13
Freya
Unser Chemieprojekt war das beste der Klasse und ich rief Onkel Aidan an, um ihm noch einmal für die Idee zu danken. Er sagte mir, wie stolz er auf uns war und als ich auflegte, drehte ich mich zu meinem Bruder, der in meinem Zimmer auf dem Boden lag, die Beine angewinkelt, mit einem Magazin vorm Gesicht. Ich fragte mich, ob Finn sich diese Angewohnheit von ihm abgeschaut hatte.
„Geht es nur mir so, oder weißt du auch nie, was du mit deiner Freizeit anfangen sollst, wenn plötzlich nichts mehr für die Schule zu tun ist?", fragte er mit zusammengezogenen Augenbrauen. Ich warf einen irritierten Blick aus dem Fenster.
„Warum gehst du nicht raus? Die Sonne scheint. Leg dich an den Pool."
„Nein... darauf hab ich keine Lust."
„Dann hol dein Rad aus dem Schuppen und fahr um den Block."
Er seufzte tief und drückte sich das Magazin gegen die Brust. „Weiß nicht... Wir könnten doch zusammen raus."
„Ich hab immer noch Hausarrest."
„Aber Dad und Trish sind nicht da."
„Aber Dee ist da."
Ace verdrehte die Augen. „Dee sagt schon nichts. Vertrau ihr doch mal." Er wandte sich wieder dem Magazin zu.
Neugierig reckte ich den Hals, um von meinem Schreibtischsessel aus etwas sehen zu können. „Was hast du da eigentlich?"
„Eine von Dees Zeitschriften", erwiderte er hochkonzentriert und kreuzte etwas an. Ich entschied, dass es wahrscheinlich besser war, nicht nachzufragen.
„Und was willst du machen?"
„Fühle ich mich auch ohne Make-up selbstbewusst?", murmelte Ace analytisch und zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen.
„Was?"
Er winkte ab. „Das ist nur Frage acht. Holen wir uns einen Eiskaffee oder so. Bitte, Freya, ich sterbe vor Langeweile."
„Das sehe ich", erwiderte ich verstört und deutete auf das Magazin.
Mit dem Radiergummi des Stifts an den Lippen sagte er: „Oder wir gehen ins Museum?"
„Ins Museum? Warum willst du ins Museum?"
„Tante Bev hat gesagt, dass es in Fresno seit ein paar Tagen eine Kunstausstellung von einem asiatischen Künstler gibt, der total abgefahrene Sachen macht."
Ich holte tief Atem. Eigentlich war ich kein Fan von Museen. Ich fand sie öde, besonders Kunstmuseen. Aber wenn ich ehrlich war, dann war mir zu Hause auch nicht weniger langweilig. Also schwang ich mich aus dem Stuhl. „Na, schön. Ich kann diese Wände sowieso nicht mehr sehen."
Er setzte sich auf. „Gib mir eine Sekunde, ich muss die Punkte zählen."
„Die Punkte wofür?" Er antwortete nicht, stattdessen glitt die Spitze des Stifts sanft über das Papier und er murmelte Zahlen vor sich hin. Dann kreiste er etwas auf dem Papier ein, überflog ein paar Zeilen und grinste triumphierend und ein wenig selbstironisch.
„Sehr schön, das freut mich!"
„Was freut dich?"
Er reckte das Magazin wie eine Trophäe in die Luft. „Ich bin eine mysteriöse Frau, die jeden Typen um den kleinen Finger wickeln kann." Er grinste mich breit an. „Eine mysteriöse Frau... Ich bin mysteriös!"
„Aber du bist keine Frau!" Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte.
Er schwenkte die Zeitschrift. „Das hier sagt was anderes."
„Weil das ein Frauenmagazin ist! Hat Dad den Weinschrank nicht abgeschlossen? Oder hast du dich mit Mundwasser zugedröhnt?"
Ace warf die Zeitschrift auf mein Bett. „Wie dem auch sei, gehen wir?"
Ich griff nach der Zeitschrift und überflog die Fragen und seine Antworten. „Welchen Duft trägst du am liebsten?", las ich vor und sah meinen Bruder an. „Warum hast du denn blumig angekreuzt? Du trägst kein Parfüm."
„Aber wenn ich es würde-"
„Und seit wann stehst du drauf, wenn Jungs den ersten Schritt machen? Willst du mir was beichten?"
Er grinste und spazierte aus meinem Zimmer. „Komm schon, lass uns fahren."
„Warte, hier!" Ich lief ihm mit dem Magazin in der Hand nach. „Frage sieben: Wie fandest du dein erstes Mal? Das Magazin kannst du vielleicht belügen, aber ich weiß, dass du noch Jungfrau bist!"
Er drehte sich zu mir, während wir die Treppen nach unten gingen. „Das war aber keine Antwortmöglichkeit. Es gab nur: Es war schön und es hat wehgetan und, mein persönlicher Favorit: Er hat sich nie wieder bei mir gemeldet. Anscheinend gehen diese Magazine davon aus, dass jeder Mensch auf der Welt seine Jungfräulichkeit im Volkschulalter verliert und alle Männer Arschlöcher sind."
„Das fällt unter Allgemeinwissen, Bruderherz." Ich legte die Zeitschrift auf den Tisch und Ace reichte mir meine Jacke.
„Glaubst du Dee ist noch Jungfrau oder warum hat sie das Quiz nicht ausgefüllt? So ein Blödsinn ködert sie doch immer", meinte ich und bereute es im nächsten Augenblick. Die Jungfräulichkeit seiner eigenen Halbschwester mit seinem Zwillingsbruder zu besprechen, war nichts, das ich je auf meiner Bucketlist stehen hatte. Ace schien ähnlich verwirrt über meine Frage.
„Also, wenn du es genau wissen willst", kam es von der Couch und ich fuhr herum. Dee saß mit ein paar Notenblättern im Wohnzimmer und hatte die Stirn in Falten gelegt, ohne mich anzusehen.
„Will ich nicht", sagte ich schnell, aber ich spürte, wie mein Kopf hochrot wurde.
„Gut." Sie nickte. „Geht dich ja auch nichts an."
Seit ich Trish im Streit gesagt hatte, dass Dee nicht meine Schwester war, versuchte sie mir die kalte Schulter zu zeigen. Das war mir nur recht, aber trotzdem hätte sie meine Frage eben nicht mitbekommen müssen.
Sie warf mir über den Rand ihrer Notenblätter hinweg einen skeptischen Blick zu. „Wo wollt ihr hin? Hast du nicht noch Hausarrest."
„Bist du mein Gefängniswärter?", knurrte ich zurück.
„Dee, bitte", sagte mein Bruder und traf sie mit seinem Rehblick. Dee schüttelte den Kopf und wandte sich wieder ab.
„Ist mir doch so egal. Macht, was ihr wollt."
Ace und ich wechselten noch einen kurzen Blick miteinander, dann verließen wir das Haus. Weil Dad mit dem Auto in der Arbeit war, mussten wir den Bus nehmen.
Ace zupfte sich das dunkelviolette Bandana vom Kopf, band es sich ums Handgelenk und schüttelte seine Locken aus. Wir redeten nicht miteinander, während wir zur Bushaltestelle gingen. Erst als der Bus vorfuhr und wir hinter einer älteren Dame mit Trolley und Stock einstiegen, fragte ich: „Und? Hattest du dein Date schon?"
Er steuerte zwei freie Sitze an, ließ mich auf den Fensterplatz rutschen und setzte sich neben mich.
„Nein. Am Samstag."
„Tut mir leid, dass du es unseretwegen verschieben musstest", sagte ich und meinte es tatsächlich so. Ace winkte ab.
„Wenn ich gewusst hätte, was sich mir offenbart, hätte ich nicht so gemeckert." Ich grinste. „Sagst du mir endlich, mit wem du dich getroffen hast?"
Jetzt grinste ich nicht mehr, sondern wandte den Blick ab. „Nein."
„Wieso nicht?"
Weil du mich hauen würdest, dachte ich, was vermutlich sogar gerechtfertigt gewesen wäre. Mein Onkel, Trish und besonders Dad hatten uns unser ganzes Leben lang eingebläut, dass wir uns von Jägern verdammt nochmal fernhalten sollten, weil diese Typen gerne zuerst schossen und danach die Fragen stellten. Und ich hatte mich mit einem an denselben Tisch gesetzt und zu Abend gegessen. Ich hatte sogar Mitleid mit ihm empfunden, als er mir von seinen Eltern erzählt hatte.
Wegen meines Hausarrests hatte ich lange nicht mehr trainieren gehen können, deshalb waren wir einander nicht mehr begegnet aber seine Nummer brannte wie heiße Kohlen in meinem Kopf. Dabei wusste ich wirklich nicht, was es war, das mich so reizte. War es die Gefahr? War es die Tatsache, dass er angeboten hatte, mir das Kämpfen richtig beizubringen? Oder war es etwas viel Gefährlicheres?
„Ist sowieso egal", sagte ich dann. „Ich werde ihn nicht wieder sehen." Diese Worte verließen meinen Mund nur widerstrebend, aber es war das einzig Richtige.
Ace blick verfinsterte sich sofort. „Wieso? Hat er was angestellt?"
Ich schüttelte den Kopf. „Nein."
„Wirklich?"
„Wirklich. Ganz ehrlich. Und wenn, dann hätte ich mich ja wohl wehren können. Ich bin nicht Dee."
Ace nickte zustimmend. „Da hast du wohl recht."
Die ältere Dame, die vor uns eingestiegen war und auf dem Fensterplatz zwei Reihen vor uns saß, nieste laut. „Gesundheit!", rief mein Bruder nach vorne und sie drehte sich mühsam um. Ace lächelte sie an und sie lächelte doppelt so breit zurück.
„Danke!" Ich beobachtete meinen Bruder, als sie sich wieder nach vorne gedreht hatte. Er sah so glücklich aus. So, als wäre er erleichtert, dass er seine gute Tat für heute vollbracht hatte. Ace konnte mir auf den Senkel gehen, aber er hatte ein größeres Herz als ich, soviel stand fest. Er war die Art von Person, die Obdachlosen immer Kleingeld gab und sich mit ihnen unterhielt, wenn er das Gefühl hatte, dass sie das wollten. Er war die Art von Person, die einen Marienkäfer oder Regenwurm vom Straßenrand klaubte und ins nächste Gebüsch brachte. Er war die Art von Person, die einem anderen Menschen im Café das Getränk bezahlte, wenn der sein Geld vergessen hatte.
Ace war jemand, der sich im Zug neben ein fremdes Mädchen setzte, das von Typen mit Essen beworfen wurde; jemand, der älteren, erkälteten Damen im Bus Gesundheit wünschte; jemand, der dem Date seiner Schwester noch Wochen später in den Hintern getreten hätte, wenn es sie schlecht behandelt hätte.
Mein Bruder hatte ein riesengroßes Herz und ich hasste es, ihn zu belügen. Allein deshalb konnte ich mich nicht noch einmal mit dem Jäger treffen. Außerdem hätte das meine Familie und ganz besonders ihn in Gefahr gebracht. Ich hätte mich schon auf das erste Treffen niemals einlassen sollen. Wenn der Jäger herausgefunden hätte, was ich war, dann wäre auch mein Bruder dran gewesen. Das konnte ich der Welt nicht antun. Es gab ohnehin schon zu wenig Aces auf dieser Erde.
Doch das bedeutete gleichzeitig, dass ich nicht mehr kämpfen gehen konnte. Nicht, solange der Jäger in der Stadt war, und er hatte mir erzählt, dass er nicht so bald vorhatte zu gehen. Aber wenn ich zwischen dem Kämpfen und meinem Bruder wählen musste, dann war es keine schwere Entscheidung.
Was hast du?, fragte Ace.
Ich schüttelte den Kopf. Nichts.
~~ ~~
Entgegen meiner Erwartungen war der Museumsbesuch nicht ganz so grauenhaft, obwohl ich immer noch fand, dass man Skulpturen nicht aus den Verschlüssen von Wasserflaschen machen sollte.
Als wir am späten Nachmittag um kurz vor fünf wieder in unsere Straße bogen, blieben wir beide abrupt stehen, als wir das Auto in unserer Einfahrt sahen.
„Ach du...", murmelte Ace.
„Warum ist er schon hier?", schimpfte ich ungläubig. „Nie kommt er vor zehn, wenn man mal möchte, dass er auftaucht."
Ace sah mich an. „Willst du durchs Fenster auf dein Zimmer klettern? Ich helfe dir." Er meinte es völlig ernst und ihm war das schlechte Gewissen ins Gesicht gedruckt. Kurz überlegte ich, ob ich wirklich durchs Fenster in mein Zimmer klettern sollte, aber ich war mir ziemlich sicher, dass ich das Fenster verriegelt hatte und falls Dad im Wohnzimmer war, hätte er die Räuberleiter, die Ace und ich im Garten vollführt hätten ohnehin gesehen.
Ich schüttelte den Kopf und schloss die Augen. „Nein. Lass gut sein. Dann hab ich eben wirklich Hausarrest bis ich achtzehn bin. Was soll's?" Ich zog die Schultern zurück und marschierte entschlossen auf unser Haus zu.
Als ich die Türe aufzog spürte ich bereits die eisige Kälte, die mir entgegen schlug, obwohl es bestimmt fünfundzwanzig Grad im Haus hatte, aber Dad stand mit verschränkten Armen im Wohnzimmer und starrte mich finster an. Dee saß am Tisch, kaute an ihrem Daumennagel herum und sah wie ein begossener Pudel aus. Sie war eingeknickt. Natürlich.
Ace betrat nach mir das Wohnzimmer und schloss die Türe hinter uns.
„Du bist so eine ekelhafte Petze!", zischte ich in Dees Richtung. Nie hätte ich gedacht, dass meine Abscheu für sie noch mehr wachsen könnte.
Ungläubig blinzelte sie mich an. „Was hätte ich denn sagen sollen, ihr wart beide weg! Dass zwei Ganoven hier hereinspaziert sind, mir eine Waffe an den Kopf gehalten und meine Geschwister mitgenommen haben?"
„Das mit den Geschwistern wäre schon ein bisschen dick aufgetragen gewesen", murmelte ich und Dees Blick verfinsterte sich noch ein bisschen mehr.
„Du bist so eine-"
„Es reicht!", ging Dad dazwischen, wobei er nur mich ansah. „Wo warst du?"
„Bei meinem Drogendealer", knurrte ich.
„Freya, ich bin nicht in Stimmung."
„Wir waren im Museum, mein Gott. Wir haben uns eine Kunstausstellung angesehen."
Dad hob die Augenbrauen. „Und das soll ich dir abkaufen?"
Ich drehte mich zu Ace. Unfassbar, da mach ich einmal etwas, das er bewilligen würde und dann glaubt er mir nicht.
Mein Bruder schnaubte halb amüsiert, halb unsicher. „Dad, wir waren wirklich im Museum. Ich hab Freya überredet, es ist meine Schuld." Er trat vor mich, als wollte er mich vor dem Ärger beschützen, der gleich auf mich zukommen würde.
Dad nickte sauer. „Ja, ich bin sicher, du musstest dir den Mund fusselig reden, damit sie das Haus verlässt."
Sein Blick schnellte zurück zu Dee, die sofort den Kopf einzog. „Und denk nicht mal dran, mich beim nächsten Mal anzulügen, nur weil ich die Wahrheit nicht durch Zufall herausfinde." Er deutete erst auf sie, dann Ace und schließlich die Treppen hinauf. „Geht auf eure Zimmer."
Dee hastete in den ersten Stock, während Ace sich nicht vom Fleck bewegte. „Es war wirklich meine Schuld", wiederholte er. „Freya wollte nicht, sie hat mich daran erinnert, dass sie noch Hausarrest hat. Ich wollte nur nicht allein ins Museum und hab sie genervt. Wenn du jemanden bestrafen willst, dann bestraf mich."
„Du hast aber keinen Hausarrest", hielt Dad dagegen. „Du kannst gehen, wohin du willst. Und wenn der Präsident der Vereinigten Staaten auf der anderen Straßenseite gestanden und ihr zugewunken hätte, wäre am Gartenzaun trotzdem Schluss gewesen."
Ich hab's versucht, meinte Ace zerknirscht, aber ich schüttelte nur müde den Kopf.
Lass gut sein. Geh rauf. Aus der Nummer kam ich sowieso nicht raus. Dad war nie wütend auf Ace, egal, was er machte.
Mein Bruder seufzte tief und ging geknickt die Treppen hinauf.
Dad hatte immer noch die Arme vor der Brust verschränkt und spießte mich mit seinen Blicken auf.
„Ich werde mich nicht entschuldigen", sagte ich nach einer Zeit trotzig. „Ich finde, der Hausarrest ist unfair und ich hab mich lange genug an ihn gehalten, obwohl ich ihn nicht einmal verdient habe. Deshalb bin ich mit Ace gegangen."
„Das ist deine Verteidigung?", fragte Dad und zog ungläubig die Augenbrauen hoch. „Dass du findest, dass du ohnehin keinen Hausarrest haben solltest? Wenn das so ist, dann sollte ich vielleicht morgen einen Brief an den Obersten Gerichtshof verfassen, dass alle Straftäter ihre Strafe von nun an mitbestimmen sollten."
„Sehr gut, vergleich mich mit einem Serienmörder. Was kommt als nächstes? Bin ich bald Anführer der Taliban?"
Dad legte kopfschüttelnd sein Gesicht in die Hände. „Du machst mich fertig, weißt du das?"
„Es war doch nur ein Museumsbesuch!", verteidigte ich mich noch einmal. „Es war nicht Kino, es war nicht Eisessen, wir waren nicht am Strand oder Minigolf spielen. Es war sogar etwas, das mein Wissen aufstockt und unter anderen Umständen todlangweilig gewesen wäre, du solltest froh sein." Er schoss mir einen so missbilligenden Blick zu, dass ich wegsah. Wenn ich mich nicht weiter in die Scheiße reiten wollte, musste ich ganz dringen den Mund halten. „Und? Was ist diesmal meine Strafe?"
„Kannst du dir sicher denken", antwortete er mit eisigem Unterton. „Schick deiner Freiheit einen Abschiedskuss, du kannst sie nach deinem Geburtstag wiedersehen."
Natürlich, war ja klar gewesen. Ich stöhnte genervt auf und ließ den Kopf in den Nacken fallen. „Kannst du mich nicht einfach mit einem Gürtel verprügeln?"
„Das will ich nie wieder hören!", brüllte Dad plötzlich und ich zuckte zusammen. „Sag sowas nie, nie wieder, hast du verstanden? Nie wieder!"
Erschrocken starrte ich in sein vor Zorn verzerrtes Gesicht und keine fünf Sekunden später polterte Ace alarmiert die Treppen hinunter als hätte er einen Schuss gehört, blieb aber auf der dritten Stufe stehen und sah mich verstört an.
Dad drehte sich zu ihm. „Hab ich nicht gesagt, dass du auf dein Zimmer gehen sollst?"
Was zum Teufel hast du gesagt?, fragte Ace.
Ich hab nur einen kleinen Witz gemacht...
Er riss die Augen auf. Wie um alles in der Welt kommst du auf die Idee, jetzt Witze zu reißen?!
Ja, okay, das war dumm, du hast recht. Ich rollte mit den Augen.
„Geh auf dein Zimmer!", wiederholte Dad streng, aber er schrie nicht mehr.
Dad und ich stritten oft. Dabei konnte es manchmal laut werden, aber so einen Ausbruch hatte ich noch nie erlebt. Und Ace augenscheinlich auch nicht. Er sah mich unsicher an, aber ich machte eine wegscheuchende Handbewegung. Langsam trat er den Rückzug an und Dad wartete, bis Ace seine Zimmertüre geschlossen hatte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ihn mein klitzekleiner, geschmackloser Scherz wütender gemacht hatte als die Tatsache, dass ich gegen meinen Hausarrest verstoßen hatte.
Mir schlug das Herz immer noch bis in den Hals, als er sich kopfschüttelnd die Stirn rieb. „Freya, ich weiß nicht mehr, was ich tun oder sagen soll."
„Du weißt nie, was du tun oder sagen sollst, wenn es um mich geht", murmelte ich, immer noch perplex über seinen Wutausbruch.
Er legte die Stirn in Falten und sah mich forschend an. „Was?" Jetzt war er viel ruhiger, er sah beinahe erschöpft aus, als hätte sich all die angespannte Energie, die in ihm seit Wochen getobt hatte, entladen. Er wirkte müde.
„Du kannst mich nicht mal ansehen", erläuterte ich bitter. „Ist es, weil ich wie sie aussehe?"
Dad trat einen Schritt zurück, als hätte ich nach ihm ausgeholt. „Du redest Unsinn."
„Du musst mich nicht belügen, ich habe Augen im Kopf. Ich weiß, dass ich Mom ähnlichsehe. Warum redest du nie über sie?"
Er sah mich an und schüttelte wieder den Kopf. Einen Moment lang sagte er nichts darauf. „Was hat das damit zu tun, dass du nicht auf mich hörst, egal, was ich sage?"
Ich schluckte ein bitteres Lachen hinunter. War ja klar gewesen, dass er nicht auf Mom eingehen würde. Anstatt zu antworten, fragte ich nur: „Und was willst du jetzt mit mir machen? Du kannst mich nicht einsperren, das funktioniert ganz offensichtlich nicht, also, was willst du machen? Mich mit einer Eisenkette am Fuß ans Bett fesseln?"
Ich erwartete, dass Dad wieder wütend werden würde, aber er sah mich einfach nur an. Und es war das erste Mal seit einer halben Ewigkeit, dass er mich wirklich ansah. Lange hatte ich gedacht, dass mir das gefehlt hatte, aber jetzt wand ich mich innerlich unter seinem Blick.
„Ich weiß es nicht", sagte er schließlich leise, etwas, womit ich noch weniger gerechnet hätte, als mit der Explosion vorhin. „Ganz ehrlich, ich weiß nicht, wie-" Er presste die Lippen aufeinander und ein verzweifeltes Auflachen entkam ihm. „Ich weiß es nicht, Freya, ich bin am Ende mit meiner Energie. Du hörst nicht auf das, was ich oder Trish dir sagen, du suchst ständig Streit, du sagst uns nicht die Wahrheit, wenn wir danach fragen, und du erzählst uns kaum, was in deinem Leben vor sich geht. Das meiste erfahren wir von deinem Bruder oder Aidan. Wieso kannst du mit deinem Onkel reden, aber nicht mit uns? Warum kannst du mit mir nicht reden?"
Weil du mir das Gefühl gibst, eine billige Kopie von Mom zu sein. Das war das erste, das mir in den Kopf schoss. Es gab sicher viele Gründe, warum ich mit Onkel Aidan besser reden konnte als mit Dad, aber das war der schwerwiegendste.
Wenn Dad mich ansah, was ohnehin selten der Fall war, dann hatte ich das Gefühl, dass er enttäuscht war. Davon, dass ich nicht Mom war.
„Das willst du doch gar nicht", wisperte ich und merkte wie sich ein bitteres, enttäuschtes Lächeln auf meinen Lippen ausbreitete. „Du willst nicht mit mir reden, weil das, was ich zu sagen habe, nicht das ist, was du hören willst. Weil ich nicht wie Ace bin oder wie Dee und schon gar nicht wie Mom. Onkel Aidan hört mir zu. Du willst mir nicht zuhören."
Ich hoffte, dass er etwas darauf sagen würde, irgendetwas, das mir nicht das Gefühl gab, eine einzige Enttäuschung zu sein, nur weil ich ins Museum gegangen war. Dieser Augenblick war der erste sein Monaten, in dem ich das Gefühl hatte, dass wir auf derselben Ebene miteinander kommunizieren konnten und ich wollte, dass er mir jetzt sagte, dass er mich lieb hatte und immer lieben würde, egal wer ich war und welche Fehler ich auch machte.
Doch er senkte nur den Blick und stieß den Atem aus. „Geh jetzt hoch. Wir reden morgen weiter."
Wahrscheinlich ist es überflüssig zu erwähnen, dass wir am nächsten Tag nicht weiterredeten.
~~ ~~
In dieser Nacht konnte ich kein Auge zu tun.
Der Streit mit Dad saß mir noch immer in den Knochen und hatte eine Erinnerung freigeschaufelt, an die ich eigentlich nicht denken wollte.
Es war passiert, als Ace und ich noch ganz klein gewesen waren, Dee hatte es noch nicht gegeben. (Das glaubte ich zumindest, meine ersten Erinnerungen konnte ich zeitlich nicht alle korrekt einordnen). Dad hatte meinen Bruder und mich in den Wagen gepackt. Ace auf die rechte Rückseite, mich auf die linke. Er hatte sich hinters Steuer gesetzt und war losgefahren. Immer wieder hatte er sich mit dem Ärmel die Augen getrocknet. Ace hatte geschlafen. Ich hatte gelacht. Ich weiß nicht mehr, worüber ich gelacht hatte, irgendetwas hatte ich unheimlich komisch gefunden, vielleicht die kleinen, lila Stoffwürfel, die vom Rückspiegel gehangen hatten. Bei Ereignissen, die so weit in meiner Vergangenheit lagen, fiel es mir schwer, sie genau so zu sehen, wie sie passiert waren und nicht zu viel von meinem fast erwachsenen Selbst hineinzuinterpretieren. Aber diesen Abend konnte ich nicht falsch interpretieren. Das war nicht möglich.
Es war stockfinster gewesen und Dad hatte den Wagen an einem Plateau neben einer Landstraße geparkt, oben an einer Klippe und ich hatte den Leuchtturm und die Lichter der Schiffe in der Ferne sehen können. Nur ein wackeliger Holzzaun hatte das Plateau umrandet, damit man auch im Dunkeln nicht Gefahr lief, das Ende zu übersehen und abzustürzen.
Dad hatte den Motor und das Scheinwerferlicht ausgeschaltet. Nur die Lampe über dem Rückspiegel hatte noch gebrannt. Eine Zeit lang hatte er nur dagesessen, ich hatte sein Gesicht im Spiegel sehen können. Er hatte nicht aufgehört zu weinen. Er hatte so viel geweint, als hätte er allen Schmerz dieser Welt in sich getragen.
Ich weiß bis heute nicht, warum, aber ich hatte gespürt, was er gedacht hatte. Was er gefühlt hatte. Natürlich war ich damals noch viel zu klein gewesen, um diese Gedanken und Gefühle benennen oder gar verstehen zu können, aber heute wusste ich, dass Dad uns alle drei an diesem Abend und in diesem Auto ins Meer hatte stürzen wollen.
Er hatte einen Blick in den Rückspiegel geworfen, Ace hatte immer noch geschlafen und als sein Blick meinen getroffen hatte, hatte ich ihn zahnlos angegrinst und gelacht. Ich war so glücklich gewesen, während mein Dad uns alle beinahe umgebracht hätte, weil er Moms Tod nicht ertragen hatte. Weil er nicht gewusst hatte, was er nun mit Ace und mir anfangen sollte, da Mom weggewesen war. Das hatte ich damals zwar nicht so tiefgehend verstanden, aber über die Jahre hatte ich natürlich herausgefunden, dass nicht Dad einen unersättlichen Kinderwunsch gehabt hatte, sondern meine Mom und dass mein Dad nie so recht gewusst hatte, ob er ein guter Vater sein könnte. Diese Frage hätte ich ihm gerne beantwortet, nachdem seine einzige Lösung für all meine Taten Hausarrest war.
Ich werde fast von einem Monster getötet? Hausarrest.
Ich sage die Wahrheit, nämlich, dass er Ace und Dee mir bevorzugt? Hausarrest.
Ich atme? Gott, sei mir Gnädig -Hausarrest, Hausarrest, Hausarrest!
Irgendwann war Dad aus dem Wagen gestiegen, hatte die Türe auf meiner Seite aufgezogen und mich aus dem Sitz gehoben. Er hatte mich gehalten und ich hatte ihn angelacht und nach seinen Haaren und seinem Gesicht gegrapscht. Damals hatte er sich noch häufiger im Gesicht rasiert und er hatte noch keine grauen Strähnen gehabt, für die er immer Trish verantwortlich machte. Ich hatte auch ziemlich viel unverständliches Zeug gebrabbelt. Er hatte seine Hand vorsichtig an meinen Kopf gelegt und unter Tränen geflüstert: „Ich kann dich nicht beschützen. Ich konnte Addie nicht beschützen, wie soll ich dich und deinen Bruder beschützen?"
Und genau diese Worte hielten mich wach, denn ich musste daran denken, dass Onkel Aidan gesagt hatte, Dad würde mir nur so oft Hausarrest aufs Auge drücken, weil er Angst um mich hatte. Weil er mich vor der Welt beschützen wollte. Aber warum sperrte er nur mich ein und nicht Ace oder Dee? Es war nicht fair, dass ich ständig zu Hause hocken musste.
Gut, ich geriet öfter in Schwierigkeiten, als die beiden und machte oft Dummheiten. Und, obwohl er nichts davon wusste, war ich diejenige, die das Kämpfen lernen wollte. Nicht meine Geschwister. Aber ich fand, dass sein ständiger Hausarrest trotzdem nicht gerechtfertigt war. Ich konnte es nicht erwarten, endlich achtzehn zu werden und tun zu können, was auch immer mir in den Kram passte!
Ich hätte Dad gerne gefragt, warum er damals nicht von dem Plateau gefahren war. Warum er mich wieder in den Sitz verfrachtet hatte, eingestiegen war und den Wagen zurück auf die Straße gelenkt hatte. Es gab unendlich viele Dinge, die ich ihn gerne gefragt hätte, so viele Erinnerungen, die ich nicht einordnen konnte, aber erstens glaubte ich nicht, dass er mir ehrlich antworten würde und zweitens wollte ich ihm nicht sagen, dass ich mich an alles erinnern konnte, das je in meinem Leben geschehen war.
Angestrengt setzte ich mich auf, schob meine Beine über die Bettkante und schlich aus meinem Zimmer, die Treppen hinunter. Es war nach Mitternacht, Trish und Dad hatten sich schon vor zwei Stunden schlafen gelegt, Dee ging immer früh ins Bett und mein Bruder hatte vor einer halben Stunde aufgehört, mir zu antworten.
Ich ging in die Küche und holte mir ein Glas Wasser. Im Kühlschrank fand ich noch eine Schüssel von dem vegetarischen Chili, das Dad gekocht hatte. Mein Magen knurrte und ich nahm die Schüssel heraus und setzte mich mit einem Löffel an den Tisch. Ich verschlang das kalte Chili und stellte das Geschirr in die Spüle.
Gerade, als ich die Fenster neben der Türe passierte, um wieder nach oben auf mein Zimmer zu gehen, nahm ich draußen im Garten eine Bewegung wahr und blieb stehen. Mit einer bösen Vorahnung setzte ich einen Fuß vor den anderen und trat ans Fenster heran.
Als ich sah, was da vor dem Haus in meinem Garten stand, musste ich kräftig schlucken.
Verdammt nochmal!
Im Garten vor dem Zaun stand Allys Monster. Und es wusste, dass ich es bemerkt hatte, denn es starrte mich mit seinen glühenden Augen direkt an. Ich biss die Zähne zusammen und versuchte das Zittern meiner Hände zu unterdrücken. Diesmal war keine Ally in der Nähe, die dieses Ding hätte zurückpfeifen können, aber was wollte es dann hier?
Ich wog mehrere Optionen ab. Ich hätte schreien und das ganze Haus aufwecken können, in der Hoffnung, dass es dann verschwinden würde, so, wie es das bei Ally getan hatte, wenn sie nach ihren Eltern gerufen hatte. Aber sollte es nicht verschwinden, hatte ich mein Versprechen Ally gegenüber gebrochen. Ich hätte auch Ally anrufen, hoffen können, dass sie ranging und ihr sagen, dass sie ihr dämliches Monster unter Kontrolle bringen sollte.
Das Monster machte einen langsamen Schritt auf mein Haus zu und ich stieß nervös den Atem aus.
Nein, ich musste jetzt handeln und es so schnell wie möglich weglocken! Es war bestimmt nicht hier, um nach Kaffee und Kuchen zu fragen und wer wusste schon, was dieses Monster mit meiner Familie angestellt hätte? Schnell griff ich nach meinen Schuhen, schlüpfte hinein und band die Schnürsenkel fest. Ich warf noch einen kurzen Blick aus dem Fenster und vergewisserte mich, dass es noch immer da war. Dann drehte ich den Schlüssel vorsichtig im Schloss, öffnete die Türe und schlüpfte auf die Terrasse. Es war eine milde Nacht, aber mich durchfuhr trotzdem sofort ein Schauer.
Es bewegte sich nicht von der Stelle, aber dass es mich im Visier hatte, erkannte ich deutlich.
Okay, Freya, ich hoffe, du kannst nicht nur gut kämpfen, sondern auch verdammt schnell rennen...
„Hey!", flüsterte ich laut. „Du hässliches, verbranntes Ding. Lust auf einen Mitternachtssnack?"
Es knurrte mich an, stieß einen zischenden Laut aus und sprang auf mich zu, aber da war ich schon längst losgerannt und hatte mich in einer fließenden Bewegung über den Zaun geschwungen. Mit einem kurzen Blick über meine Schulter ging ich sicher, dass mir das Ding folgte und merkte, dass ich einen Zahn zulegen musste, wenn ich nicht wollte, dass es mich erwischte. Seine schweren Schritte waren wie Bomben in meinen Ohren und mein gehetzter Atem brannte wie Feuer in meinen Lungen. Geschickt wählte ich eine Seitenstraße, in der uns niemand, der durch Zufall um diese unchristliche Zeit noch wach war, entdecken würde und versuchte noch schneller zu rennen. Mein Shirt rutschte mir von der Schulter und meine Jogginghose schleifte bei jedem Schritt auf dem Boden.
Ace!, brüllte ich in Gedanken, aber er schlief vermutlich, wie der Rest der Bevölkerung in San José. Und wenn er schlief, konnte ich ihn nicht erreichen.
Irgendwo weit hinten in meinem Kopf fragte ich mich, wohin ich eigentlich laufen wollte und wie lange ich rennen konnte, bis mich dieses Ding erwischte und mich zerfetzte, und dass es eine furchtbar dumme Idee gewesen war wegzulaufen, aber daran konnte ich jetzt nichts ändern. Ich musste mir schnell etwas einfallen lassen.
Erneut hievte ich mich über einen Zaun, ohne mein Tempo zu drosseln und bog dann nach links ab. Wenn ich es schaffte, das Ding bis in den großen Park zu locken, der um diese Zeit sicher ausgestorben war, konnte ich vielleicht versuchen, es mit meinen dämonischen Fähigkeiten zu stoppen. Ich hatte zwar keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte, weil sich meine Fähigkeiten auf die absoluten Grundlagen beschränkten, aber Onkel Aidan hatte einmal gesagt, dass seine Dämonenmagie genau dann zum Vorschein gekommen war, als er sie am meisten gebraucht hatte und was zur Hölle war denn schlimmer als von einem glühenden Monster mit scharfen Klauen und spitzen Zähnen gejagt zu werden?! Meine Fähigkeiten durften sich ruhig bemerkbar machen und einen anderen Plan hatte ich nicht.
Ich passierte noch ein paar Häuser und versuchte das furchteinflößende Zischen und Rasseln und Knurren hinter mir zu ignorieren. Während ich an ein paar Gebüschen vorbeilief, griff ich blitzschnell nach einem riesigen Ast, spannte ihn und ließ ihn kräftig nach hinten schnalzen, drehte mich aber nicht um, um zu sehen, ob meine kleine Abwehrstrategie Früchte getragen hatte. Ich hörte nur das Rascheln der Blätter und dass das Ding fauchte, aber die Hitze, die von ihm ausging, drohte mich immer noch einzuholen.
Ich merkte, wie mir der Atem ausging und genau in dem Augenblick, in dem ich mich fragte, ob ich in diesem dunklen Park sterben würde, spürte ich die Krallen von dem Ding an meiner Schulter, bekam Panik, fuhr herum, strauchelte und stürzte auf den Boden. Dabei überschlug ich mich und kratzte mir die Wange auf. Meine Finger bohrten sich in die dünnen, morschen Äste und Blätter auf dem Boden. Ich schnappte nach Atem und riss den Kopf in die Höhe. Mir war schwindelig. In der Dunkelheit fiel es mir schwer, mich zu orientieren.
Das Monster reckte sich abermals nach mir und schaffte es, seine Klauen seitlich in meinen Hals zu bohren. Es fühlte sich an, als hätte es mir glühende Eisenstäbe gegen die Haut gepresst und ich spürte seine Finger, die sich in mein Fleisch gruben. Ich wusste nicht, ob ich aufschrie, aber ich merkte, wie mir warmes Blut über den Hals lief und mein Blick traf den des Monsters, so wie in der Oper. Das war fast angsteinflößender als seine Krallen in meinem Körper.
In einem letzten Versuch, halbwegs heldenhaft zu sterben, tastete ich am Boden nach etwas, mit dem ich mich verteidigen konnte, aber da war nichts. Nur vertrocknetes Geäst, Erde und Steine, die man höchstens hätte übers Wasser springen lassen können.
Der verbrannte Geruch tat mir in der Nase weh und sein Blick gab mir zu verstehen, dass sein Gesicht das letzte war, dass ich in meinem Leben jemals sehen würde und wenn ich mehr Zeit gehabt hätte, darüber nachzudenken, wäre ich bestimmt in Tränen ausgebrochen, weil ich meinen Bruder in dieser Welt zurücklassen musste.
Doch plötzlich stieß das Monster einen Spitzenschrei aus, riss seine Krallen aus meinem Hals und ich robbte auf dem Boden zurück, während ich auf die Beine zu kommen versuchte, aber ich fiel sofort wieder auf den Hintern. Das Monster bäumte sich auf, taumelte zurück, gab schmerzvolle, zornige Laute von sich und ruderte mit den Armen. Bevor ich begriff, was passiert war, packte mich eine Hand am Arm, riss mich hoch und zerrte mich mit sich.
Ich stellte keine Fragen, sondern ließ mich mitziehen, meine Beine gaben ein letztes Mal ihr Bestes, während ich zu begreifen versuchte, dass ich eben knapp dem Tod entronnen war, und als wir zwischen ein paar Bäumen und einer großen Wiese ankamen, hielten wir an, die Person schob mich in einer hastigen Bewegung schützend hinter sich und drehte sich suchend um.
Ich konnte nur unseren schweren Atem hören, während mein Blick ebenfalls panisch nach dem Ungeheuer suchte, es aber nicht zu fassen bekam. Kurz schloss ich die Augen und versuchte mich darauf zu konzentrieren, ob ich es hören konnte, aber ich war viel zu aufgekratzt, als dass ich meine Fähigkeiten hätte einsetzen können. Doch in unserer näheren Umgebung war es still. Kein Krächzen, kein Schreien. Kein glühendes Wesen in der Dunkelheit. Nur der Nachthimmel über uns, der Halbmond, der auf das Gras fiel und der Wind, der sanft in den Ästen und Blättern der Bäume raschelte.
„Wo ist es hin?", stieß ich schließlich aus und mein Lebensretter drehte sich abrupt um und rückte einen Schritt von mir ab. Mir wären fast die Augen aus dem Kopf gefallen, jetzt, da ich erkannte, wer mir den Arsch gerettet hatte. Ihm schien es ähnlich zu gehen.
„Was zur Hölle machst du hier?", fragte ich fassungslos, als ich in der Dunkelheit die Gesichtszüge des Jägers ausmachen konnte.
„Dasselbe könnte ich dich fragen", entgegnete er fassungslos.
Wäre ich nicht so sehr auf mein Überleben konzentriert gewesen, hätte ich ihn vielleicht bemerkt, hätte ihn gespürt, aber die unverkennbare Präsenz, die von ihm ausging, bemerkte ich erst jetzt. Als ich mich von dem ersten Schock erholt hatte, fiel mein Blick auf das Messer, das er in der Hand hielt, blau schimmernd, etwas Schwarzes tropfte von seiner Klinge und mir wurde bewusst, dass er dem Monster Dämonenglas in den Rücken gestoßen hatte. Und wenn ich nicht sofort eine oscarreife Performance hinlegte, würde mir vielleicht das gleiche Schicksal drohen.
„Du Idiot! Ich hätte das Ding fast gehabt!", fluchte ich, während mir das Herz immer noch bis zum Hals pochte und ich betete, dass er mir meine dreiste Lüge nicht an der Nasenspitze ansehen konnte. Ich versicherte mir, dass ich eine astreine Lügnerin war und machte weiter. Je überspitzter, desto besser. „Ich verfolge es schon seit Wochen, jetzt habe ich es beinahe und du platzt dazwischen!"
Er schien noch verwirrter als vorhin. Das konnte ich dem armen Kerl nicht verübeln. „Wie bitte? Ich hab dir gerade das Leben gerettet!"
„Und jetzt ist das Ding weg!", schimpfte ich. „Wer weiß, wann ich es das nächste Mal zu Gesicht bekomme!"
„Du wärst fast ein Monsterhappen geworden."
„Mir wäre schon was eingefallen!", protestierte ich. „Das ist nicht das erste übernatürliche Wesen, mit dem ich es zu tun habe."
Einen Augenblick lang starrten wir uns gegenseitig an, während er wohl überlegte, ob er mir abkaufen sollte, was ich von mir gab. „Du bist eine Jägerin?" Ich erkannte das Misstrauen in seinen Augen und log schamlos weiter.
„Was denn, dachtest du, dass ich zum Spaß kämpfe?"
Er hob eine Augenbraue. „Naja, für eine Jägerin kämpfst du jedenfalls wie ein-"
Ich hob mahnend den Finger, bevor er es aussprechen konnte. „Jetzt ist echt kein guter Zeitpunkt für Sexismus. Im Übrigen wusste ich von Anfang an, dass du ein Jäger bist. Dein lächerlicher Anhänger hat es ziemlich offensichtlich gemacht. Kannst du dasselbe von mir behaupten?" In einer schnellen Bewegung ließ er den Anhänger, den er um den Hals trug, unter sein T-Shirt gleiten.
„Warum hast du nichts gesagt?"
Ich zuckte lässig mit den Schultern. „Unser Job ist ein einziges Berufsgeheimnis, findest du nicht?" Aber jetzt machte es natürlich Sinn, warum er hier war. Vielleicht war die ganze Sache mit der Suche nach seiner Familie erstunken und erlogen. Vielleicht war er nur hier, um dieses Ding zu erlegen.
Wieder scannte ich den Wald nach dem Monster ab, aber scheinbar hatte er es wirklich verletzt. Es war wirklich verschwunden.
„Ich hab noch nie eine Jägerin vor einem Monster im Pyjama davon laufen sehen", bemerkte er spitz und ich fuhr zu ihm herum.
„Glaub mir, wenn ich gewusst hätte, dass ich dir über den Weg laufe, hätte ich den Pyjama mit den Enten drauf angezogen", erwiderte ich, während ich mein T-Shirt zurechtzupfte und die Arme vor der Brust verschränkte. Ich trug keinen BH. „Dieses Wesen stand in meinem Garten. Ich wollte es von meinem Haus weghaben, bevor es meine Familie in Gefahr bringt!"
„Ich weiß." Er nickte. „Ich hab es schon länger beobachtet. Es stand eine ganze Weile vor dem Haus. Ich hab gesehen, wie jemand heraus gekommen ist, ich wusste nur nicht, dass du es bist."
„Okay, warte, stopp!" Empört stemmte ich die Fäuste in die Hüften. „Du siehst so ein Ding stundenlang vor meinem Haus und kommst nicht auf die Idee, es da wegzulocken?"
Er grinste mich an. „Nein, die Ehre, den Köder zu spielen, habe ich gerne dir überlassen."
Ich sparte mir jegliche Antwort darauf. Meine Beine fühlten sich von dem Sprint und dem Adrenalin an wie Wackelpudding.
„Tut es weh?", fragte er plötzlich ernst und ich hob genervt den Blick.
„Was denn?"
„Es hat dich erwischt." Er streckte die Hand nach meinem Hals aus und ich wich zurück, während ich den Rest meiner Locken über meine Schulter fallen ließ, um die Wunde zu verdecken.
„Hat es nicht."
„Ich hab es doch mitbekommen. Hat ziemlich übel ausgesehen."
Der Heilungsprozess war bestimmt schon im Gange und wenn er sich die Wunde ansah, würde er sich vermutlich fragen, warum sie in schätzungsweise vierzig bis siebzig Minuten komplett verheilt sein würde.
Warum sollte er so lange noch mit dir hier stehen, Freya? Mach, dass du nach Hause kommst!
„Es ist nichts", lächelte ich gezwungen. „Ich bin dem Monster ausgewichen."
Er glaubte mir nicht, das sah ich ihm an. „Ich werde nicht aufhören, dich als Mädchen zu bezeichnen, nur weil du vorgibst taff zu sein."
Ich stieß einen verachtenden Laut aus. „Von mir aus, ich brauch deine Fürsorge trotzdem nicht. Meinem Hals geht es prächtig. Wenn er sprechen könnte, würde er dir das bestätigen." Er betrachtete mich skeptisch, aber bevor er etwas sagen konnte, fragte ich: „Wie sehr hast du es verwundet? Genug, dass ich keine Angst haben muss, dass es heute Nacht wiederkommt?"
Er nickte zögerlich. „Das hoffe ich. Aber ich hab so ein Ding noch nie vorher gesehen. Ich weiß nicht, was es verletzen kann. Ist dir kalt?"
„Was?" Bevor ich reagieren konnte, hatte er seine Jacke ausgezogen und sie mir um die Schultern gelegt. Ich zuckte zusammen. Es war schon ein paar Mal passiert, dass er mich mit seiner plötzlichen, ehrlichen Fürsorge sprachlos machte. Als er sich nach unserem ersten Kampf erkundigt hatte, ob er mich verletzt hatte; als er sich Sorgen um meine Knöchel gemacht hatte, als ich beim Boxen keine Handschuhe verwendet hatte; als er gefragt hatte, ob ich in ein anderes Restaurant gehen wollte, weil ich kein Fleisch aß; und als er angeboten hatte, mich nach unserem Treffen nach Hause zu begleiten.
Aber diesmal war es etwas anderes. Diesmal war es körperlicher. Ich spürte den Stoff seiner Jacke, der noch warm war und nach ihm und irgendeinem Männerparfum roch, deutlich auf meinen nackten Armen. Er stand dicht vor mir und hatte die Hände immer noch an seiner Jacke, damit sie mir nicht von den Schultern rutschte. Ich musste den Kopf ein wenig heben, um in ansehen zu können, wagte aber sonst keine andere Bewegung. Plötzlich spürte ich nicht die Hitze des Monsters, das mich jagte, sondern die Wärme des Jägers, seinen Blick auf meinem Gesicht und seinen ruhigen Atem auf meiner Wange. Ich glaubte sogar, dass ich für einen kurzen Augenblick die Luft anhielt.
„Danke", würgte ich überrumpelt hervor. Plötzlich hob er seine Hand an mein Gesicht, schob meine Haare beiseite und legte die Wunde an meinem Hals frei. Ich schlug seine Finger sofort weg und brachte Abstand zwischen uns, aber er hatte das Blut trotzdem gesehen. In seinem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Triumph und Sorge.
„Ja, es geht deinem Hals prächtig", sagte er betont ironisch.
„Ich werde schon nicht dran sterben." Schnell überdeckte ich die Stelle wieder.
Einen unangenehmen Augenblick sagte keiner von uns etwas.
Schließlich seufzte er. „Und was machen wir jetzt?"
„Was meinst du?"
Er ging in die Hocke und wischte das Blut auf dem Messer im Gras ab. „Wir könnten es zusammen verfolgen. Wenn wir die Informationen, die du hast, mit denen, die ich habe, zusammenlegen, dann ergibt sich vielleicht ein vollständigeres Bild."
Zum zweiten Mal innerhalb weniger Stunden war ich gänzlich sprachlos. Wirklich. Meine Zunge fühlte sich taub an und mein Kopf wie leergefegt.
Er sah hoch zu mir und wartete auf eine Antwort.
„Ich jage nur allein", sagte ich trocken und zog mir seine Jacke enger um die Schultern. Die Stelle, an der das Monster mich erwischt hatte, pochte und brannte jetzt unangenehm. „Ich brauche keinen Partner."
Er richtete sich wieder auf. „Tja, das Problem ist nur, dass ich dieses Ding nicht laufen lassen werde."
„Keiner redet hier von laufen lassen. Es ist mein Job und den werde ich erledigen."
„Woher soll ich das mit Sicherheit wissen?"
„Du traust mir das nicht zu? Warum? Weil ich ein Mädchen bin?"
„Ich sage nur, dass ich diesen Fall nicht aufgeben werde. Ich werde ihn dir nicht einfach überlassen, ich würde ihn niemandem überlassen. So ein Ding habe ich noch nie gesehen und ich will sichergehen, dass es erledigt ist. Also entweder jagen wir es gemeinsam, oder wir werden uns wieder in die Quere kommen."
Warum legte ich meinen Kopf nicht gleich in die Schlinge?
Mir fielen einige Kraftausdrücke ein, die ich gerne verwendet hätte, aber stattdessen fixierte ich den Jäger und dachte krampfhaft darüber nach, wie ich aus der Nummer wieder rauskommen sollte. Besonders, da es hierbei nicht nur um mich, sondern meine Familie und ganz besonders Ally ging!
Wenn der Jäger dieses Ding weiter verfolgte, würde es nicht lange dauern, bis er vor Allys Tür auftauchen würde. Dann war es nur eine Frage der Zeit, bis er herausfinden würde, was sie war, was Finn war, was Tante Beverly und Onkel Aidan waren. Und wenn es ganz dumm lief, zog er die Verbindung zu meiner Mom und dann automatisch zu mir und meiner Familie.
Verdammte Scheiße, ich hatte keine Wahl. Wenn ich die Menschen, die mir wichtig waren, schützen wollte, dann ging das nur, wenn ich vorgab, mit ihm zu jagen, denn dann würde ich seine nächsten Schritte kennen und sie zu verhindern wissen. Vielleich konnte ich ihn auch auf eine falsche Fährte locken und...
Oder du bringst ihn jetzt um, schoss eine böse Stimme durch meinen Kopf und raubte mir die Luft zum Atmen. Die Stimme gehörte nicht mir, sie gehörte einem dunklen Teil von mir, der sich geschworen hatte zu tun, was auch immer nötig war, um meine Familie zu beschützen. Um nie wieder jemanden verlieren zu müssen, der mir wichtig war. Und der Jäger war mir zwar in vielen Bereichen überlegen, aber einen so plötzlichen Überraschungsangriff hätte er niemals kommen sehen.
Doch ich bewegte mich nicht. Ich dürstete nicht nach Blut. Der einzige Mensch, den ich wirklich töten wollte, seit ich denken konnte, war der Mörder meiner Mom. Ihn würde ich eines Tages umbringen, aber sicher keinen Jäger, der mir gerade das Leben gerettet hatte. Ich würde einen anderen Weg finden, die Sache zu regeln.
Resigniert seufzte ich und sah in sein von Schatten übersätes Gesicht. „Schön. Meinetwegen." Wo bin ich da nur wieder hineingeraten? Und wie zur Hölle soll ich da je wieder rauskommen? Ich streckte widerwillig die Hand aus. „Wir haben einander nie vorgestellt. Ich bin Freya. Freya Catrell."
Unsicher fiel sein Blick auf meine Finger, dann glitt er zurück zu meinem Gesicht. Er traute mir nicht so recht -zumindest das beruhte auf Gegenseitigkeit.
Nach kurzem Zögern ergriff er meine Hand. „Nicholas Reed."
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