16
Ace
Freya hasste meine Freundin.
Sie sagte es mir zwar nicht explizit ins Gesicht, aber ich konnte zwischen den Zeilen lesen und meine Schwester war ohnehin ein offenes Buch für mich.
„Wieso denn nicht?"
„Weil ich sie nicht kennen lernen will", wiederholte sie genervt zum fünften Mal.
„Aber warum?"
„Weil ich sie nicht mag." Gut, jetzt hatte sie es mir explizit ins Gesicht gesagt. Ich verdrehte die Augen.
„Das weißt du doch gar nicht."
„Und ob ich das weiß."
„Aber du kennst sie nicht."
„Das ist kein Unglück, Ace."
Sie gab die Zahlenkombination an ihrem Schließfach ein und zog die Schranktüre auf, um ihr Chemiebuch zu verstauen, als ein zusammengefalteter Zettel aus dem offenen Spind zu ihren Füßen segelte. Ich bückte mich und hob ihn auf. Freya griff danach, aber ich zog ihn rasch weg.
„Wenn du meine Chatnachrichten lesen darfst, darf ich deine Liebesbriefe lesen."
Kopfschüttelnd stellte sie ihr Buch ins Schließfach und zog das Literaturbuch heraus. „Das ist bestimmt kein Liebesbrief."
Ich faltete das Blatt auseinander. „Freya. Willst du mit mir zum Abschlussball gehen? -Mike", las ich vor und sah sie vielsagend an.
„Okay, mea culpa." Sie verdrehte die Augen. „Aber wer ist Mike?"
Ich dachte nach, aber mir fiel niemand ein. „Da steht eine Telefonnummer drauf."
„Mike", murmelte Freya und schlug die Spindtüre zu. „Mike... Nein, da klingelt echt nichts bei mir."
Ich faltete den Zettel wieder zusammen und gab ihn ihr. Zu meiner Überraschung steckte sie ihn vorne in ihr Literaturbuch. „Du willst doch auf den Abschlussball gehen?"
„Nein, ekelhaft. Wer behauptet denn sowas?"
„Warum hebst du die Nummer dann auf?"
Sie kniff die Augen zusammen. „Warum stellst du heute so viele Fragen?"
„Warum gehst du all meinen Fragen aus dem Weg?"
„Machst du dich über mich lustig?"
„Tu ich das nicht immer?"
Wir hörten mit dem Fragenspiel erst auf, als wir uns im Klassenraum auf unsere Plätze setzten. Ms Mercer war noch nicht da und ich warf noch einen raschen Blick auf mein Handy, um Noa auf ihre letzte Nachricht zu antworten und schrieb: Ich warte nach der Schule auf dich, dann machen wir was zusammen.
Sie hatte zwar eine Stunde nach mir aus, aber das machte nichts.
Ms Mercer betrat den Klassenraum und ich schob mein Handy schnell in meine Tasche, damit sie es mir nicht wieder abnahm. „Hallo, hallo, alle zusammen!", rief sie gut gelaunt. „Holt bitte gleich eure Buchbesprechungen raus, damit ich sie absammeln kann."
Ich packte Freya erschrocken am Arm. „Der Aufsatz!", zischte ich, aber sie sah mich nur ausdruckslos an.
„Hast du ihn etwa bei deinen ganzen Liebelein vergessen?", zog sie mich unschuldig auf.
„Du hättest mich ruhig dran erinnern können."
„Hätte ich. Und du hättest mich die letzten zwei Wochen nicht wie Luft behandeln können. Aber man kriegt nicht immer, was man will."
Ms Mercer stand vor unserem Tisch und Freya hielt ihr ihre Buchbesprechung hin.
„Ace?", fragte Ms Mercer, während sie die Hausaufgabe meiner Schwester entgegennahm.
„Ich... hab den Aufsatz nicht", gab ich leise zu. Ms Mercer sah mich an, als hätte ich einen Hund totgetreten. Vielleicht, weil ich in den vier Jahren, in denen sie meine Lehrerin war, nicht eine einzige Hausaufgabenfrist verpasst hatte.
„Okay...", sagte sie langsam. „Wieso?"
„Hat private Gründe."
Sie nickte. „Gut, du kennst ja meine Regel. Einmal pro Semester ist es okay, die Abgabefrist ohne Konsequenzen drei Tage nach hinten zu verschieben. Schaffst du den Aufsatz bis Freitag?"
Ich nickte eifrig. „Ja. Danke!"
Sie sammelte weiter die Hausaufgaben der anderen ein und Freyas Genugtuung darüber, dass ich die Buchbesprechung vergessen hatte, machte mich rasend. Am liebsten hätte ich sie gefragt, warum sie sich so kindisch benahm, nur weil ich jetzt eine Freundin hatte, aber diese Diskussion wollte ich nur dann mit ihr führen, wenn ich dabei laut werden konnte.
„Also, dann", lächelte Ms Mercer in die Klasse, als sie wieder vorne an der Tafel stand. „Wer will kurz zusammenfassen, worüber wir letzte Stunde geredet haben?"
Der Unterricht zog sich wie Kaugummi. Ich wollte nur, dass der Schultag vorbei war, damit ich mich erst mit Noa treffen und dann mit Freya streiten konnte.
Es war fünfzehn Minuten vor Ende des Unterrichts, als es an der Türe klopfte und die Direktorin, Mrs. Jennings hereinschaute. Sie war eine kleine Frau mit kurzen roten Haaren und ließ sich so gut wie nie blicken, deshalb wurde es augenblicklich mucksmäuschenstill in der Klasse.
„Darf ich kurz stören?", lächelte sie und Ms Mercer lächelte höflich zurück.
„Natürlich. Wie können wir helfen?"
„Ich möchte nur einen Augenblick mit einer ihrer Schülerinnen sprechen. Darf ich Miss Catrell für ein paar Minuten auf den Flur bitten?"
Freya hob den Kopf und alle Blicke, meiner eingeschlossen, schossen zu ihr.
Was hast du angestellt?, fragte ich.
Gar nichts. Sie warf mir einen halb verärgerten, halb besorgten Blick zu und sah dann zu Ms Mercer, die ebenfalls irritiert schien. Kein Wunder. Freya und ich waren keine auffälligen Schüler. Und innerhalb einer Stunde hatte ich meine Hausaufgaben vergessen und Freya wurde von der Direktorin aus dem Klassenzimmer gebeten.
„Warum?", fragte Freya Mrs. Jennings misstrauisch.
Glaubst du, es ist was mit Dad?, fragte sie.
Nein, dann würde sie doch mit uns beiden reden wollen.
Die Direktorin lächelte sie an, aber es wirkte nicht ganz echt. „Reden wir lieber vor der Türe."
„Wissen Sie, wenn jemand so dringend mit mir unter vier Augen sprechen will, neige ich ein wenig dazu das Gegenteil zu verlangen."
Jetzt verrutschte das Lächeln der Direktorin und ich spürte die Unruhe unter den anderen.
Spinnst du, so mit ihr zu reden?!
Dad sagt doch immer, wenn uns was komisch vorkommt, auf jeden Fall für Zeugen sorgen!
Das hat er damit bestimmt nicht gemeint!
Die Direktorin richtete sich auf und verschränkte die Hände vor dem Körper. „Miss Catrell, Sie verstoßen gegen die Kleiderordnung an unserer Schule. Jemand hat sich beschwert."
„Wie bitte?" Freya lachte ungläubig auf, während sie in das starre Gesicht der Direktorin blickte und merkte, dass das alles kein Witz war.
Ich hab doch gesagt, die Hose ist hässlich.
Halt den Mund.
Ich kniff die Lippen zusammen und unterdrückte ein schadenfrohes Grinsen. Vielleicht war das die karmische Gerechtigkeit dafür, dass sie mich nicht an die Buchbesprechung erinnert hatte.
„Wogegen soll ich verstoßen haben? Und wer hat sich beschwert?"
Die Direktorin wirkte zunehmend genervter. „Unsere Schulordnung verbietet es, Kleidung zu tragen, bei der BH oder BH-Träger sichtbar sind."
Ich betrachtete Freya. Es hatte heute fast vierzig Grad draußen, der heißeste Tag des Jahres bisher und meine Schwester trug ein dunkles Oberteil mit Spaghettiträgern.
Freyas Augenbrauen wanderten so weit nach oben, dass ich glaubte, sie würden gleich in ihrem Haaransatz verschwinden. „Meine BH-Träger? Darf die Welt nicht wissen, dass ich einen BH trage? Ist das ein Geheimnis? Wussten die Leute vor dem heutigen Tag nicht, dass ich Brüste habe?"
Die Direktorin seufzte angespannt. „Könnten wir darüber bitte auf dem Flur sprechen?"
„Dann darf man wohl auch nicht von mir wissen, dass ich eine Frau bin und einmal im Monat in die Watteflügel blute, ja? Was wenn mein Bruder einen BH tragen würde, nur so zum Spaß, und man da den Träger sehen würde, würden Sie dann auch zu ihm sagen, dass das nicht geht?"
Brems dich endlich!, fluchte ich, weil ich den Schulverweis schon auf uns zukommen sah.
„Miss Catrell-"
„Hey, wenn es um meinen BH geht, kann ich ihn gerne ausziehen!" In einer schnellen Bewegung hatte sie sich beide BH Träger von den Armen geschoben, den Verschluss geöffnet und ihn unter ihrem Shirt hervorgezogen und auf unseren Tisch geknallt. „Da! Problem gelöst!"
Ich presste meine Fast gegen den Mund. Wahrscheinlich würde es Die Catrells bald nicht mehr an dieser Schule geben, aber meine Schwester funkelte die Direktorin nur reuelos an. Ungläubiges Lachen ging durch die Reihen, irgendjemand pfiff anzüglich und ich überlegte ernsthaft, von nun an zu behaupten, Einzelkind zu sein. Sogar Ms Mercer wandte verhalten den Blick ab.
Freya war in letzter Zeit gereizter als sonst, auch wenn ich nicht recht wusste, woran das lag, aber das war einfach nur pure Dummheit.
„Ich muss doch sehr bitten!", schimpfte Mrs. Jennings in den Klassenraum, die anderen beruhigten sich und ihr Blick landete wieder auf Freya.
„Führen Sie dieses Gespräch mit meinem Vater. Ich kann Ihnen gerne noch einmal die Nummer von seiner Anwaltskanzlei aufschreiben." Sie liebte die Mein-Dad-ist-Anwalt Karte, aber ich war mir nicht sicher, ob die in diesem Fall von Nutzen sein würde.
„Worauf Sie sich verlassen können", knurrte die Direktorin. „Sie haben Glück, wenn wir Sie nach diesem Fehlverhalten nicht von der Schule verweisen!"
„Mein Fehlverhalten?!", schrie Freya und ich merkte, dass sie in Begriff war, aufzuspringen und hielt sie fest.
„Hör auf, verdammt!", zischte ich eindringlich und ihre angespannten Muskeln gaben ein wenig nach.
Die Direktorin stampfte hinaus, nicht aber ohne zu schimpfen: „Sie können sich darauf verlassen, dass ich das Ihrem Vater melden werde. So eine Unverschämtheit!"
Einen unfassbar langen Augenblick war es grauenvoll still im Klassenzimmer, bis Ms Mercer sagte: „Okay. Dann würde ich sagen... Da ich euch alle kenne, gehe ich nicht davon aus, dass ihr noch aufnahmefähig seid für heute. Und da wir nur noch zehn Minuten haben, lasse ich euch früher gehen."
Die anderen sprangen aufgeregt auf und packten ihre Sachen zusammen, während ich den schwarzen BH meiner Schwester mit den Fingerspitzen an einem der Träger vom Tisch angelte. „Sollen wir den jetzt dem Museum spenden? Dann können die sicher bald eine Sonderausstellung machen. Führung durch Freya Catrells unsagbare Dummheiten."
Sie riss mir den BH aus der Hand, stopfte ihn mit bitterbösem Blick in ihre Tasche, sprang auf und stürmte aus dem Klassenzimmer.
~~ ~~
Noa wollte bei allem unheimlich schnell sein. Sie hatte mich sofort geküsst, hatte sofort mit mir zusammen sein wollen, wollte sofort, dass ich ihre Eltern und ihre beste Freundin kennen lernte und sie meiner Familie vorstellte. Sie war bei allem schneller als ich und ich wusste nicht, wie ich sie bremsen sollte. Wenn ich das nicht bald in den Griff bekam, würde ich vorm Altar stehen, bevor ich mein Abschlusszeugnis in der Hand hatte.
Sie war mir immer drei Stufen voraus und ich hatte schon Angst wie die nächste Stufe aussehen und wann sie auf mich zukommen würde.
Wie vereinbart wartete ich nun auf Noa und da Freya ohnehin aus der Schule gerannt war und nicht auf mich gewartet hatte, konnte sie darüber immerhin nicht sauer sein. Wahrscheinlich saß sie in diesem Augenblick im Bus auf dem Weg nach Hause und verscheuchte mit ihrem grimmigen Blick alle möglichen Passagiere. Während ich vor der Schule auf meine Freundin wartete, schrieb ich Dad in einer kurzen Nachricht, dass er sich schon Mal auf einen Anruf unserer Direktorin freuen durfte, da ich davon ausging, dass Mrs. Jennings keine Zeit verstreichen lassen würde.
Was habt ihr angestellt?, kam Dads Nachricht zurück. Ich glaubte, dass er heute bei Onkel Aidan und Tante Bev zu Besuch war und sich so gar nicht über Ärger freuen würde. Der Wind zerzauste mir die Haare und genervt schob ich mir die Locken wieder und wieder aus dem Gesicht, aber Noa sagte mir immer, wie schön sie mich fand, wenn ich kein Bandana trug. Dass ich dann nicht viel von meiner Umgebung sah, schien nebensächlich zu sein.
Ich tippte ein Lass dich überraschen, als sich zwei schmale Arme von hinten um meine Hüften schlangen und sich eine Nase zwischen meine Schulterblätter drückte. Ohne die Nachricht abzuschicken, ließ ich mein Handy in meine Hosentasche gleiten und drehte mich zu Noa um, die mich anlächelte, den Hals reckte und mich küsste.
„Danke, dass du auf mich gewartet hast", lächelte sie dann und stupste meine Nase mit ihrer an.
„Immer. Und? Was willst du machen?"
„Ich brauche einen Eiskaffee!", seufzte sie und ich griff nach meinem Rucksack, der zwischen meinen Beinen stand, legte einen Arm um ihre Schultern und wir schlenderten vom Schulgelände. „Hat deine Schwester wirklich während des Unterrichts ihren BH ausgezogen?"
Ich kniff die Augen zusammen. „Das gibt's doch wohl nicht, dass du das schon gehört hast..."
„Ist das etwa wirklich passiert?" Ein Autofahrer ließ uns die Straße passieren und ich hob dankend die Hand in seine Richtung.
„Ich würde es gerne abstreiten." Wir steuerten das Café etwas weiter die Straße runter an. „Themenwechsel."
„Hast du deine Schwester gefragt, ob sie sich mal mit uns treffen will?"
„Themenwechsel", wiederholte ich.
Noa lachte. „Worüber willst du denn reden?"
„Wie war dein Tag?"
„Ich glaube, mit dem Thema wärst du auch nicht glücklicher..."
„Ist was passiert?" Ich warf ihr einen besorgten Blick zu.
„Naja, mein Highlight des Tages war, als meine Mathelehrerin in der letzten Stunde in die Klasse kam und den Unterricht mit den Worten: Wehe einer von euch zieht auch nur einmal seine Unterwäsche im Beisein der Direktorin aus, eröffnet hat."
Ich hielt Noa die Türe des kleinen Ladens auf. Sofort schlug mir der Geruch von gerösteten Kaffeebohnen und Töne von seichter Jazzmusik entgegen und eine junge Frau, vermutlich eine Studentin, lächelte uns hinter der Theke an.
„Hallo! Was kann ich für euch tun?"
Noa trat sofort an den Tresen. „Für mich einen großen Karamellfrappuccino mit braunem Zucker und extra Karamellsauce oben drauf, bitte."
„Solln wir nachher an einer Apotheke halten und schon Mal Insulinspritzen besorgen?", murmelte ich. Noa warf mir einen halb ärgerlichen, halb belustigten Blick zu, als sich die Studentin an mich wandte.
„Ich nehme nur einen großen Americano. Danke."
Noa zog die Augenbrauen hoch. „Da wird jemand heute Nacht gut schlafen." Ich legte wieder einen Arm um sie.
„Weißt du was? Du hältst dich aus meinem Kaffeekonsum raus und ich mich aus deinem."
„Einverstanden."
Ich zahlte die Getränke und wir positionierten uns etwas abseits neben eine große Topfpflanze und warteten, bis unser Kaffee fertig war.
„Ich hab da eine Frage...", meinte sie langsam und verschränkte ihre warmen Finger in meinen.
„Schieß los."
„Ich weiß ja, dass bei dir gegen zehn Sperrstunde ist, aber darfst du mal bei mir übernachten?"
„Wieso fragst du?"
„Nächstes Wochenende besuchen meine Eltern meine Tante. Ich bleibe aber hier, weil ich für Mathe lernen muss. Wir wären... das ganze Wochenende allein." Sie schwang unsere Arme leicht vor und zurück, legte den Kopf schräg und sah mich erwartungsvoll an. Es dauerte fast zehn Sekunden, bis bei mir der Groschen fiel.
Oh nein. Die nächste Stufe...
„Da muss ich erst noch meinen Dad fragen", versuchte ich ihre Vorfreude zu dämpfen. Ihr verführerisches Lächeln verschwand sofort.
„Du musst nicht kommen", lenkte sie ein und wandte den Blick ab. „Ich dachte nur, dass du dich vielleicht freust." Na wunderbar, jetzt war sie enttäuscht.
„Ich freu mich doch, es ist nur..."
„Ich fände es schön, wenn wir ein Wochenende für uns hätten."
„Ich fände es auch schön."
„Aber?", hakte sie nach.
Ich kam nicht mehr nach, sie wollte noch einen Zahn zulegen, aber langsam gingen mir die Zähne aus.
„Ich frag meinen Dad", wiederholte ich und hoffte, dass Dad einmal genug Anstand besaß, seinen Willen gegen Trishs durchzusetzen. Ich mochte Noa wirklich gerne und am liebsten hätte ich jede freie Sekunde mit ihr verbracht, aber ich wusste, was sie erwartet hätte, an einem Wochenende ohne ihre Eltern, ich war kein Idiot. Aber wir waren erst seit drei Wochen zusammen, ich war noch meilenweit davon entfernt, mir auch nur vorzustellen, mich vor ihr auszuziehen und Dinge zu tun, die ich noch nie in meinem Leben mit einem anderen Menschen getan hatte.
Unsere Getränke waren fertig und der Barista schob sie über die Theke zu uns. Eine seltsame Anspannung hatte sich zwischen Noa und mir ausgebreitet, die ich nicht recht deuten konnte. Sie ließ meine Hand los, um nach ihrem Becher mit dem Strohhalm zu greifen.
Hatte ich sie verletzt, weil ich nicht sofort Feuer und Flamme gewesen war? Dachte sie jetzt, dass ich nur mit ihr spielte und gar kein richtiges Interesse an einer Beziehung mit ihr hatte?
Diese ganze Datingsache verwirrte mich.
Als wir wieder draußen waren, sah sie mich an. „Ich muss eigentlich langsam nach Hause. Mathe."
Ich legte den Kopf schräg. „Noa..."
„Tut mir leid, ich hinke mit dem Stoff hinterher."
Ich glaubte ihr kein Wort. Sie konnte mich kaum ansehen, während sie das sagte. „Ich hab grad eine Stunde auf dich gewartet. Und du willst wirklich jetzt schon gehen?"
Jetzt sah sie mich direkt an. Allerdings mit zusammengezogenen Augenbrauen und kein bisschen glücklich. „Was soll das denn heißen? Niemand hat dich gezwungen, auf mich zu warten. Und das Wochenende willst du nicht mit mir verbringen, aber dreißig Minuten sind dir zu kurz?"
„So hab ich das nicht gemeint", wehrte ich ab. Ich hätte einen ganzen Tag auf sie gewartet, nur um sie fünf Sekunden küssen zu dürfen.
Noa betrachtete mich, das Getränk in beiden Händen, der Wind in den Haaren, und zog die Schultern hoch. „Ich dachte, dass du dich mehr freuen würdest, wenn wir ein Wochenende zusammen verbringen könnten."
„Ich hab doch gesagt, dass ich meinen Dad fragen werde."
„Das klang aber nicht gerade enthusiastisch. Willst du das Wochenende mit mir verbringen?"
„Ja, natürlich", sagte ich sofort, weil es vielleicht die einzige Möglichkeit war, diesen Streit zu schlichten. „Will ich. Wirklich. Es tut mir leid, dass ich dir das Gefühl gegeben habe, es wäre anders."
Mit dem Strohhalm zwischen den Lippen betrachtete sie mich nachdenklich. „Ich will dich nicht dazu zwingen, Zeit mit mir zu verbringen."
„Tust du nicht, ich wäre nicht hier, wenn ich es nicht wollen würde." Ihre Gesichtszüge wurden weicher und ich fühlte mich ein bisschen wie ein Hund, der sich darüber freute, das richtige Kunststück vollführt zu haben, und sein Frauchen zum Klatschen gebracht hatte. Ich wusste zumindest, dass ich das Richtige gesagt hatte. „Ich würde dieses Wochenende wirklich gerne mit dir verbringen", schob ich noch lächelnd nach und verringerte den Abstand zwischen uns.
„Okay." Ich konnte ihr süßliches Parfüm riechen, das sie auch bei unserem ersten Date getragen hatte. „Dann... fragst du deinen Dad heute? Und gibst mir sofort Bescheid?"
Ich nickte. „Versprochen."
Sie legte eine Hand, die von ihrem Frappuccino ganz kalt war, in meinen Nacken, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste mich. Es war ein so inniger, süßer Kuss, dass ich fast meinen Kaffee fallen ließ und ich hatte das Gefühl, dass sie mir einen Vorgeschmack auf ein Wochenende mit ihr geben wollte. Meine Knie waren ganz weich, als sie sich wieder von mir löste.
„Bringst du mich noch bis zum Bus?" Sie nahm meine Hand wieder in ihre.
Und da hatten wir ihn gehabt. Den ersten Beziehungsstreit nach nur drei Wochen. Noa wollte wirklich alle Rekorde brechen.
~~ ~~
Als ich am Abend nach Hause kam, hoffte ich eigentlich auf ein ruhiges Dinner mit meiner Familie. Weit gefehlt.
„Grace zahlt dieser beschissenen Schule jedes Jahr einen fetten Batzen Geld, da werde ich doch wohl an den paar Tagen im Jahr, an denen man in den Klassenräumen ein Spiegelei auf den Tischen braten könnte, weil sie zu geizig sind, die Klimaanlage im Mai anzuschalten, ein Top mit schmalen Trägern tragen dürfen!", hörte ich Freya schimpfen, als ich die Türe hinter mir schloss. Dad und Trish saßen am Küchentisch und meine Schwester tigerte im Wohnzimmer auf und ab. Dee war heute Abend mit Freunden im Kino und würde erst gegen neun wieder zu Hause sein, zumindest hatte sie das beim Frühstück angekündigt.
„Gott bewahre, dass die Jungs an meiner Schule wissen, dass ich einen BH trage! Darf sie mir das überhaupt verbieten? Ich bin sicher, das steht in keiner Kleiderordnung und ist das nicht Eingriff in meine Privatsphäre?! Die blöde Kuh hat sich wirklich getraut, das vor der ganzen Klasse anzusprechen!"
Dad ließ angestrengt den Kopf hängen und rieb sich die Schläfen. Ich fragte mich, wie lange Freya sich schon so aufregte. „Schulen können die Kleiderordnung festlegen, wie sie wollen", sagte Dad müde. „Aber Mrs. Jennings hätte das auf keinen Fall mit dir vor der Klasse besprechen dürfen und das habe ich ihr auch gesagt."
Freya lachte bitter auf und ich ließ meinen Rucksack von der Schulter gleiten, streifte mir die Schuhe ab und warf mich auf die Couch. „Na toll, du haust ihr kurz auf die Finger, weil sie mich bloßgestellt hat, und ich darf meine restliche Schulzeit nur noch im Burka rumrennen?"
„Mach es doch, wie du es ihr heute so elegant demonstriert hast", schlug ich vor und Dad warf mir einen ärgerlichen Blick zu.
„Deine Schwester hat Glück, dass ich sie vor einem Schulverweis bewahrt habe."
„Glück?!", rief Freya sauer. „Oh, ja, was für eine Freude, eine Schule besuchen zu dürfen, die in meiner Unterwäscheschublade rumwühlen will! Ich soll einen BH tragen, aber sehen darf man ihn nicht?"
Dad verdrehte die Augen und sparte sich jede Antwort darauf. Freya hätte ohnehin nicht aufgehört zu schimpfen. „Und was für eine hinterhältige Hure würde sich darüber beschweren?!"
„Freya!", rief Trish aus.
„Kann doch nur ein Mädchen gewesen sein!"
„Da wäre ich nicht einmal so sicher", warf ich ein und ihr Blick schnellte zu mir.
„Was?", bellte sie. „Du glaubst doch nicht, dass ein Typ zur Direktorin geht und ihr sagt, dass es ihn stört, dass er meine BH-Träger sehen kann. Hast du schon Mal drauf geachtet, wo die Blicke von denen kleben? Wenn mir die Brüste auf den Knien gewachsen wären, hätten sie alle eine Hyperkyphose!"
„Eine was?", hakte Trish nach.
„Einen Buckel", dolmetschte ich meine Lehrbuchschwester und Dad stand auf, ging in die Küche und holte sich aus dem Schrank, an den wir nicht ran durften, eine Karaffe heraus. Irgendein stinkendes, hellbraunes Gesöff. Er füllte damit den Boden eines Kristallglases und stellte das Behältnis zurück.
„Aber bestimmt hast du mit deinen barschen Körben ein Ego zu viel angekratzt", vermutete ich. Freya sah immer noch verwirrt aus. „Wie viele Einladungen zum Abschlussball hast du abgelehnt?"
Jetzt schien sie zu verstehen und verschränkte die Arme ein wenig ruhiger vor der Brust. „Keine Ahnung. Elf oder dreizehn, vielleicht..."
Dad verschluckte sich an seinem Getränk und Trish hob die Augenbrauen. „Elf oder dreizehn?", hakte sie nach.
„Vielleicht auch siebzehn, wenn man die mitrechnet, die Ace gefragt haben, ob ich mit ihnen gehen will."
„Achtzehn, wenn du den Brief von heute Morgen dazuzählst", erinnerte ich und Freya nickte bestätigend. „Also runden wir das Ganze auf zwanzig."
Trish schüttelte fassungslos den Kopf. „Und du willst mir erzählen, dass unter zwanzig Jungs, die dich gefragt haben, ob du mit ihnen auf den Abschlussball gehen willst, kein einziger dabei war, der dir gefällt?"
Freya legte die Stirn in Falten und drehte sich zu Trish. „Was hat das damit zu tun, dass die Direktorin mir vorschreiben will, wie ich meine Unterwäsche zu tragen habe?"
„Nichts, ich wollte nur mal nachfragen." Trish warf Dad einen vielsagenden Blick zu und murmelte: „Nicht Mal Addie hat so viele Einladungen gekriegt..."
Dad stützte die Ellenbogen an der Küchenplatte auf, legte den Kopf in die Hände und brummte genervt: „Das darf doch alles nicht wahr sein..."
Freya drehte sich wieder zu mir. „Und du denkst, dass es einer von denen war?"
Ich hob die Schultern. „Könnte doch sein. Jungs mit zerstörten Egos rächen sich gerne. Und zur Direktorin zu gehen und zu sagen, Hey, da ist dieses Mädchen in der Elften, das ihre BH-Träger zeigt, ich kann mich im Unterricht nicht konzentrieren, ist doch nun wirklich kein Kunstwerk."
Ihr Blick verfinsterte sich noch mehr. „Muss ich schon Schwänze lutschen, damit-"
„Okay!", rief Dad und richtete sich auf. „Das reicht, ich will nichts mehr darüber hören. Nichts mehr über BH's und Abschlussbälle und Jungs, ich will nur noch meinen Whisky trinken und schlafen gehen. Ich hab schon Kopfschmerzen, ihr alle", er deutete auf Trish, Freya und mich, „bereitet mir Kopfschmerzen." In einem Zug leerte er das Glas und knallte es auf die Küchenplatte.
„Aber-"
„Freya", mahnte er. „Ich bin wirklich am Ende mit meiner Geduld für heute. Ich hab fast eine Stunde mit deiner Direktorin über angebrachte Kleidung und Fehlverhalten diskutiert, um zu verhindern, dass du der Schule verwiesen wirst. Du hast dich genug aufgeregt. Bitte, lass es gut sein."
Meine Schwester presste die Lippen zusammen, wandte sich ab und stampfte die Treppen hoch. Ich sprang auf, lief ihr hinterher und fing sie an ihrer Zimmertüre ab.
„Ich wollte noch mit dir über Noa reden!"
Mit einem übertriebenen Augenrollen drehte sie sich um. „Deine kleine Freundin ist wirklich das letzte, für das ich mich heute interessiere", schnauzte sie.
„Hey, was hast du für ein Problem?!", wurde ich laut. „Die ganze Woche stänkerst du nur rum, bist schlecht gelaunt, machst meine Freundin runter, obwohl du sie nicht kennst und benimmst dich wie ein schwererziehbares Problemkind! Du wärst heute fast von der Schule geflogen!"
„Danke, Dad", zischte sie zurück. „Du willst wissen, was mein Problem ist?" Sie tippte mir mit ihrem Zeigefinger auf die Brust und ich schlug ihre Hand weg. „Dass du und alle anderen hier ständig denken, ich müsste nach eurer Pfeife tanzen. Als wäre es eine Selbstverständlichkeit, dass ich euch einen Gefallen schulde. Aber weißt du was? Ich muss deine Freundin nicht kennen lernen, wenn ich sie nicht kennen lernen will, ich muss keinen Pullover bei vierzig Grad anziehen, wenn ich das nicht will, ich muss nicht auf den beschissenen Abschlussball gehen, wenn ich das nicht will, und ich muss dir auch nicht ständig in der Schule helfen, wenn ich das nicht will! Du kannst nicht mir die Schuld dafür geben, dass du auf die verfluchte Buchbesprechung vergessen hast, weil du die Zunge nicht aus dem Mund deiner Freundin ziehen konntest. Das ist nicht mein Problem, sondern deines."
Eigentlich hatte ich mit Freya nur über Noa reden und sie noch einmal fragen wollen, warum sie sich so dagegen wehrte, sie kennen zu lernen, aber jetzt hatte sie die Büchse der Pandora geöffnet und mein Herz hämmerte vor Wut gegen meine Brust.
„Du redest so einen Blödsinn! Du bist es nicht, die nach unserer Pfeife tanzt! Du setzt doch immer deinen verdammten Willen durch und musst immer mit dem Kopf durch die Wand! Du bist es, die immer will, dass alles nach ihrem Plan läuft. Ich bin sicher, deine schlechte Laune kommt daher, dass du mal wieder irgendwas Beschissenes angestellt hast, oder?"
„Du kannst mich Mal, Ace! Du hast keine Ahnung, was für Probleme ich im Augenblick habe und seit du mit dieser Noa zusammen bist, interessiert es dich doch auch gar nicht mehr. Ich hab es satt, dir ständig den Arsch zu retten, weil du nicht gelernt hast und zu faul für Projektarbeiten bist, du dankst es mir sowieso nie! Nein, du lässt mich auch noch hängen, wegen irgend so einer dahergelaufenen Kuh!"
„Schön!" Ich warf die Hände in die Luft. „Dann lass es, ich brauch dich nicht! Ist es das, worum es hier geht? Denkst du, ich komm ohne dich nicht klar? Glaubst du, dass ich ohne dich keine guten Noten schreiben kann? Dass ich ohne dich nicht leben kann?"
„Versuch es doch!", schnauzte sie nur und schlug mir die Türe vor der Nase zu.
Automatisch trat ich einen Schritt zurück, weil ich nicht glauben konnte, dass sie mir gerade wirklich die Türe vor meinem Gesicht zugeknallt hatte. Ich stürmte ebenso wütend auf mein Zimmer und warf die Türe laut ins Schloss. Trish und Dad hatten den Streit bestimmt mitbekommen, auch wenn sie nicht jedes Wort gehört hatten, die Türen hatten vermutlich für sich gesprochen.
Sauer rieb ich mir den Nacken und ging zwischen meinem Bett und dem Schreibtisch auf und ab.
Freyas Einstellung war einfach nur egoistisch! Es ging nicht immer nur um sie. Sie sollte Noa nicht kennenlernen, weil sie es wollte, sondern weil ich es wollte. Es war mir wichtig, weil Noa meine Freundin war und es hoffentlich noch eine Weile bleiben würde. Freya war meine Schwester, warum war sie mir gegenüber plötzlich so ignorant und abweisend? Ich hatte sie noch nie im Stich gelassen, diese Behauptung verletzte mich. Erst letztens hatte ich ihren dummen Plan vervollständigt, Tante Bev auszuspionieren und ich hatte ihr geholfen, als sie fast verblutet wäre und ich hatte nie wieder nachgefragt, wie sie tatsächlich diesem Monster hatte entkommen können, weil sie es für sich hatte behalten wollen! Ich sagte allen Typen an unserer Schule, dass sie nicht auf Jungs stand, und ich war es auch, der seit Jahren ihr kleines Geheimnis mit den Kämpfen für mich behielt und Dad und Trish nichts von ihrem Date gesagt hatte.
Der Ärger tobte immer noch in meiner Brust, als ich meinen Schreibtischstuhl hervorzog und mich an die Buchbesprechung machte, aber so ganz konnte ich mich nicht konzentrieren.
Irgendetwas an dem Streit zwischen Freya und mir war anders gewesen als an allen anderen, die wir je gehabt hatten. Das war keine einfache Zankerei gewesen. Freya hatte Dinge angesprochen, die sie sonst nie erwähnte. Nicht mir gegenüber, nicht so anklagend und erst recht nicht im Streit.
Als ich nach knappen zwei Stunden, in denen ich mich halbwegs beruhigt hatte, den Versuch startete, Freya telepathisch zu erreichen, hatte ich das Gefühl, dass meine Worte ins Leere gingen. Dass sie nur in meinem Kopf existierten, wie ganz normale Gedanken und sonst nirgends. Ich probierte es ein paar Mal, mit dem immer selben Ergebnis und mir wurde erschreckend bewusst, was ich nie für möglich gehalten hätte.
Freya hatte mich aus ihrem Kopf ausgesperrt.
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