14
Ace
Ich wachte auf, weil ich Freya vermehrt meinen Namen flüstern hörte. Erst dachte ich, ich hätte es mir nur eingebildet, oder dass sie nicht schlafen konnte und mich in meinem Kopf besuchte, aber das Flüstern kam von der Türe her.
„Ace, wach auf!", wisperte sie erneut. Ich bekam kaum meine Augen auf. Es war stockdunkel und ich hatte das Gefühl, als wäre ich eben erst eingeschlafen.
„Hattest du wieder einen Alptraum?", murmelte ich und hob meine Decke ein Stück an, damit sie sich zu mir ins Bett legen konnte. Ich bin mir nicht sicher, warum das meine erste Reaktion war. Freya hatte seit Jahren nicht mehr bei mir in meinem Bett geschlafen.
„Du musst mir helfen."
Ich gähnte und rollte mich auf den Bauch. „Kann das nicht bis morgen warten?"
Ihre Schritte kamen näher. „Ich brauche wirklich deine Hilfe, bitte, steh auf!" Freyas Stimme zitterte. Mühsam setzte ich mich auf und tastete nach dem Lichtschalter meiner Nachttischlampe. Ein paar Mal kniff ich meine Augen zusammen, bis sie sich an die Lichtflut gewöhnt hatten, obwohl meine Lampe nur schwach leuchtete.
„Was ist los?", fragte ich bemüht besorgt und rieb mir übers Gesicht.
„Du musst mir helfen."
„Das hast du schon zwei Mal gesagt", gähnte ich. Ich musste dringend mein Gehirn aufwecken.
„Komm mit ins Bad."
Bevor ich noch einmal fragen konnte, was los war, war Freya aus meinem Zimmer geschlichen. Ich hinterfragte nichts, sondern schlurfte ihr nach. Leise schloss sie die Badezimmertüre hinter mir. Im Bad brannte das Licht in meinen Augen noch viel stärker.
„Wie siehst du denn aus?", murmelte ich schlaftrunken, als ich meine Schwester genauer ansah. In ihren Locken hatten sich Blätter und Erde verfangen und sie war blass im Gesicht. „Wie spät ist es?"
„Drei oder so. Ich zeig dir jetzt gleich was, aber du musst leise sein, okay?" Ich nickte. Dann hob sie ihre Haare an und entblößte eine riesengroße, blutende Wunde auf der linken Seite ihres Halses. Ich stieß einen schockierten Laut aus.
„Oh mein-"
„Halt die Klappe!", zischte sie sauer und ich presste mir beide Hände gegen den Mund. Wir lauschten ein paar Sekunden, aber das Haus blieb still. Freya trat vor den Spiegel und erst jetzt bemerkte ich den aufgeklappten Erste-Hilfe-Koffer auf dem Boden und die vielen blutgetränkten Tücher im Waschbecken.
„Es hört einfach nicht auf zu bluten, es heilt nicht von allein, ich weiß nicht mehr, was ich machen soll", erklärte sie, während sie ein neues Tuch aus dem Koffer griff und es sich an den Hals drückte. „Am Anfang dachte ich, es ist nicht so schlimm. Dass es so sehr blutet, hab ich erst gemerkt, als ich wieder hier war." Ich war sprachlos. Ich hatte keine Ahnung, wovon zum Teufel sie redete und wog kurz ab, ob ich vielleicht träumte. Meine Schwester sah mich auffordernd an.
„Ace!"
„Was erwartest du von mir?", schoss ich zurück. Sie weckte mich mitten in der Nacht, völlig zerzaust mit einer blutenden Wunde am Hals, die nicht heilen wollte, ohne mir zu erklären, was passiert war oder wo sie gewesen war, wollte mich aber mal wieder gleichermaßen in ihre Probleme hineinziehen und die Erwachsenen raushalten.
„Dass du mir hilfst, die Blutung zu stoppen", fauchte sie, als wäre es offensichtlich.
„Ich bin kein Arzt, wie soll ich das anstellen?!" Ich hatte sowas noch nie machen müssen. Meine Wunden heilten sehr schnell von allein. „Wir sollten Dad und Trish wecken."
Sie sah mich an, als hätte ich nichts Dümmeres sagen können. „Ja, das kann ich gerade noch gebrauchen. Geht's noch? Dann ketten sie mich wirklich noch an oder chippen mich oder sowas!"
„Das würde ich sogar unterstützen, wenn es denn hilft, dass du dich nicht ständig in irgendwelche waghalsigen Aktionen stürzt!", schimpfte ich. Energisch schob ich sie zur Toilette hinüber und klappte den Deckel hinunter. „Und jetzt setz dich, bevor du umkippst." Ich drückte meine Finger über ihrer Hand fest gegen das Tuch. Sie zuckte zusammen und schloss die Augen. Meine Gedanken rasten, aber ich konnte keinen einzigen von ihnen fassen.
„Sagst du mir jetzt, was zur Hölle passiert ist?", fragte ich, während ich mit der anderen Hand versuchte, den Dreck aus ihren Haaren zu klauben.
„Ich konnte nicht schlafen und hab mich in die Küche gesetzt. Vor der Türe hab ich Allys Monster gesehen und bin nach draußen geschlichen, um es von hier wegzulocken."
„Bist du denn völlig geistesgestört?!"
„Sei still, du weckst noch das ganze Haus auf!"
„Solln sie aufwachen! Soll die ganze Stadt aufwachen und sehen, wie wahnsinnig meine Schwester ist! Hat dieses Ding dich so verletzt?"
„Ergibt sich das nicht aus dem Kontext?"
„Nimm deine Hand weg", knurrte ich und sie zog langsam ihre Finger unter meinen hervor. Ich drückte es noch einmal fest gegen die Wunde, dann nahm ich das Tuch ein Stück weit von ihrem Hals, um zu sehen, wie schlimm es war, aber die Stelle begann sofort wieder zu bluten, so dass ich ohnehin nichts erkennen konnte und das Tuch schnell wieder an ihren Hals drückte. Ich hatte drei oder vier Wunden ausmachen können, das Ding musste seine Krallen kräftig in ihr Fleisch gestoßen haben. Es blutete nicht stark, aber unaufhaltsam und schnell.
„Freya, wir müssen das jemandem sagen", forderte ich eindringlich.
„Nein."
„Sei nicht dumm! Das Ding hat dich echt übel erwischt und wenn das nicht bald heilt, dann verblutest du mit Sicherheit." Sie sagte nichts darauf, sondern sah mich nur an. Ich konnte die Angst in ihren Augen sehen und hasste es, dass sie die Tapfere spielen wollte. Sie musste mir nicht beweisen, dass sie knallhart war, das wusste ich längst, und jetzt war der Zeitpunkt, vernünftig zu sein. „Freya, ich meine es ernst. Wenn du es keinem sagst, dann mach ich es."
„Und was willst du sagen?!", zischte sie sauer. „Was willst du Dad und Trish sagen? Hm? Dass mich ein Monster angegriffen hat, das Ally wie ein Haustier behandelt und in der Lage ist, mich in einem Ausmaß zu verletzen, dass meine Wunden nicht heilen?!"
„Es ist mir egal, was wir ihnen sagen!" schimpfte ich, eine Spur zu laut, aber das scherte mich nicht mehr. Plötzlich kroch mir eine unbändige Furcht in die Knochen, eine, die ich bisher zu ignorieren versucht hatte. „Ally kann mich mal, du bist verletzt und wir haben keine Ahnung, was das für ein Ding war oder wie wir deine Wunde behandeln sollen!"
Sie sah mich eine Weile an, während ich das Tuch gegen ihren Hals drückte. Ich bewunderte ihre Loyalität, aber sie durfte auf keinen Fall so weit gehen, dass sie sich dafür in echte Lebensgefahr begab. Schließlich senkte sie den Blick, stieß einen gequälten Seufzer aus und nickte. „Okay... Aber wir sagen nichts von Ally."
Freya hatte noch nicht einmal ihren Satz beendet, als ich ihre Hand nahm und an das Tuch an ihrem Hals führte, aus dem Bad stürmte und ohne anzuklopfen in das Schlafzimmer von Dad und Trish polterte.
„Um Himmels Willen, was ist denn?", murmelte Trish schlecht gelaunt. „Es ist mitten in der Nacht..."
„Freya", war alles, was ich sagen musste, um Dad sofort aus dem Bett zu bekommen. Er war schon an mir vorbeigelaufen, bevor Trish sich überhaupt aufgesetzt hatte.
„Was ist denn?", gähnte sie zwar besorgt, aber mindestens doppelt so verschlafen. Das konnte ich ihr nur zu gut nachfühlen.
„Freya wurde... angegriffen", sagte ich nur.
„Angegriffen?" Sie klang immer noch nicht besorgt, sondern einfach nur verwirrt. Vielleicht dachte sie auch, dass sie träumte. „Was soll das heißen?"
„Soll ich dir erst noch einen Kaffee machen?"
„Scherzkeks." Mühsam schob sie die Beine vom Bett und stand auf. Als wir beide im Badezimmer ankamen, kniete Dad schon vor Freya auf dem Boden und presste ein frisches Tuch gegen ihren Hals.
„Oh mein Gott!", rief Trish schockiert aus und war mit einem Schlag hellwach. „Um Himmels Willen, was ist passiert, was hast du angestellt?"
„Lange Geschichte", murmelte Freya und klang erschöpft.
„Aber ich bin sicher, du hattest genügend Zeit, deinen Bruder in alles einzuweihen, bevor er uns geholt hat", schimpfte Trish, warf mir einen fragenden Blick zu und ich hob entschuldigend die Schultern.
„Unfassbar, du willst dich sogar mit mir streiten, wenn ich verblute?"
„Ich will mich nicht mit dir streiten, ich will-"
„Trish", unterbrach Dad sie ruhig, aber bestimmt. „Ruf Bev an, sag ihr, dass Freya verletzt ist und der Heilprozess nicht einsetzt, sie soll sofort herkommen."
Trish nickte und verschwand wieder auf ihr Schlafzimmer.
„Warum wird hier so ein Krach gemacht?", murmelte Dee und schlurfte den Flur entlang, während sie sich die Augen rieb. Als sie das Chaos im Bad sah, die blutgetränkten Tücher und Dad, der vor Freya saß, die mit jeder Minute blasser zu werden schien, brachte sie nur noch ein kleines: „Oh...", hervor, bevor sie sich an die Wand im Flur drückte und sich nicht mehr bewegte.
Freya versuchte merklich ein Zittern zu unterdrücken. „Ist dir kalt?", fragte Dad. Sie nickte leicht.
„Ich hol eine Decke", sagte ich und lief ins Wohnzimmer, um die Couchdecke zu holen. Als ich wieder nach oben kam, war Trish bereits aus ihrem Zimmer gekommen und hatte einen Arm um Dee gelegt, die immer noch schockiert ins Bad starrte und keinen Laut von sich gab. Ich legte Freya die Decke um die Schultern. Als ich wieder zur Seite treten wollte, um Dad mehr Platz zu lassen, hielt sie mich fest.
„Deine Hände sind warm", murmelte sie. Jetzt, da der erste Schreck vermutlich nachließ und sie mehr und mehr Blut verlor, wirkte sie nur noch müde und ausgelaugt. Ich schloss meine Hände um ihre.
Es wird alles gut, ja?
Sie nickte.
Ich war überrascht, dass Dad nicht schrie. Dass er nicht schimpfte und nicht auf Teufel komm raus ein Verhör startete und uns darüber ausquetschte, was passiert war. Stattdessen war er konzentriert und ruhig, drückte das Tuch fest gegen ihren Hals, beobachtete meine Schwester genau und hatte die Mundwinkel leicht nach unten gezogen.
„Hallo?", hörte ich Tante Bev aus dem Wohnzimmer rufen. „Es ist stockdunkel, wo seid ihr denn?"
„Hier oben!", riefen Dad, Trish und ich im Einklang.
Sie betrat in ihrem Pyjama das Badezimmer und ich ließ Freyas Hände los und trat zur Seite.
„Was hast du angestellt?", fragte Tante Bev sanft, aber nicht minder fassungslos. Freya antwortete nicht sofort. „Ich muss wissen, was passiert ist, sonst kann ich dir nicht helfen. Du musst jetzt ehrlich zu mir sein, okay?"
Ich sah Freya an, dass sie immer noch mit sich rang.
Komm schon, Tante Bev kann dir nur helfen, wenn du ihr von dem Ding erzählst, forderte ich sie auf.
„Da war... ein Monster", sagte Freya stockend und mied es, Dad oder Tante Bev oder Trish anzusehen. Sie fokussierte nur mich und ich nickte ermutigend.
„Ein Monster?", hakte Tante Bev mit zusammengezogenen Augenbrauen nach und ihr Blick schoss zu mir, als wäre ich Teil dieser Sache. Was ja auch stimmte, aber ich fand ihre voreiligen Schlüsse trotzdem unfair. Ich hatte dieses Monster schließlich noch nie gesehen. Meine Schwester hingegen war nun schon zweimal in einen Stierkampf mit diesem Ding verwickelt gewesen.
„Was für ein Monster? Ein Dämon?", fragte meine Tante weiter.
Freya schüttelte den Kopf. „Es hat ausgesehen wie ein Dämon, aber es war... viel körperlicher. Ich weiß auch nicht." Ihr Blick huschte zu Trish. „Mephistopheles ist nicht viel mehr als ein Schatten. Er ist ein kleines, schwarzes Nichts, das seine Gestalt nach Belieben verändern kann. Aber dieses Ding..." Jetzt sah sie Tante Bev ins Gesicht. „Es war wirklich da. Es hatte einen Körper. Es war ganz schwarz und hatte krustige Haut, die sich von seinem Körper abgehoben hat, wenn es sich bewegt hat und darunter hat es geglüht, als würde es verbrennen. Es hat eine enorme Hitze ausgestrahlt."
Ich war erleichtert. Ich wusste, dass sie es hasste, Ally zu hintergehen und von dem Ding zu erzählen, aber ich war froh, dass die Wahrheit jetzt wenigstens zum Teil heraußen war, besonders, weil Tante Bev recht hatte. Sie konnte Freya nicht helfen, wenn sie nicht wusste, was passiert war.
„Das war kein Dämon, oder?", fragte Freya unsicher.
„Nein, von so einem Dämon habe ich noch nie gehört", meinte Trish leise. Tante Bev schüttelte den Kopf.
„Ich auch nicht. Dämonen haben keine solchen Körper. Und sie müssen Menschen nicht physisch angreifen, das können sie mental auch tun. Bist du sicher, dass du es genau so gesehen hast und es kein... Bär war?"
„Ich werde ja wohl ein wildes Tier von einer solchen Kreatur unterscheiden können. Außerdem war es ja nicht das erste Mal", sagte sie schnippisch.
Im nächsten Augenblick hörte ich: Scheiße, scheiße, scheiße, in meinem Kopf. Verflucht nochmal!
Tante Bev kniff die Augen zusammen. „Was soll das heißen?"
Freya rollte verärgert über ihren Patzer mit den Augen. Anscheinend funktioniert mein Gehirn nicht so gut mit nur der Hälfte Blutvolumen...
Sie warf mir einen hilfesuchenden Blick zu, bis ihr klar wurde, dass es nichts gab, das ich hätte sagen können, um ihren Fehler zu korrigieren.
„In der Oper", sagte sie dann widerwillig.
Dad richtete sich ein wenig auf und Tante Bev nickte, fast so, als hätte sie dieses Geständnis erwartet. Aber da war noch etwas anderes in ihren Augen, etwas, das ich nicht zuordnen konnte.
Sie weiß es, sagte Freya, der diese subtile Änderung im Gesicht unserer Tante auch aufgefallen war. Sie weiß, dass Ally etwas damit zu tun hat.
„Ich hab schon meinen Bruder angerufen", sagte Tante Bev dann und ließ sich nichts anmerken. „Er ist bestimmt gleich hier und sieht sich die Wunde an. Mach dir keine Sorgen, das kriegen wir hin, ja?" Sie berührte Dad beiläufig am Arm, und ich fragte mich, ob ihre Worte ihm oder meiner Schwester gegolten hatten, aber er reagierte nicht.
Mir entgingen die vielsagenden Blicke zwischen Trish und Tante Bev nicht. Ich fragte mich, wie gut man einen Menschen kennen musste, wie viel man zusammen wohl durchgestanden haben musste, um sich ganz ohne telepathische Fähigkeiten mit nur einem einzigen Blick verständigen zu können.
„Wie bist du diesem Ding eigentlich entkommen?", hakte ich dann verwirrt nach.
Du Idiot!, fauchte sie, aber ich fand, dass es eine berechtigte Frage war.
„Ich bin weggelaufen", erwiderte sie schlicht. „Irgendwann hab ich es abgehängt."
Kein Wort mehr darüber, oder ich press dir bei der nächsten Gelegenheit ein Kissen aufs Gesicht, wenn du schläfst, bis du dich nicht mehr bewegst! Sie starrte mich finster an. Ich war immer noch über ihren Ärger verwundert, aber ich hörte, dass jemand die Treppen hochkam. Es war lange her, dass ich Arlen gesehen hatte, aber er war seither nicht gealtert. Er sah immer noch aus wie zweiundzwanzig.
„Zu Diensten", seufzte er tief, stellte seine braune Tasche mit allen möglichen Kräutern, Tinkturen und Spritzen am Badezimmerfußboden ab und scheuchte Dad zur Seite. „Dann lass mal sehen."
Er zog das blutdurchtränkte Tuch von Freyas Hals und verzog das Gesicht. „Autsch... Erzählst du mir, was passiert ist?"
Freya wiederholte die exakt selben Worte, die sie vorhin gewählt, als sie Tante Bev davon erzählt hatte. Dad war mittlerweile aus dem Badezimmer gegangen und meine Tante und Trish waren ihm nachgegangen, nur Dee stand immer noch unbewegt auf dem Flur und starrte.
„Alles okay?", murmelte ich und ging zu ihr.
„Das ist so viel Blut." Sie konnte den Blick nicht abwenden.
„Du hast doch wohl keine Probleme damit", zog ich sie schwach auf. „Du bist ein Mädchen. Ich hab in Biologie aufgepasst, ich weiß, was da jeden Monat abgeht."
Sie verzog keine Miene. „Aber das ist so viel..."
Ich schob sie vom Badezimmer weg. „Geh am besten einfach wieder auf dein Zimmer. Arlen kümmert sich um Freya, mach dir keine Sorgen, okay? Ich gebe dir Bescheid, wenn es ihr besser geht."
„Wie kann ein Mensch so viel Blut verlieren...", murmelte sie noch, bevor sie apathisch auf ihr Zimmer schlurfte und die Türe hinter sich schloss.
Ich glaub, du hast Dee kaputt gemacht, sagte ich und sah meiner Schwester nach.
Endlich, war Freyas Antwort. Wenn ich gewusst hätte, dass es so leicht ist, hätte ich sie mal mit in den Ring genommen.
Mir war nicht nach Lachen zu Mute, aber ich musste trotzdem schmunzeln, als ich wieder ins Bad ging und mich auf den Wannenrand setzte. Arlen tränkte gerade ein kleines, weißes Stoffeck mit einer dunklen Flüssigkeit und tupfte sie vorsichtig auf Freyas Hals. Sie sog scharf die Luft ein und verzog das Gesicht.
„Tut mir leid, ich weiß, das tut weh", sagte er und ich beugte mich nach vorne und griff wieder nach Freyas Hand.
„Kriegst du das hin?", fragte ich ihn besorgt.
Er hob die Augenbrauen. „Ganz ehrlich? Ich hoffe es. Ich kann nur verschiedene Sachen probieren, aber ich weiß nicht, was das für ein Wesen gewesen sein soll, das Freya angegriffen hat. Oder warum ihre Wunde nicht heilt." Er begutachtete die wunden Stellen genauer. „Es blutet langsam weniger. Ich glaube nicht, dass dieses Ding eine Arterie getroffen hat, dann wärst du schon tot. Und sonderlich tief sind die Wunden auch nicht, der Hals ist nur eine beschissen gut durchblutete Stelle. Wahrscheinlich muss ich es nähen, aber ansonsten hast du wohl Glück gehabt."
„Nähen?!", stieß Freya mit aufgerissenen Augen aus. „Mit einer Nadel und einem Faden?"
Er blinzelte sie mit nüchternen Ausdruck an. „Nein, mit einer Stricknadel und einem Stück Häkelgarn."
Sie verzog das Gesicht. „Das wird doch sicher wehtun!"
„Wer so dumm ist, sich mit einer unbekannten, übernatürlichen Kreatur anzulegen, darf nicht zimperlich sein."
Er zog eine Spritze mit einer klaren Flüssigkeit auf.
„Was wird das?!", fragte Freya panisch und er verdrehte die Augen.
„Weißt du, ich kenne wirklich niemanden, der mehr Angst vor Nadeln als vor den Klauen eines Monsters hat, jetzt halt still."
Er drehte ihren Kopf ein Stück zur Seite und Freyas Finger schlossen sich so fest um meine Hand, dass ich glaubte, sie würde mir gleich etwas brechen. Sie hatte wirklich weniger besorgt über ihren Blutverlust gewirkt als über die hauchdünne Nadel, die Arlen vorsichtig an einigen Stellen in ihren Hals stach.
„Das ist ein Betäubungsmittel, damit du die eigentlichen Stiche später nicht spürst. Gib mir Bescheid, falls die Betäubung nachlässt, ich weiß nicht, wie schnell es bei dir seine Wirkung verliert. Oder ob dieses Monster die Kraft deines Dämonenblutes vielleicht ganz blockiert hat."
„Das will ich nicht hoffen! Ich will kein normaler Mensch sein, ich-"
„Jetzt beruhige dich." Er legte die Spritze weg und musterte sie besorgt. „Wie lange zitterst du schon so?"
Sie hob ahnungslos die Schultern und ich antwortete an ihrer Stelle. „Vielleicht seit einer halben Stunde?"
„Ist dir schlecht?"
„Wieso fragst du?", wollte ich beunruhigt wissen.
„Ich glaube, deine Schwester hat eine verspätete Schockreaktion. Ist nicht schlimm, das legt sich wieder."
„Kein Wunder...", murmelte Freya.
„Kann man da was machen?", fragte ich.
Arlen schüttelte den Kopf. „Nein, das vergeht von allein und ist eine ganz normale Reaktion auf so intensive Erlebnisse. Es hätte mich eher schockiert, wenn sie keinen Schock erleiden würde. Passiert nicht alle Tage, dass man fast als T-Bone Steak endet."
Wie fühlst du dich?
Freya hob den Blick. Keine Ahnung...
Arlen kramte in seiner Tasche und seufzte dann entnervt. „Na, wunderbar..." Er drehte sich zu mir. „Ihr habt doch sicher einen von diesen praktischen vierundzwanzig-Stunden-Supermarkts in der Gegend, oder? Einer der spärlichen Gründe, warum ich Amerika toll finde."
„Ja, wieso fragst du?"
„Weil ich dich jetzt gleich losschicken und Eisen für deine Schwester besorgen lassen werde."
„Eisen? Kannst du das nicht einfach herzaubern?", fragte Freya abschätzig.
„Man zaubert doch keine Spurenelemente." Arlen schüttelte enttäuscht den Kopf. „Man zaubert gar nichts, mit dem man Menschen gesund machen möchte. Habt ihr zwei denn nichts gelernt?"
„Offenbar nicht, aber wir können ja auch nicht hexen", sagten wir gleichzeitig und er warf uns missbilligende Blicke zu.
„Mach schon, hol Eisenkapseln oder Pillen oder ein Pulver, egal was, aber beeil dich ein bisschen, sie hat sehr viel Blut verloren."
„Nein, warte, ich will nicht, dass er weggeht!" Meine Schwester klammerte sich an meinen Unterarm.
„Ich bin ja gleich wieder da", versicherte ich.
„Was, wenn das Monster noch da draußen ist?"
„Dann bin ich nicht so dämlich, mich mit ihm anzulegen, versprochen." Sanft löste ich ihre Finger von meinem Arm. „Lass dich in Ruhe zusammenflicken, ich besorg dir Treibstoff."
Sie ließ mich nur sehr widerwillig gehen und ich hörte noch, wie Arlen sie fragte, ob die Betäubung schon wirkte. Ich nahm die ersten paar Treppenstufen gelassen, doch dann hörte ich geladenes Geflüster im Wohnzimmer und stoppte. Ein paar Schritte machte ich noch, gerade weit genug, um mich noch hinter der Wand verstecken zu können.
„Du musst dich beruhigen, es geht ihr gut", flüsterte Trish.
„Das nennst du gut?", zischte Dad leise zurück. „Irgend so ein Ding hat gerade versucht, sie umzubringen! Hast du dir ihren Hals einmal angesehen?!"
„Arlen macht das schon", sagte meine Tante zuversichtlich. „Der kriegt alle wieder hin. Wenn du mal wüsstest, wie oft er mich und Aidan wieder repariert hat..."
„Sie hat uns nicht gesagt, dass sie dieses Ding am Konzertabend gesehen hat", fuhr Dad unbeirrt fort. „Ist sie von allen guten Geistern verlassen? Warum hat sie uns sowas verschwiegen? Und warum lügt sie immer noch?"
Ich stutzte. Es war mir nicht neu, dass Freya regelmäßig log, aber Dad sagte das mit solch einer Selbstverständlichkeit, dass es mehr als väterliche Intuition sein musste.
„Sie vertraut uns nicht", sagte Trish nüchtern. „Falls dir das noch nicht aufgefallen ist. Freya vertraut uns nicht." Offenbar vertraute sie auch mir nicht, sonst hätte sie mir längst erzählt, wie sie diesem Monster wirklich entkommen war. Ich kaufte ihr nicht ab, dass sie es abgehängt hatte, erst recht nicht, nach ihrer wütenden Reaktion auf meine Frage.
Plötzlich sagte Trish etwas, das mir einen fiesen Stich in die Brust versetzte, weil es so traurig klang. „Was denkst du, würde Addie jetzt tun?"
„Trish, nicht", hörte ich Tante Bev wispern, aber es war zu spät. Trish hatte es gesagt und ich musste schlucken. Was hätte meine Mom wohl gemacht?
Trishs Worte hingen einen Moment lang unberührt in der Luft. Ich spürte ihr Gewicht und lehnte mich gegen die Wand. Nicht, weil es mich so sehr verletzte, sondern weil ich wusste, wie sehr es meinen Dad verletzte. Er antwortete auch nicht auf die Frage, also redete Trish weiter.
„Addie würde jetzt nach oben gehen und versuchen mit Freya darüber zu sprechen. Addie wäre nicht wütend. Sie wäre nur unendlich besorgt."
„Ich mach mir doch Sorgen", sagte Dad leise und ich konnte kaum glauben, wie gebrochen er klang. „Was glaubst du, was für eine Scheißangst ich habe, sie zu verlieren? Jedes Mal, wenn sie das verdammte Haus verlässt, denke ich, ich sehe sie nie wieder. Ständig zeigt mir mein Kopf Bilder davon, wie sie sterben könnte."
„Ich weiß. Aber du wirst sie nicht verlieren. Weder Freya, noch Ace, noch Dee. Das lassen wir nicht zu, okay? Wir sind nicht mehr die verängstigten, planlosen Zwanzigjährigen von damals, Trev. Wir können unsere Kinder beschützen. Wir werden sie beschützen."
Bringst du mir noch ein Ben&Jerry's mit?, fragte Freya und ich zuckte zusammen. Fast hatte ich vergessen, dass es einen Grund gab, warum ich an den Treppen stand und beschloss, dass es Zeit war, zu fahren.
Welche Sorte?
Überrasch mich.
Schnell galoppierte ich die Treppen hinunter, laut genug, um mich selbst anzukündigen. Dad, Trish und Tante Bev standen in der Küche. Ich bemerkte sofort, dass Dad geweint hatte, ließ mir davon aber nichts anmerken.
„Alles okay?", fragte Trish, als sie mich sah. „Geht es Freya gut?"
„Äh, ja, ich... Alles gut, Arlen meinte nur, ich soll losfahren und irgendwo Eisen besorgen. Kann ich den Wagen haben?"
Trish sah unsicher aus. „Was wenn dieses Monster noch da draußen ist?"
„Das hat Freya auch schon gesagt", meinte ich augenrollend. „Aber sie braucht nun Mal Eisen, also werde ich mir die Wagenschlüssel nehmen und zum Supermarkt fahren." Ich hatte eine Scheißangst davor diesem Ding über den Weg zu laufen, aber bisher hatte es sich vor mir nicht blicken lassen und außerdem fand ich, dass halbtote Schwester gegen Höllenmonster gewann.
Trish legte den Kopf schräg. „Ich weiß nicht, Ace, ich-"
„Lass mich dich fahren." Tante Bev löste sich von den beiden.
Ich hielt inne. „Das brauchst du nicht, ich mach das schon. Ich pass auf mich auf."
„Wir wissen nicht, was das für ein Wesen war, das deine Schwester angegriffen hat, ich fahre dich", beharrte sie und tauschte einen bedeutungsstarken Blick mit Trish und Dad, die beide nickten, als würden sie eine Botschaft verstehen, die ich nicht sah. „Falls es noch in der Nähe ist, kann es sicher nicht schaden, wenn ich dabei bin."
Als ich begriff, was ihr freundlicher, aber zugleich bestimmter Ausdruck in den Augen zu bedeuten hatte, biss ich die Zähne zusammen und nickte widerwillig. Sie wollte mit mir über das Monster reden und über Ally. Ich sah zu Trish und Dad, aber sie machten keinerlei Anstalten, vorzuschlagen, dass ich hierbleiben sollte, wenn Tante Bev das Eisen besorgen würde. Jetzt vertrauten sie nicht nur Freya nicht mehr, sondern mir obendrein auch nicht. Sie wollten die Wahrheit wissen, mehr als alles andere. Wunderbar.
~~ ~~
Die Tatsache, dass ich genau wusste, dass sie mich auf das Monster und Ally ansprechen würde, brachte die Atmosphäre im Auto fast zum Zerreißen. Ich fragte mich, ob sie das mit Absicht machte.
„Also", seufzte sie irgendwann an einer roten Ampel, als ich schon völlig durchgeschwitzt war, und ich atmete erleichtert aus. Das Warten war unerträglich gewesen. „Ein Monster, wie ihr es nennt. Wusstest du davon? Davon, dass es sie am Abend des Konzerts angegriffen hat?"
Ich überlegte, ob ich lügen sollte, aber das hätte auch niemandem geholfen. „Freya hat es mir erzählt, ja."
„Und warum hast du es niemandem erzählt?"
„Blutschwur." Ich zuckte entschuldigend mit den Achseln. „Da kann man nichts machen, tut mir leid."
Ihr Ausdruck wich Belustigung. „Aha. Und warum wollte Freya es geheim halten?"
Auf diese Frage hatte ich keine Antwort. Denn ihr Versprechen Ally gegenüber, war der einzige Grund gewesen, sonst hätte sie längst mit der Sprache herausgerückt und Ally wollte ich heraushalten, obwohl Tante Bev ohnehin längst Bescheid wusste, wie es schien.
„Weißt du", meinte sie und die Ampel sprang auf grün. Die Straßenlichter reflektierten auf den nassen Asphalt, aber ich hatte gar nicht mitbekommen, dass es geregnet hatte. „Ally hat ein paar Wochen nach ihrem kleinen... Experiment mit meinem Buch immer mal wieder Alpträume gehabt." Ich antwortete nichts darauf, aber meine Handflächen wurden schweißnass. Mit Tante Bev im Auto zu sitzen und verhört zu werden, fühlte sich an, als würde ich meine Schwester und Ally hintergehen, ohne ein Wort zu sagen. „Sie hat mitten in der Nacht zu schreien begonnen und gemeint, dass vor ihrem Fenster ein Monster im Garten stehe. Ein rußiges, schwarzes Ding mit langen Klauen. Aber jedes Mal, wenn Aidan und ich zu ihr gelaufen sind, war es verschwunden. Wir haben es nie gesehen. Und irgendwann haben Allys Alpträume aufgehört." Tante Bev überholte einen blauen Pickup. „Vor ein paar Monaten habe ich dann gehört, dass Ally auf ihrem Zimmer mit jemandem geredet hat. Erst dachte ich, sie spielt mit Finn, aber dann ist mir eingefallen, dass Finn bei einem Freund war. Ich hab angeklopft und habe ihr Zimmer betreten, um zu sehen, was sie macht. Sie hätte ja telefonieren können. Aber sie saß allein auf ihrem Bett und hat mich nur angestarrt, als hätte ich sie gerade bei etwas Wichtigem unterbrochen. Nur, dass sie nichts gemacht hat. Ich hab sie gefragt, mit wem sie geredet hat, aber sie meinte, dass sie mit niemandem geredet hätte."
Sie lenkte das Auto auf den Parkplatz des vierundzwanzig Stunden Supermarkts, nahe am Eingang und schaltete den Motor aus. Im Wagen wurde es dunkel und still und obwohl es kühl war, weil ich nur im Pyjama dasaß, und das kalte Leder an meiner Haut spüren konnte, kam es mir vor, als stünde ich in Flammen.
Tante Beverly drehte sich zu mir, aber ich konnte sie nicht ansehen.
„Ally hat nie nur von diesem Monster geträumt und wenn du irgendetwas darüber weißt, Ace, dann wäre es klug, mir das zu sagen. Ich und dein Vater und Trish und Aidan, wir wollen euch nur beschützen."
Was hätte ich ihr schon sagen sollen? Ich wusste doch auch nicht mehr. Wenn jemand etwas wusste und nichts sagte, dann war es Ally und das konnte sich Tante Bev bestimmt auch schon denken. Also sah ich ihr in die Augen und sagte: „Ich weiß nicht mehr."
Einen Augenblick lang musterte sie mich forschend. Dann nickte sie, immer noch ein klein wenig misstrauisch. „Okay. Aber ich hoffe, dass dir klar ist, dass du dir keinen Gefallen damit tust, Informationen über dieses Ding zurückzuhalten."
Ich nickte. „Ich weiß. Können wir jetzt das Eisen besorgen? Meine Schwester wäre heute Nacht fast umgebracht worden."
„Lass uns gehen."
Wir kauften zwei Packungen Eisentabletten und am Gefrierfach fischte ich vier verschiedene Sorten Ben&Jerry's heraus. Wer so knapp dem Tod entrann, würde von mir jedes Eis der Welt spendiert bekommen.
~~ ~~
Freya erholte sich recht gut und nach ein paar Tagen setzte auch tatsächlich die Wundheilung ein, Arlen musste die Nähte entfernen und am Samstagmorgen war nicht einmal mehr eine Narbe zu sehen.
„Gut geschlafen?", lächelte Trish, als sie mir uns Freya Orangensaft und Kaffee eingoss. Meine Schwestern hatten sich schon umgezogen, während ich noch in meiner Schlafhose und einem weiten T-Shirt dasaß.
„Ich hab was Komisches geträumt", gähnte ich.
„Lustig, dabei träumst du so selten."
„Ich weiß."
„Man träumt immer", erwiderte Dee und strich sich dick Schokoladencreme auf eine Scheibe Toast, während Dad die Pfanne mit dem Rührei auf den Tisch stellte. „Manchmal erinnert man sich nur nicht dran."
„Entschuldige, Frau Professor." Ich rollte mit den Augen.
„Was hast du denn geträumt?", fragte Trish.
Ich legte beide Hände um die Kaffeetasse. „Ich hab geträumt, dass wir einen Schulausflug gemacht haben. Also, Freya, Dee, ich und noch zwei Leute, an die ich mich nicht erinnern kann. Und plötzlich ist unser Chemielehrer total panisch mit James am Arm in unser Zimmer gekommen und hat gemeint, er müsse ihr jetzt sofort die Krallen schneiden, bevor sie zu lang werden." Dee warf mir einen verstörten Blick zu. „Ich hab James auf meinen Schoß genommen und sie gestreichelt, während mein Lehrer ihr die Krallen geschnitten hat."
„Schneidet man Katzen überhaupt die Krallen?", fragte Trish skeptisch.
Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung."
„Und wie ging es weiter?", fragte Dee, die jetzt doch an der Geschichte interessiert schien. Es zischte, als Dad den Pfannkuchenteig in die Pfanne goss.
„Mein Chemielehrer hat seinen Job eigentlich gut gemacht. Aber bei der letzten Kralle hat er in ein Blutgefäß geschnitten und ein Tropfen ist auf meiner Jeans gelandet. Ich dachte noch: Verdammt, ich hab ja keine andere Hose dabei! Es hat plötzlich mehr und mehr geblutet, aber irgendwann war es kein Blut mehr, sondern..." Ich wollte es nicht erzählen. Es war zu krank und absurd.
„Na, was denn?", drängelte Dee und leckte die Schokoladencreme vom Messer.
„Nimm sofort das Messer aus dem Mund", tadelte Trish. „Du tust dir noch weh."
„Ace hat davon geträumt, dass aus dem Nagel der Katze Erbrochenes rauskommt", nahm Freya mir die Worte aus dem Mund. „Aber es war sein Abendessen. Irgendetwas mit Kartoffeln. Du träumst echt kranke Scheiße, Bruderherz." Alle Blicke klebten an ihr, sogar Dad hatte sich vom Herd umgedreht, und sie zuckte mit den Schultern. „Was denn? Ich kann nichts dafür, wenn Ace und ich dasselbe träumen. Aber da er nicht in meinen Kopf hineinrutscht, gehe ich mal stark davon aus, dass es sein Traum war. Also, bitte, alle verurteilenden Blicke auf den Kerl da drüben!"
Dee zog die Augenbrauen zusammen und Dad brachte den Teller mit den Pancakes, bevor er sich zu uns an den Tisch setzte. „Wie kann sich denn ein Nagel übergeben?"
„Traumlogik, Dee", verteidigte ich mich.
Freya schaufelte sich etwas von dem Rührei auf den Teller und Trish sah in die Runde. „Auf die Gefahr hin, dass gleich alle die Augen verdrehen: Wollen wir den Tag heute gemeinsam verbringen?"
Freya stieß sofort einen Klagelaut aus, Dee nickte und Dad tat vorerst so, als würde ihn die Frage nichts angehen.
„Ich wollte schon so lange wieder Minigolf spielen gehen!", strahlte Dee.
„Minigolf... Kannst wohl den Schläger vom normalen Golf nicht halten", murmelte Freya und trank einen Schluck Kaffee.
Dee schoss ihr einen scharfen Blick zu. „Nein, bei dem normalen Golf hab ich Angst, dass ich die Beherrschung verliere und dir den Ball gegen den Kopf schieße. Und dann bist du mal meine Schwester gewesen."
Freya lächelte mild und sparte sich eine Antwort.
„Ich finde Minigolf ist eine gute Idee", sagte Trish. „Wir können danach ja noch Eisessen gehen."
„Ich kann nicht", sagte ich schnell, bevor es zu spät war. „Ich hab schon was vor, aber geht ihr nur." Jetzt klebten alle Blicke an mir. Wahrscheinlich, weil ich selten etwas vorhatte.
„Was hast du denn vor?", fragte Trish neugierig und Freya warf mir ein schadenfrohes Lächeln zu.
„Ich bin... verabredet. Irgendwie." Ich versuchte es unspektakulär klingen zu lassen, aber Trish war sofort Feuer und Flamme und stieß einen entzückten Laut aus.
„Du hast ein Date?! Dem Himmel sei Dank, endlich! Endlich, endlich, endlich! Du musst mir alles erzählen, ich will alles wissen, mit wem hast du ein Date?"
„Wer hat gesagt, dass es ein Date ist?", murrte ich und hielt den Blick peinlich berührt auf meinem Teller.
„Vermutlich deine roten Ohren", sagte Dad und als ich ihn ansah, lächelte er mich belustigt an, aber ich glaubte sogar, so etwas Absurdes, wie Stolz in seinen Augen zu sehen. Seltsam. Bei Dee bekam er immer die Krise, wenn sie sich mit einem Jungen traf.
„Ich will wirklich nicht darüber reden", sagte ich. „Es ist nur ein Treffen mit einem Mädchen. Kann ich den Wagen haben?"
Dad wollte antworten, aber Trish kam ihm zuvor. „Du könntest eine ganze Yacht haben, Ace! Du musst mir danach alles genau erzählen, bitte! Ich flehe dich an, auf diesen Augenblick habe ich so lange gewartet."
Ich trank den letzten Schluck von meinen Kaffee. „Ich schreib dir einen Erstattungsbericht." Schnell schob ich meinen Stuhl zurück und brachte mein leeres Glas und die Tasse in die Küche.
„Isst du nichts?", fragte Dad und Trish schlug ihm auf den Oberarm.
„Natürlich nicht, sieh ihn dir an! Wenn man aufgeregt ist vor seinem ersten Date, hat man keinen Hunger." Sie strahlte von einem Ohr zum anderen und ich warf Freya einen besorgten Blick zu, die nur leicht die Augen verdrehte.
Lauf, bevor sie dich einkleidet...
Ich beschloss, ihrem Rat zu folgen und flüchtete auf mein Zimmer. Vor meinen Kleiderschrank fragte ich mich dann, ob es nicht sogar hilfreich gewesen wäre, von Trish eingekleidet zu werden, denn was trug man denn bitte schön an einem ersten Date? Es war nur ein unverfängliches Treffen am Strand. Ich würde die Picknickdecke und die Getränke mitnehmen, sie die Snacks. Mehr war es doch nicht. Wir würden nur reden. Aber als ich mich jetzt im Spiegel sah, fand ich, dass ich für mein Alter ziemlich schmächtig aussah, ich war kein großer Sportfan und fast all meine Kleidungsstücke waren schon ein wenig abgetragen, weil ich sie bequem fand und mochte, auch wenn Trish mich regelmäßig dazu überreden wollte, mit ihr in ein Einkaufszentrum zu fahren.
„Klopf, klopf, darf ich reinkommen?"
Wenn man vom Teufel spricht. Sie steckte den Kopf durch den Türspalt und ich sah sie gequält an. „Ich bin nicht in Stimmung, für Erste-Date-Tipps."
Geschickt glitt sie in mein Zimmer und schloss die Türe hinter sich. „Und dennoch stehst du vor dem Kleiderschrank, wie ein ausgesetzter Welpe", zog sie mich auf und trat mit großen Schritten auf mich zu. „Du bist doch ein attraktiver Kerl, mach dir keine Sorgen. Hier." Sie griff in meinen Schrank und zog ein gestreiftes, kurzärmliges Hemd heraus.
„Das trage ich doch ständig im Sommer", wehrte ich unsicher ab.
„Sehr gut, dann ist ihr erster Eindruck von dir unverfälscht." Sie drückte es mir in die Hand und suchte nach einem weißen T-Shirt. „Und dann noch die Hose... Wie wäre es mit der hier? Schwarz und schlicht."
Ich stieß einen Seufzer aus, fand aber dann, dass sie wirklich das Beste aus meinem Schrank geangelt hatte. „Na gut. Danke."
Sie setzte sich zufrieden auf meine Bettkante. „Bist du aufgeregt?"
„Trish, bitte. Dieses Gespräch wird nur unangenehm, für beide Seiten. Versuch es gar nicht erst."
Sie schmunzelte. „Versuchen muss ich es ja, wer soll diesen Part sonst übernehmen? Dein Dad?"
Der Gedanke, dieses Gespräch mit meinem Dad führen zu müssen, hätte mich vermutlich davon abgehalten jemals auf ein Date zu gehen.
„Du musst keine Angst haben. Erste Dates sind toll!"
„Ich hab keine Angst." Ihr Grinsen wuchs und ich glaubte fast, dass sie die Lüge in meinen Worten hören konnte. „Ehrlich, hab ich nicht."
„Mhm", neckte sie. „Du wirst mich jetzt dafür hassen, aber wehe du schwängerst heute jemanden."
„Trish, bitte!", flehte ich und drückte mir die Kleidung, die sie rausgesucht hat gegen das Gesicht, damit sie nicht sah, wie ich knallrot anlief.
Sie lachte amüsiert und ich sah sie genervt an. Dann legte sie den Kopf schräg und wurde ein wenig ernster. „Du weißt, dass ich nur Spaß mache? Ich meine, ich bin glücklich, dass du dich mit jemandem triffst, aber... ich will nicht, dass du denkst, dass ich stolzer auf dich bin, wenn du mit jemandem gehst, als wenn du es nicht tust."
„Weiß ich", erwiderte ich knapp und sie verdrehte theatralisch die Augen.
„Na, schön. Du willst wirklich nicht drüber reden." Sie stemmte sich hoch. „Zum Glück hab ich ja noch eine Tochter, die alles mit mir teilt. Viel Spaß bei deinem Date. Fahr vorsichtig, benutz Kondome und komm nicht zu spät."
Sie hatte die Hand schon an der Klinke, als ich es mir anders überlegte und zu ihr herumfuhr. „Warte!" Bescheiden drehte sie sich wieder um.
„Ja?" Ich hasste den feixenden Tonfall in ihrer Stimme.
„Nur eine Sache. Was, wenn... mir irgendwann nichts mehr einfällt, worüber wir reden können?"
„Dann ist sie nicht die Richtige für ein Date", sagte Trish schlicht, aber völlig ernst. „Glaub mir, mit der richtigen Person kannst du stundenlang über alles Mögliche reden, ohne, dass es langweilig wird. Aber im Notfall kannst du ihr immer Fragen stellen. Fragen kommen gut. Die meisten Menschen reden gerne von sich. Und stell ihr zu ihren Antworten dann auch gleich noch ein paar Fragen. Geheimtipp. Dann klingst du nicht wie ein Fragebogen in der Notfallaufnahme, sondern wie ein Gesprächspartner." Ich musste ein Grinsen unterdrücken und Trish lächelte.
„Aber was ist, wenn..." Ich kniff kurz die Lippen zusammen und sie sah mich forschend an.
„Wenn?"
„Wenn sie mich nicht mag. Meine Kleidung oder wie ich aussehe, oder wie ich bin. Es ist mein erstes Date, ich will einfach, dass es gut läuft und sie mich gerne hat."
Trish kam noch einmal zu mir und legte mir beide Hände auf die Schultern, während sie mir fest in die Augen sah. „Sie wird dich vom ersten Augenblick an lieben, das verspreche ich dir. Wie könnte dich jemand nicht gerne haben? Hab keine Angst davor zu sein, wer du bist. Du hast das Golden-Retriever-Herz von deiner Mom, das darfst du niemals verstecken. Und wenn dieses Mädchen das nicht sehen kann, dann lauf so schnell du kannst in die andere Richtung."
~~ ~~
Als ich am frühen Nachmittag mit der großen Stranddecke unterm Arm nach den Autoschlüsseln an dem Haken neben der Türe angelte, sagte Dad, der gerade in der Küche das Chaos mit Trish beseitigte: „Komm nicht zu spät."
„Was ist denn zu spät?", hakte ich nach, in der Hoffnung, die Sperrstunde ein bisschen nach hinten schieben zu können, wenn ich ein Date hatte.
Er sah mich an. „Das weißt du. Ich will, dass du um zehn wieder hier bist."
Trish haute ihm wieder auf den Oberarm und sah ihn böse an. „Wir machen elf Uhr draus. Es ist ein langer Weg bis zum Strand, und morgen ist Sonntag, da kann er ausschlafen." Noa und ich fuhren zum Strand in Santa Cruz, die Autofahrt betrug höchstens fünfzig Minuten, aber nicht in der Nacht. Ich hasste es oft, dass Trish sich in mein Privatleben einmischte, aber mindestens genauso oft revanchierte sie sich dafür wieder.
Dad seufzte tief. „Von mir aus. Auf die eine Stunde kommt es dann wohl nicht mehr an."
Trish strahlte. „Also, Mitternacht!"
Dad hob mahnend den Finger. „Nein, stopp, das hab ich nie-"
„Auf die eine Stunde kommt es doch wohl nicht mehr an", wiederholte Trish neckend seine Worte und scheuchte mich aus dem Haus, bevor Dad seinen Satz beenden konnte. „Fahr vorsichtig!", rief sie noch.
Ich warf alles ins Auto und fuhr los. Auf halber Strecke hielt ich noch an einem kleinen Supermarkt und kaufte geschnittene Wassermelone, Chips, saure Gummischlangen, eine Packung Beeren und Salzstangen.
Als ich wieder im Wagen saß, bemerkte ich erst, wie wild mein Herz pochte. Ich war noch nie in meinem Leben so aufgeregt gewesen. Das lag vielleicht daran, dass ich selten etwas ohne Freya unternahm. Und das hier war eine riesengroße, neue Sache, die ich ohne sie schaffen musste. Aber vielleicht würde sie ja in meinen Kopf rutschen und dabei sein.
Nein, Moment, das wollte ich nicht. Es gab Dinge, die ich gerne für mich behalten wollte.
Ich lenkte den Wagen wieder auf die Hauptstraße. Weil Noa den Strand nur äußerst umständlich erreicht hätte, hatte ich angeboten, sie an einer Busstation aufzugabeln, damit wir zusammen fahren konnten. Je näher ich besagter Bushaltestelle kam, desto nervöser wurde ich.
In der Ferne konnte ich jemanden an dem verlassenen Bushäuschen in der prallen Sonne stehen sehen, mit einer großen Strandtasche an der Schulter und hielt die Luft an. Wie konnte es sein, dass mich mein erstes Date mehr unter Druck setzte, als meine halbverblutende Zwillingsschwester, die sich mitten in der Nacht mit einem Monster angelegt hatte? Es war lächerlich.
Noa erkannte mich sofort hinter dem Steuer und winkte mir zu. Es hätte keine Möglichkeit gegeben, an der Bushaltestelle zu halten, also bedeutete ich ihr, dass ich am Straßenrand eine Straße weiter halten würde und sie nickte und folgte dem Wagen. Als ich geparkt hatte, ausstieg und Noa zum ersten Mal so richtig wahrnahm, als sie auf mich zukam, fielen mir fast die Augen aus dem Kopf. Gut, so dramatisch war es dann auch wieder nicht, aber mir blieb auf jeden Fall der Mund offenstehen.
Wie hatte ich so fixiert auf das blonde Mädchen sein können, wenn neben ihm ein so umwerfend schöner Mensch gesessen hatte? Ich war völlig sprachlos. Noa hatte lange, dunkle Haare, eine schlanke Figur, lange Beine und sie trug einen großen Sonnenhut, der an jeder anderen Person lächerlich ausgesehen hätte. Sie strahlte mich an, während sie mir entgegenkam und-
Konnte man sich schockverlieben? Gab es so etwas? Wenn ja, dann hatte ich mich vielleicht gerade Hals über Kopf in dieses Mädchen schockverliebt, ganz bestimmt.
„Hi!" Sie umarmte mich zur Begrüßung und ich war völlig überrumpelt. Ihr Hut drückte sich in mein Gesicht, aber das war mir egal, weil sie mich gleichzeitig in den süßen Duft eines Parfums einhüllte und ich ihre nackte Schulter berührte.
Wie in Trance starrte ich das Mädchen an, während es sich gut gelaunt den Hut vom Kopf zog und in den Wagen sprang. Ich tat es ihr gleich, setzte mich hinters Steuer und lenkte den Wagen mit weich gewordenen Beinen wieder auf die Straße. Jetzt bloß keinen Unfall bauen!
Noa sprudelte sofort drauf los. „Ich wusste nicht genau, was du trinken möchtest, also hab ich einfach Mal alles eingepackt, was ich auch gut finde. Ich hab Pfirsicheistee, Cola, Zitronenwasser und -das beste auf der Welt- Sprite!" Sprite. Vielleicht war dieses Mädchen für mich geschaffen worden. „Oh und ich hab Spielkarten dabei, falls uns langweilig wird. Schwimmen gehen können wir ja heute nicht, wegen der starken Wellen." Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte und ich merkte, dass sie mich unsicher musterte.
„Tut mir leid", sagte ich sofort und schüttelte den Kopf. „Ich bin nur..."
„Meine Mom sagt immer, dass ich zu viel rede, wenn ich aufgeregt bin, und einfach mal die Klappe halten sollte."
„Nein!" Sie durfte nicht aufhören zu reden, denn dann hätte ich den Mund aufmachen müssen und dabei wäre wahrscheinlich im Augenblick nicht viel mehr herausgekommen als: „Du bist das schönste Mädchen, das ich je gesehen habe!". Und zwar in Dauerschleife. „Hör nicht auf zu reden", sagte ich.
„Diese Bitte wirst du irgendwann bereuen", schmunzelte sie. „Unten am Strand gibt es übrigens im Blue Gull den besten Eiskaffee! Warst du dort schon mal?" Ich schüttelte den Kopf. „Dann müssen wir da hin! Ich hatte schon sehr lange keinen Eiskaffee mehr und es fehlt mir total."
Die gesamte Fahrt über konnte sie nicht aufhören zu reden und ich konnte nicht aufhören wie ein Bekloppter zu grinsen. Der Strand war um diese Jahreszeit noch nicht von Touristen überschwemmt und es zogen immer Mal wieder Wolken über den windigen Himmel. Die Wellen waren wirklich ziemlich stark und schwappten kräftig ans Ufer.
Wir packten alles aus dem Kofferraum und suchten uns eine Stelle, abseits von einer Familie mit drei kleinen Kindern und einem nassen Hund, breiteten die Stranddecke, die ich mitgebracht hatte, aus und legten alle Getränke und Snacks auf.
Noas extremer Redeschwall ließ allmählich nach, je länger wir auf der Decke saßen und auch ich war nicht mehr so nervös wie im Auto. Meine Zunge war nicht mehr gelähmt und mein Kopf hatte sich von dem kleinen Systemabsturz erholt, sodass tatsächlich Gespräche zustande kamen, an denen ich auch beteiligt war. Ich fand heraus, dass sie auf dieselbe Schule ging, wie Freya und ich. Sie war eine Stufe unter mir, weshalb sie zu einer anderen Uhrzeit die Große Pause hatte und in einem völlig anderen Trakt des Gebäudes ihren Unterricht besuchte, weshalb ich sie vermutlich nie zu Gesicht bekommen würde. Noa fand im Laufe unseres Gesprächs schnell heraus, dass ich einer der beiden Zwillinge an unserer Schule war und fragte, ob das Mädchen, das neben mir im Restaurant gesessen hatte, als ich herübergekommen war, um ihrer Freundin meine Nummer zu geben, meine berühmt berüchtigte Schwester war.
„Berühmt berüchtigt?", hakte ich amüsiert nach.
„Naja, seid ihr nicht irgendwie beide... total berühmt? Ihr seid doch Die Zwillinge."
Ich musste lachen. „Ja, das schon, aber du meinst Freya. Das Mädchen im Restaurant war meine Halbschwester, Dee." Noa nickte, während sie an einem Stück Wassermelone kaute. „Aber ich muss sagen, es fühlt sich ziemlich seltsam an, dass du schon von mir und meiner Schwester gehört hast, obwohl wir einander nie begegnet sind... Wir sind doch keine Promis."
„Tja, hier draußen vielleicht nicht, aber an unserer Schule schon."
„Was erzählt man denn so von uns?"
„Das weißt du nicht?"
„Die Leute haben witzigerweise eher die Angewohnheit über Freya und mich zu sprechen, anstatt mit uns."
Noa grinste mich so süß an, dass mein Bauch zu kribbeln begann. „Verstehe. Naja, was deine Schwester angeht... die meisten Jungs, die ich kenne, finden sie unglaublich hübsch und würden sich ein Bein absägen, um mit ihr hier zu sitzen, so wie du und ich. Die Mädchen sind eher eifersüchtig auf sie. Aber deine Schwester scheint eine sehr..." Sie kniff nachdenklich die Augen zusammen. „Kühle Persönlichkeit zu sein, ohne sie beleidigen zu wollen. Die meisten Jungs haben Angst davor, sie überhaupt anzusprechen."
Ich winkte milde ab. „Jaja, das weiß ich schon." Erst gestern hatten mich wieder zwei Jungs gefragt, ob ich Freya fragen könne, ob sie an ihnen interessiert sei und daran, mit ihnen auf den Schulball im Herbst zu gehen. Das passierte häufiger als mir lieb war. Ich hatte beiden gesagt, dass meine Schwester lesbisch war und als ich Freya davon erzählt hatte, hatte sie mir den Kopf getätschelt und gesagt: „Braver Junge."
„Und du bist einfach..." Noa betrachtete mich und biss sich auf die Lippen. „Die Mädchen in meiner Parallelklasse haben einen Spitznamen für dich. Sie nennen dich Adonis, das sagt glaube ich schon alles."
Oh Gott, wie peinlich. Es war nicht der angenehmste Gedanke, von einer Gruppe Mädchen beim Namen einer griechischen Gottheit genannt zu werden. Wie kam man überhaupt auf so eine bescheuerte Idee?
„Ich meine, du bist schon ziemlich attraktiv", erklärte sie, als wäre das eine objektive Tatsache. Dann beugte sie sich zu mir, zupfte mir das Bandana von Kopf und grub ihre Finger in meine Haare, während mein Blick für den Bruchteil einer Sekunde in ihren Ausschnitt rutschte, aber das bemerkte sie nicht.
Es war nicht ungewöhnlich, dass Mädchen oder ältere Damen meine Locken einfach so anfassen wollten, obwohl ich nicht ganz verstand, was an ihnen so besonders sein sollte. Und meistens passierte es ungefragt, aber Noa war mein Date, deshalb war es vermutlich nicht schlimm.
Sie arrangierte meine Locken, bis ich mir sicher war, wie eine Vogelscheuche auszusehen, aber sie lehnte sich zufrieden zurück und betrachtete mich. „So ist es viel besser! Das sieht richtig süß aus!"
„Ach ja?" Mehr fiel mir dazu nicht ein. Meistens trug ich mein Bandana, weil meine Locken sonst schnell verknoteten und außerdem sah man sonst mein Piercing am Ohr nicht. Wozu hatte ich wochenlange Diskussionen mit Dad und Trish durchgefochten, wenn ich es jetzt nicht zeigen durfte?
Noa senkte schüchtern den Blick und schob sich eine Strähne hinters Ohr. „Tut mir leid... Ich hab nur noch nie einen so schönen Menschen gesehen."
Schön? Das musste ich Freya und Dee später erzählen. Die beiden würden an die Decke gehen und alles dafür tun, mein Ego wieder auf Normalgröße zu prügeln.
Wir verbrachten den ganzen Nachmittag am Strand. Gegen sieben gingen wir zum Blue Gull, von dem sie erzählt hatte, und ich lud sie auf ihren heißersehnten Eiskaffee und eine Portion Pommes mit Ketchup ein. Wir versuchten auch Karten zu spielen, aber der Wind fegte sie jedes Mal von der Decke, sodass wie es irgendwann sein ließen und stattdessen am Ufer im kalten Wasser herumalberten und uns gegenseitig nass machten.
Als die Sonne langsam unterging, packten wir die Sachen zurück in mein Auto und ich schlug vor, dass wir noch ein bisschen am Strand spazieren gehen könnten, weil ich nicht wollte, dass unsere gemeinsame Zeit endete. Noa zog sich die Sandalen aus, hakte sich bei mir unter und wir gingen nah am Meer entlang. Immer wieder schmiegte sie sich eng an mich und suchte nach Körperkontakt, den ich, ein wenig ungeschickt zu erwidern versuchte. Es war nicht so, dass es mir nicht gefiel, es fühlte sich nur sehr ungewohnt an, aber als Noa ihre Finger zwischen meine gleiten ließ und meine Hand beim Spazieren festhielt, pochte mein Herz doppelt so schnell wie davor und ein Teil von mir war sich sicher, dass ich ihre Hand nie wieder loslassen wollte.
Irgendwann hielt sie mich an, mitten am Strand, ließ ihre Schuhe in den Sand fallen und legte ihre Arme um meine Schultern. „Ich finde dich wirklich richtig süß", lächelte sie mit einem verträumten Ausdruck in den blauen Augen und ihr Blick glitt zwischen meinen Augen und meinen Lippen hin und her. Meine Hände lagen plötzlich wie von allein auf ihrer Taille, meine Finger ertasteten den Streifen Haut zwischen ihrem T-Shirt und den Shorts und mein Herz drohte, mir aus der Brust zu springen.
Würde ich gleich meinen ersten Kuss haben? Mit diesem wunderschönen, süßen Mädchen mitten auf dem Strand bei Sonnenuntergang?
Freya hätte mich vermutlich ausgelacht und als kitschigen Romantiker bezeichnet, wenn sie gewusst hätte, wie aufgeregt ich über diese Tatsache war.
Ich neigte den Kopf ein Stück weit zu ihr und sie verstand die Aufforderung, stellte sich auf die Zehenspitzen und legte ihre Lippen auf meine. Es fühlte sich an, als würden in diesem wundervollen Panorama pinke Raketen in die Luft schießen und im Himmel zerbersten. Wenn ich gewusst hätte, wie gut sich das anfühlte, hätte ich es bestimmt schon viel früher getan. Ihre Lippen waren weich und schmeckten nach Eiskaffee und Noa. Ich mochte die Art, wie sie sich an mich schmiegte, wie sie ihre Lippen bewegte und wie sie ihre Finger in meine Locken gleiten ließ und es war vielleicht das erste Mal in meinem Leben, dass mir das überhaupt nichts ausmachte. Mein Körper fühlte sich an, wie wenn man in einer Achterbahn sitzt und die Bahn hinunterrauscht und man sich einen Augenblick schwerelos fühlt und alles kribbelt. Ich wollte mehr davon!
Ich hatte keine Ahnung, wie lange wir am Strand standen und uns einfach nur küssten, aber als wir uns wieder voneinander lösten, war die Sonne hinter dem Meer verschwunden.
Händchenhaltend machten wir uns auf den Weg zurück zum Auto. Noa war mit dem Bus gekommen und ich fragte, ob ich sie nach Hause fahren sollte. Sie strahlte mich an und ich hielt ihr die Beifahrertüre auf, damit sie einsteigen konnte. Sie nannte mir ihre Adresse und ich war erleichtert, dass das Navigationsgerät im Auto eine Dreiviertelstunde anzeigte. Ich wollte einen Abschied so lange wie möglich hinauszögern. Unsere Hände fanden wie automatisch wieder zueinander und wir hielten einander fest, fast während der ganzen Fahrt.
„So, wir sind da", sagte ich, als ich vor der Einfahrt parkte, und konnte die Enttäuschung kaum aus meiner Stimme verbergen. Es war ein hübsches Haus. Viel kleiner als unseres, aber es war weiß gestrichen und im Vorgarten blühte alles und war bunt.
„Sehen wir uns wieder?", fragte sie hoffnungsvoll, als sie den Sicherheitsgurt löste.
„Hoffentlich", erwiderte ich und sie beugte sich glücklich zu mir und küsste mich noch einmal, ohne meine Hand loszulassen. Als sie nach ihrer Tasche griff und aus dem Wagen kletterte, fühlte ich mich sofort kalt und allein. Als hätte ich mit Noa zum ersten Mal in meinem Leben ein Licht gesehen und würde nun wieder in der Dunkelheit sitzen.
Ich sah noch, wie sie die Treppen zu ihrem Haus hochsprang und mir an der Türe mit ihrem umwerfenden Lächeln zuwinkte, bevor sie im Inneren des Gebäudes verschwand.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top