich. So war das schon immer. Er ist mein bester Freund. Ich hätte niemals gedacht, dass es irgendetwas geben könnte, dass uns entzweit. Und dann kommt diese blöde Kuh und-"

„Nimmt ihn dir weg", vervollständigte er meinen Satz und nickte. „Das ist der Inbegriff von Eifersucht."

Vielleicht hatte Nicholas recht. Vielleicht war ich eifersüchtig, aber wenn es so war, dann hatte ich jedes Recht dazu. Ich war seine Zwillingsschwester, wie kam er bloß dazu, mich einfach so links liegen zu lassen, bloß weil ihm eine hübsche Brünette zweimal am Tag die Zunge in den Mund schob? Wie konnte er mir einfach so ins Gesicht sagen, dass er mich nicht brauchte?

„Ist mir eigentlich auch egal", sagte ich dann und richtete mich auf. „Mein Bruder kann mich mal. Soll er mit Dr. Dolittle eine Farm gründen und glücklich werden."

Ich trank einen Schluck meiner Cola und als ich wieder aufsah, bemerkte ich, wie amüsiert der Jäger mich beäugte. „Dr. Dolittle?"

„Sie will Tierärztin werden", erklärte ich abschätzig.

„Schade. Als Schlächterin hätte sie dir immerhin ein Motiv für deine Abneigung gegeben." Einige Sekunden lang betrachtete ich ihn unbewegt. „Wie nennst du mich denn, wenn ich nicht dabei bin?"

Ich schmunzelte freudlos. „Netter Gedanke, aber glaub bloß nicht, dass ich über dich rede."

Nachdem wir unser Essen bezahlt hatten und das Restaurant verließen, fragte er: „Soll ich dich nach Hause bringen? Ich weiß ja jetzt, wo du wohnst."

„Danke, aber ich finde immer noch allein Heim."

„Na schön. Sehen wir uns morgen wieder?"

Ich deutete auf seinen Oberkörper. „Willst du dir nicht einen Tag Pause gönnen?"

„Willst du mich beleidigen?", grinste er.

Ich spitzte die Lippen. „Von mir aus. Selber Ort, selbe Zeit?"

Erst als ich im Bus saß und den Tag Revue passieren ließ, fiel mir auf, dass der Jäger mich heute kein einziges Mal als Mädchen bezeichnet hatte.

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