11

Freya

Ich hatte mit Ally schon einige fragwürdige Dinge erlebt. Meine Cousine war die Art von Person, die nicht nachdachte, bevor sie etwas tat. Sie rechnete die Gleichung nicht durch, um sich das Ergebnis anzusehen, nein, sie rannte stur drauf los und wenn das Ergebnis scheiße war, dann war es eben so.

Noch immer dachte ich regelmäßig an die Nacht, in der sie Tante Beverlys Hexenbuch geklaut hatte. Es war spät gewesen, nach Mitternacht, Onkel Aidan hatte gearbeitet und weil Dad für eine Woche verreist war und Trish ein Konzert gehabt hatte, hatten Ace, Dee und ich bei Tante Beverly übernachtet.

Ich hatte bei Ally im Zimmer geschlafen und wir hatten die ganze Nacht geflüstert und Blödsinn gemacht. Bis sie mir erzählt hatte, dass sie das Buch ihrer Mutter im Schrank versteckt hatte und ob ich es sehen wollte. So entspannt Tante Beverly meist war, damals hatte es in ihrem Haus zumindest eine Regel gegeben: Ihre Hexenbücher durften niemals von uns angerührt werden, besonders nicht von Ally und Finn, weil die beiden damit tatsächlich etwas hätten anfangen können. Es schockierte mich bis heute, dass ihr nicht klar gewesen war, dass dieses Verbot bei Kindern erst recht die Neugierde schüren würde.

„Hier", hatte sie geflüstert und mir das Buch stolz präsentiert. Es war dick in Leder eingebunden, so groß wie ein Bildband und unheimlich schwer gewesen. Ally und ich hatten eine Zeit lang ehrfürchtig durch die rauen Seiten mit ihren handgeschriebenen Zaubern geblättert.

„Was, wenn uns deine Mom erwischt?", hatte ich gefragt, aber Ally hatte abgewinkt.

„Wir lesen ja nur darin. Außerdem bin ich eine Hexe! Wie soll ich sonst lernen? Sie bringt mir ja nichts bei." Ich hatte den anklagenden Tonfall in ihrer Stimme gehört. Ally hatte es immer schon toll gefunden, Hexe und Prinzessin zu sein. Aber Tante Bev hatte versucht, sie von der Hexenwelt fernzuhalten. Das versuchte sie immer noch. So, jedenfalls, empfand Ally das. In Wahrheit wollte Tante Bev Ally vermutlich nur beschützen. Und wenn meine Cousine das erkannt hätte, hätte diese Nacht ganz anders geendet.

Wir waren beide an einer Seite hängen geblieben, die fast am Ende des Buches war. Die Zeichnungen waren düster und nicht eindeutig gewesen. Bis heute kann ich nicht beschreiben, was ich da gesehen hatte.

Der Spruch war in einer Sprache geschrieben, die ich nicht kannte und auch Ally hatte nur einzelne Worte verstanden. Ihr Blick hatte sich verändert, war entschlossen geworden. „Das will ich probieren", hatte sie gehaucht.

„Bist du wahnsinnig?!" Ich hatte sie alarmiert am Arm gepackt. „Wir wissen nicht einmal, was das für ein Zauber ist. Das könnte sonst was sein! Es könnte was schief gehen!"

„Es ist nur irgendein Portalzauber. Hast du Angst?", hatte Ally mich geneckt.

„Das ist ein Buch für ausgebildete Hexen und Zauberer. Du kannst noch nicht mal ein Portal schaffen."

„Falsch!" Ally hatte das Buch zugeklappt. „Ich kann sehr wohl ein Portal erschaffen. Meine Mom lässt mich nur nicht. Sie sagt, es hinterlässt eine zu starke Magiespur auf mir."

„Dann sollten wir das hier erst recht nicht machen, Ally."

Sie hatte die Augen verdreht. „Dann mach ich es allein."

Entschlossen hatte sie sich aus ihrem Zimmer geschlichen. Sie hatte genau gewusst, dass ich ihr folgen würde. Wir hatten uns nach unten in den Garten geschlichen. Sie hatte den Zauber nicht in ihrem Zimmer sprechen wollen, für den Fall, dass ihre Mom aufwachte. Es war stockdunkel gewesen, in keinem der umliegenden Häuser hatte Licht gebrannt.

„Und was für eine Ausrede willst du ihr auftischen, wenn sie uns im Garten findet?", hatte ich flüsternd nachgehakt, weil ich Allys Logik nicht ganz durchschaut hatte. Sie hatte mit den Schultern gezuckt.

„Wir sagen ihr, dass ich schlafwandle und du mich wieder reinholen wolltest."

„Das wird sie uns nie abkaufen."

„Sie wird uns ja auch nicht erwischen, also Ruhe jetzt!", hatte sie gezischt. „Halt mir die Seite auf."

Mit offenem Mund hatte ich die Seite angestarrt. Obwohl es stockdunkel war, hatte ich sie gut erkennen können. Die Buchstaben hatten nicht geleuchtet, das Buch hatte kein Licht ausgestrahlt oder dergleichen, aber irgendwie hatte ich es trotzdem problemlos erkennen können. Für einen kurzen Augenblick hatte ich mich daran erinnern dürfen, dass Magie ziemlich abgefahren war, bevor ich Ally das Buch hingehalten und meine Unruhe mich wieder eingeholt hatte.

Ally hatte tief Atem geholt und begonnen. Das erste Mal war sie schon bei der zweiten Zeile über eines der Wörter gestolpert und hatte von vorne angefangen. Dann war sie bei einem Wort in der dritten Zeile ins Stottern geraten. Das war ein paar Mal passiert, bis ich gehofft hatte, dass sie einfach aufgeben würde. Dass wir uns in ihr Bett kuscheln und schlafen würden und morgen von dem Geruch von heißer Schokolade mit Vanillearoma, (wie meine Tante es immer für Ally und Finn und uns natürlich auch, wenn wir zu Besuch waren, zum Frühstück machte) geweckt werden würden. Diese ganze Sache war mir nicht geheuer gewesen, aber gerade als ich das Buch hatte zuklappen wollen, hatte Ally ihre Stimme gefunden. Die Art von Stimme, die Hexen beim Zaubern hatten, so wie Sänger beim Singen, zumindest fand ich, dass es so war. Es hatte eine eigene Melodie, einen eigenen Rhythmus. Ich hätte das nicht gekonnt, ich konnte kaum Gedichte vortragen. Ich hatte es so faszinierend gefunden, dass ich sie nur hatte anstarren können.

Nichts war passiert und Ally hatte sich erwartungsvoll umgesehen.

„Ich dachte es öffnet sich ein Portal", hatte Ally enttäuscht gesagt. Sie hatte sich in dem Moment bestimmt wie eine miserable Hexe gefühlt, aber ich war heilfroh gewesen, dass nichts geschehen war. Wer wusste schon, wohin dieses Portal uns gebracht hätte.

Ally hatte sich noch einmal zu dem Buch gebeugt und versucht, ihren Fehler zu finden.

„Ally!", hatte ich erschrocken ausgerufen, als ich das Glühen in ihren Fingerspitzen bemerkt hatte. Sie hatte ihre Hände gehoben.

„Was ist das?", hatte sie gefragt, aber noch nicht sonderlich beängstigt geklungen. Das Glühen war zu kleinen Flammen auf ihren Fingerkuppen herangewachsen.

„Ally... Soll das passieren?" Meine Stimme hatte gezittert.

„Ich weiß nicht..." Langsam war das Unbehagen auch in ihre Worte gekrochen. Sie hatte scharf eingeatmet und hatte versucht, das Feuer von ihren Händen zu schütteln. „Das tut langsam weh. Au!"

Immer panischer hatte sie versucht das Feuer von ihrem Körper zu schütteln, aber es war über ihre Handflächen auf ihre Unterarme gewandert. „Freya!", hatte sie geweint und ich hatte mich nach irgendetwas umgesehen, mit dem ich das Feuer hätte löschen können, aber der Pool war auf der anderen Seite des Hauses und der Gartenschlauch im Schuppen und da hatte das Feuer schon bis zu Allys Ellenbogen gereicht und ich hatte ihr verbranntes Fleisch riechen können und sie hatte nach ihrer Mom gebrüllt, so laut und so verzweifelt, dass ich es noch Minuten später in meinen Ohren hören konnte. Bis heute war ich schockiert darüber, dass kein Nachbar auch nur das Licht in den Schlafzimmern eingeschaltet, geschweige denn die Polizei gerufen hatte.

Es hatte sich wie Stunden angefühlt, obwohl es vermutlich nur wenige Sekunden gewesen waren, bis Tante Bev an mir vorbeigerauscht war, irgendeinen Zauber gerufen und Ally in dem Augenblick aufgefangen hatte, als das Feuer erloschen war. Es war nichts mehr von den Flammen übrig gewesen und wenn ich es nicht eben selbst gesehen hätte, hätte ich geglaubt, mir das alles nur eingebildet zu haben.

Ally hatte immer noch gebrüllt. Das hätte ich vielleicht auch, wenn meine Hände und Arme bis zu den Ellenbogen hinauf verkohlt gewesen wären und ich eben beinahe bei lebendigem Leib verbrannt wäre.

Tante Bev hatte sie hochgehoben und sofort ins Haus getragen. Finn war aufgewacht und ins Wohnzimmer gekommen, dicht gefolgt von Ace und Dee. Mein Cousin hatte zu weinen begonnen und Tante Bev hatte Ace barsch angewiesen, ihn und Dee wieder nach oben zu bringen. Ich hätte mich am liebsten auch verdrückt, aber ich war wie versteinert gewesen.

„Wie konntest du sie das nur tun lassen?", hatte sie mich angefaucht. Sie hatte Ally nicht auf die Couch gelegt, sondern auf die Platte der Kücheninsel, um sich dort um ihre Arme zu kümmern. Ich hatte unter Schock gestanden, sonst wäre ich vielleicht in der Lage gewesen, etwas zu sagen.

Tante Bev hatte versucht, die verbrannte Kleidung von Allys Armen zu entfernen, aber Ally hatte sofort wieder zu brüllen begonnen, sich gewunden und geschrien: „Nein, nein, nein, hör auf! Hör auf, das tut weh!"

Meine Tante hatte von ihrem Vorhaben abgelassen, stattdessen einen Verband herausgeholt und ihn locker um die verbrannten, blutenden und schwarzen Stellen gewickelt.

„Zeig mir, welchen Zauber sie ausprobieren wollte!"

Erst da war mir aufgefallen, dass ich das Buch noch immer in der Hand gehalten hatte. Ich hätte schwören können, es fallen gelassen zu haben. Mit zitternden Fingern hatte ich nach dem Zauber gesucht und als ich die Seite wieder entdeckt hatte, hatte ich ihr das Buch hingehalten.

Etwas an ihrer Miene, als sie die Seite überflogen hatte, war stahlhart geworden und als ihr Blick meinen getroffen hatte, war mir der Atem weggeblieben. Ich hatte begriffen, dass Ally und ich riesengroßen Mist gebaut haben mussten. Das war mir natürlich vorher schon klar gewesen, aber zwischen großem Mist und riesengroßem Mist lagen ein paar Stufen.

„Ruf Aidan an! Er soll herkommen, und auf euch aufpassen, ich muss Ally so schnell wie möglich zu Arlen bringen."

Erst Wochen später hatte ich erfahren, dass Ally nicht irgendein Portal hatte erschaffen wollen. Mit diesem Spruch hatte sie für ein paar Sekunden das Tor zur Hölle geöffnet und dieser Gedanke ließ mich manchmal nachts nicht schlafen.

Es war nie verheilt. Es hatte hässliche, tiefe Narben hinterlassen und Ally trug immer noch Seidenhandschuhe, Tag und Nacht. Wir redeten nicht oft darüber, aber es gab gute und schlechte Tage. An den guten Tagen vergas sie manchmal selbst, dass ihre Narben da waren. An den schlechten schmerzten ihre Arme so sehr, als stünden sie immer noch in Flammen. Direktes Sonnenlicht brannte und das Reiben von normaler Kleidung oder der Kontakt mit Wasser waren grausam für sie. Manchmal konnte sie ihre Hausaufgaben nicht beenden oder eine einfache Suppe essen, weil sie ihren Stift oder einen Löffel nicht halten konnte. Manchmal begannen ihre Narben zu bluten, einfach so, und dann weinte und schrie sie, und es war wie in der Nacht, in der das alles passiert war und Finn und Onkel Aidan und Tante Bev litten jedes einzelne Mal mit Ally.

Und sie hatte nie wieder gezaubert.

Auch wenn Corona Tante Bev gesagt hatte, dass das Ganze nur deshalb so ausgeartet war, weil Ally eben nicht nur eine Hexe war, sondern auch ein Hybrid, in dessen Adern Dämonenblut floss, hatte meine Cousine mit Magie nicht mehr viel zu tun haben wollen. Ihre Gene hätten sie fast umgebracht. Sie verabscheute den dämonischen Teil in sich. Einer gewöhnlichen Hexe wäre das nicht passiert und seither machte ihr ihre Magie Angst.

Ich hatte nicht verstanden, warum Höllenfeuer Ally hatte verletzen können, weil es doch viel logischer gewesen wäre, wenn ihr Höllenfeuer rein gar nichts hätte anhaben können. Bis Onkel Aidan mir erklärt hatte, dass Dämonen aus dem Höllenfeuer entstanden. Es waren Seelen, die so lange in der Unterwelt schmorten, bis sie zu Dämonen wurden. Höllenfeuer würde Dämonen immer verletzen können und deshalb hatte es auch Ally verletzen können. Ich, für meinen Teil, hatte in dieser Nacht einfach unverschämtes Glück gehabt, dass es mich nicht auch erwischt hatte, bevor Tante Bev die Flammen erstickt und das Portal sich wieder geschlossen hatte.

Tante Beverly liebte mich, das wusste ich, aber es hatte lange gedauert, bis sie mir wieder hatte in die Augen sehen können und dass ich Ally in dieser Nacht nicht aufgehalten hatte, würde sie mir niemals verzeihen. Genauso wenig, wie ich mir selbst vergeben würde, denn schon wieder hatte ich es nicht geschafft, jemanden zu beschützen, der mir wichtig war.

Schon wieder hatte ich versagt.

~~ ~~

Wir halten also fest, dass meine Cousine und ich schon einige schräge und grausame Sachen miteinander erlebt hatten. Ich hatte ja bisher gedacht, dass absolut nichts die Nacht würde übertrumpfen können, in der Ally Kontakt mit der Hölle gemacht hatte, aber dann war ich letzte Woche völlig unerwartet von einem Monster angegriffen worden, das Ally offensichtlich nicht zum ersten Mal gesehen hatte und das ich nun mit meinem Schweigen schützen sollte. Ich wäre ihretwegen beinahe verhaftet worden, Dad und Trish waren sauer auf mich, Dee redete nicht mehr mit mir und ich hatte Hausarrest. Alles wegen Ally.

Ich hatte sie seit dem Vorfall mehrmals angerufen, aber sie hatte mich konsequent ignoriert.

„Wenn du mir nicht bald erzählst, was zur Hölle das für ein Ding war und was du damit zu tun hast, dann erzähle ich es Dad und Trish und deinen Eltern obendrauf, darauf kannst du Gift nehmen!", hatte ich gestern Abend sauer auf ihre Mailbox gesprochen, die sie bestimmt nicht abhören würde.

Trish hatte versucht, sich mit mir auszusprechen. Sie hatte an meine Türe geklopft und gesagt, dass sie nicht glauben konnte, dass ich ihr den Abend absichtlich ruinieren wollte. Dass sie nur sauer gewesen war und es auch nicht stimmte, dass ich ihr seit Jahren das Leben schwer machte, obwohl es doch irgendwie stimmte. Vielleicht nicht auf die typische Teenager-lehnen sich-gegen-ihre-Eltern-auf Art, aber ich wusste, dass Trish wusste, dass ich ihr die Affäre mit meinem Dad so kurz nach Moms Tod niemals verzeihen würde.

Ich war kein Stück auf Trish eingegangen und irgendwann hatte sie es aufgegeben und mein Zimmer wieder verlassen. Ich redete mit niemandem, nicht einmal mit meinem Bruder, obwohl er es immer wieder versuchte.

Aber Finn hatte vor vier Tagen Geburtstag gehabt. Gestern hatte er mit seinen Freunden aus der Schule eine Poolparty feiern dürfen, heute war die Familie dran. Seit ich aufgewacht war, raste mein Herz vor Aufregung, weil ich Ally endlich konfrontieren konnte. Ich hatte zwar immer noch Hausarrest, aber Familiengeburtstage waren ausgenommen, außerdem hätte ich mich aus dem Haus geschlichen, wenn ich nicht mitgekommen wäre, das war Dad und Trish wohl klar gewesen.

In Bakersfield angekommen, bemerkte ich Grace' Wagen in der Einfahrt. Normalerweise hätte ich mich über ihre Anwesenheit gefreut, aber nicht an diesem Tag. Überall im Garten und im Haus schwebten noch bunte Luftballons an Silberschnüren vom Kindergeburtstag. Finn begrüßte uns so ausgelassen, wie ich ihn schon lange nicht mehr gesehen hatte und ich rang mir ein Lächeln ab, während ich ihm über die Haare fuhr und Trish ihm eine Tüte mit drei Geschenken überreichte.

Mein Blick glitt in jeden Winkel des Raumes, die meine Augen erfassen konnten, aber ich sah Ally nirgends. Wehe, sie wollte sich vor mir verstecken! Ich wollte sie schon suchen, als ich von Grace, dann Tante Bev und schließlich Onkel Aidan begrüßt und umarmt wurde.

„Wie lange ich dich nicht mehr gesehen habe!", strahlte Grace, während sie Ace und Dee beinahe komplett ignorierte. „Wie geht es dir?"

„Sie redet nicht mehr mit uns", ließ Dad sie wissen und schob sich vorbei ins Wohnzimmer.

„Wieso das denn?" Onkel Aidan sah mich forschend an, während Grace meinem Dad einen missbilligenden Blick zuwarf. Ich fand es großartig, dass sie immer auf meiner Seite war.

„Ist nicht erwünscht", erklärte ich lediglich. Es waren die ersten Worte, die meine Familie seit einer guten Woche von mir zu hören bekam. „Nein, warte, es ist erwünscht, aber nur, wenn Dad und Trish es erlauben. Ansonsten soll ich den Mund halten und in meinem Zimmer versauern." Ich war immer noch eingeschnappt, weil Trish mir nicht sofort hatte zuhören wollen und stattdessen dem Tod meiner Mom die Schuld für mein Verhalten gegeben hatte. Ich hätte zwar ohnehin lügen müssen, weil ich Ally schützen wollte, aber nicht einmal dazu hatte sie mir Gelegenheit gegeben.

Ich spürte, dass Dad die Augen verdrehte und Onkel Aidan sah mich halb amüsiert, halb besorgt an, während Grace Dad und Trish mit bösen Blicken traktierte.

„Torte?", schlug Tante Bev vor, bevor das unangenehme Schweigen länger andauern konnte. „Ich zumindest habe keine Lust auf das Beste bis zum Schluss zu warten."

Trish lachte und Finn jubelte begeistert. Alle bewegten sich an den gedeckten Tisch und bei dem Gedrängel von acht Leuten fiel es nicht auf, dass ich mich aus dem Wohnzimmer verdrückte (dabei konnte ich Grace zu Dad noch sagen hören: „Du kannst deine Tochter nicht ständig einsperren"), die Glastüre zum Garten hin aufschob und durchschlüpfte. Ich sah mich um, aber Ally war nicht zu sehen und so viele Möglichkeiten gab es nicht, sich hier zu verstecken. Es standen nur zwei Bäume im Garten hinter dem Pool, deren Stämme zu schmal waren, um Ally zu verstecken.

Ob sie überhaupt zu Hause war? Kurz schloss ich die Augen und konzentrierte mich. Doch, sie war hier, das spürte ich. Vermutlich auf ihrem Zimmer.

Als ich die Augen wieder öffnete, kam Onkel Aidan gerade in den Garten. Er schob die Türe hinter sich wieder zu und ich konnte meine Familie im Wohnzimmer ein Geburtstagslied für Finn singen hören, während Tante Bev die Schokoladentorte mit zehn brennenden Geburtstagskerzen an den Tisch trug.

„Es geht um das, was vor dem Konzert passiert ist, oder?", fragte er.

„Willst du nicht lieber für deinen Sohn Happy Birthday singen?", knurrte ich.

„Wir haben an seinem Geburtstag zu viert gefeiert. Ich hab schon gesungen", erwiderte er und machte einen Schritt auf mich zu. „Bev hat mir erzählt, was passiert ist."

Ich zog die Schultern hoch. „Sie weiß doch gar nicht, was passiert ist. Was wirklich passiert ist. Und es ist ja wohl auch nicht so, als würde es irgendjemanden interessieren."

„Das stimmt nicht, das weißt du. Aber wenn du es deinem Dad und Trish nicht sagen willst, dann erzähl mir, was passiert ist."

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn lange an. Vielleicht hätte ich es wirklich getan. Vielleicht hätte ich ihm erzählt, dass ich gegen ein Monster gekämpft hatte, das mich vielleicht umgebracht hätte und dass seine Tochter irgendetwas damit zu tun hatte. Doch plötzlich sah ich Ally hinter ihm, wie sie im Wohnzimmer stand, die Lippen zusammenpresste und mich finster anstarrte. Inmitten all der lachenden, singenden Leute schien sie völlig fehl am Platz.

Ich riss meinen Blick von ihr, bevor Onkel Aidan sich umdrehte, um zu sehen, wen ich da anstarrte, schüttelte den Kopf, kehrte ihm den Rücken zu und biss die Zähne zusammen.

„Freya. Du weißt, dass du mir alles sagen kannst." Das wusste ich, aber ich konnte Ally nicht hintergehen. Das durfte ich nicht, auch wenn ich nichts lieber getan hätte, als ihm zu sagen, dass ich nichts falsch gemacht hatte und meine Strafe dafür gar nicht verdient hatte.

„Ich kann nicht", würgte ich dann hervor. „Ich möchte ja, aber es geht nicht."

„Wieso nicht?"

Ich konnte ihm nicht einmal sagen, dass ich es versprochen hatte, denn er hätte nur eins und eins zusammenzählen müssen. Ace, Dee und Finn waren zu brav und zu ehrlich, als dass sie in Schwierigkeiten geraten wären. Ally war gleich nach mir das zweite schwarze Schaf der Familie und eine der Personen, die ich mit meinem Leben beschützt hätte. Ich mochte vieles sein, aber illoyal war ich ganz bestimmt nicht. Niemals würde ich Ally verpetzen, bevor ich nicht mit ihr geredet hatte.

Ich drehte mich wieder zu ihm. „Ich muss da... erst noch was klären."

Er sah mich unsicher an. „Du steckst doch nicht in Schwierigkeiten, oder?"

„Nicht mehr als sonst."

Zufrieden war er mit meiner Antwort nicht, aber er wusste, dass er keine andere bekommen würde, also legte er einen Arm um meine Schultern.

„Na, komm. Gehen wir rein. Sie sind fertig mit Singen, das heißt, jetzt gibt es Torte."

Ich gab mir größte Mühe, nicht allzu grimmig am Tisch zu sitzen. Für Finn. Es war sein Geburtstag und er zeigte uns allen begeistert seine Geschenke und all die Süßigkeiten, die er bekommen hatte. Ich merkte, dass Ally, die mir schräg gegenübersaß, mich unruhig anstarrte, aber ich versuchte, ihren Blick zu meiden. Sollte sie doch zappeln und eine Weile denken, ich hätte ihrem Dad davon erzählt. Das hatte sie verdient. Aber als alle hinaus in den Garten gingen, weil Finn eine ferngesteuerte Drohne geschenkt bekommen hatte, die er unbedingt mit Onkel Aidan und Ace steuern wollte, blieben Ally und ich im Wohnzimmer zurück.

Wir standen einander gegenüber wie Feinde.

„Du hast es meinem Dad gesagt?", flüsterte Ally sauer.

„Was denkst du von mir?", fauchte ich zurück. „Aber ich werde sofort da rausgehen und alles erzählen, wenn du mir nicht endlich sagst, was das für ein Ding war und was du damit zu tun hast."

Ally schien erleichtert, dass ich den Mund gehalten hatte, aber nicht minder angespannt. „Das kann ich dir nicht sagen."

Unfassbar. Ich wollte kurzen Prozess machen und nickte entschieden. „Okay, dann sag ich es jetzt deinen Eltern."

Doch als ich entschlossenen Schrittes an ihr vorbei in den Garten treten und meine Beichte ablegen wollte, klammerte sie sich an meinem Unterarm fest. „Ich kann es dir nicht sagen, weil ich es nicht weiß! Jetzt bleib hier, verdammt!"

Ich sah sie mit zusammengezogenen Augenbrauen an, aber Ally sah wirklich mitleiderregend aus. „Scheiße, jetzt red endlich!", forderte ich.

„Ich weiß nicht, was das war", wiederholte sie und schüttelte heftig den Kopf. „Ich weiß nicht, was es ist. Ich weiß nur, dass es eines Tages plötzlich da war. Erst war es nur im Garten. Es hat nachts da gestanden und in mein Zimmer hochgesehen. Ich hab meine Eltern gerufen, aber dann war es jedes Mal weg!"

„Hast du ihnen gesagt, was du da gesehen hast?"

Sie nickte. „Ja, natürlich, aber sie haben geglaubt, ich würde träumen. Ich wusste, dass ich das nicht geträumt habe, aber ich dachte, ich würde verrückt werden, weil so ein Ding nicht existiert. Und sie... ich wollte nicht, dass meine Eltern-" Sich Sorgen machten und noch mehr ihretwegen zerstritten. Das wollte Ally sagen. Sie schluckte, während Tränen in ihren Augen brannten, und ich atmete meinen Ärger auf sie weg. Ein bisschen verstand ich sie ja.

„Dieses Ding ist immer nähergekommen. Ich weiß auch nicht... manchmal war es da und im nächsten verschwunden. Als hätte es sich in Luft aufgelöst. Irgendwann war es im Haus. In meinem Zimmer. Aber immer nur, wenn ich allein war. Ich dachte wirklich, dass ich es mir einbilde, ich wusste doch nicht, dass so etwas passieren würde!", beteuerte sie.

„Okay, aber du bist nicht verrückt, ich hab das Ding auch gesehen und es hätte mich fast umgebracht, also können wir jetzt bitte nach draußen gehen und die Sache aufklären, damit ich nicht bis zu meinem achtzehnten Geburtstag auf meinem Zimmer hocken muss?"

Ally schüttelte sofort wieder heftig den Kopf und ich hätte sie dafür erwürgen können. „Wir können das keinem sagen!"

„Wieso nicht?"

„Es geht einfach nicht!" Die Panik in ihren Augen wuchs mit jeder Sekunde und ihre Atmung beschleunigte sich. „Bitte, Freya, behalte das für dich! Ich weiß, es ergibt keinen Sinn und es ist unfair, aber ich habe da so ein Gefühl. Ein Gefühl, dass wir es einfach für uns behalten müssen. Bitte, vertrau mir, bitte, bitte, sag es keinem!" Tränen strömten ihr über die Wangen, als würde ich sie an einen Holzmast binden und verbrennen wollen. Instinktiv zog ich sie in eine feste Umarmung.

„Okay", sagte ich überrumpelt. „Okay..." Ich wartete, bis sie sich beruhigt hatte und fragte dann: „Du hast eine... eine Bindung zu diesem Ding, oder?"

Sie nickte zögerlich und wischte sich vorsichtig mit dem Ärmel ihres Pullovers übers Gesicht. „Irgendwie schon, ja. Es... es kommuniziert manchmal mit mir. Ich kann es nicht beschreiben. Aber wenn ich jemandem davon verrate, dann... ich weiß auch nicht. Meine Mom würde es mir wegnehmen wollen. Sie würde Schutzzauber aufstellen und... das geht nicht."

Dass ich mir Sorgen um Ally machte, wäre eine Untertreibung gewesen. Sie sprach wie ein Besessener von diesem Monster, das mich bestimmt hätte töten können. „Wir müssen herausfinden, was das war."

„Ich versuche es", sagte sie eifrig, wahrscheinlich, weil sie immer noch Angst hatte, dass ich sie verraten könnte. „Ich durchforste schon seit Wochen alle Quellen, die ich habe. Ich bin mit meiner Mom bald wieder in Schottland. Da kann ich in der Bibliothek mal ein paar Bücher wälzen. Vielleicht finde ich was."

Ich nickte, immer noch wenig überzeugt, Allys Sündenbock zu spielen. „Kannst du das Ding nicht einfach fragen?"

Sie legte den Kopf schräg und sah mich ausdruckslos an. „Wow, toller Einfall, wäre ich da nur drauf gekommen." Sie war wieder ganz die Alte und ich verdrehte die Augen. „Ich muss dir übrigens noch was erzählen", sagte sie dann und ging in die Küche. Sie nahm sich einen frischen Teller und schnitt sich noch ein Stück der Torte herunter.

„Was denn?" Ich stützte mich ihr gegenüber an der Küchenplatte ab und beugte mich zu ihr, während sie mit einer Gabel in den Kuchen stach.

„Ich glaube, meine Mom trifft sich morgen mit Viggo."

„Was?"

„Ich hab sie mit Dad darüber reden hören. Viggo will sich mit ihr treffen, um über mich zu reden."

Ich legte die Stirn in Falten. „Das klingt suspekt." Ich wollte meine Bedenken, Corona könne sie verheiraten wollen, ihr gegenüber nicht äußern.

Ally nickte. „Ich will da unbedingt dabei sein. Mäuschen spielen. Die Gelegenheit passt, weil mein Dad arbeiten und nicht merken wird, wenn ich weg bin."

„Gut." Ich drehte mich um und sah in den Garten hinaus. Gerade war es Ace, der die Drohne steuerte und Finn hüpfte aufgeregt auf und ab. Ich drehte mich wieder zu Ally. „Nimm meinen Bruder mit."

Sie hustete, als hätte sie sich am Kuchen verschluckt und sah mich dann empört mit hochrotem Kopf an. „Warum um alles in der Welt sollte ich Ace mitnehmen?"

„Ich würde ja selbst mitkommen, aber Dad lässt mich nicht mehr aus den Augen, seit dein Monster mich angegriffen hat!"

„Dann geh ich eben allein, keine große Sache."

„Ist es doch. Wie willst du deiner Mom ohne Auto folgen?"

„Ich nehme ein Taxi."

„Weißt du denn, wo sie und Viggo sich treffen?"

„Nein."

„Und was sagst du dann dem Taxifahrer? Bitte fahren sie dem blauen Wagen nach, aber in angemessenem Abstand, sodass es nicht auffällt?" Ich sah Ally an, dass sie ihren Plan mal wieder nicht ganz durchdacht hatte und zu zögern begann. „Und davon mal abgesehen, kommst du niemals nahe genug an die beiden ran, um sie zu belauschen. Du willst deine dämonischen Fähigkeiten nicht zum Spionieren verwenden? Gut, von mir aus, musst du nicht! Aber Ace kann das." Einen Augenblick lang schien sie zu überlegen. Dann seufzte sie tief, schüttelte den Kopf und drehte sich von mir weg.

„Nein. Das will ich nicht."

Ich beschloss, sie ernst zu nehmen, anstatt sie aufzuziehen, nur dieses eine Mal. „Hör zu, ich weiß, dass es dir unheimlich schwerfällt, mit meinem Bruder allein zu sein, aber darüber musst du endlich hinwegkommen! Und wenn es nur für diese wenigen Stunden ist, bitte, Ally! Macht das gemeinsam."

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und zog die Schultern hoch. „Ich will doch gar nicht in ihn verliebt sein. Was glaubst du, wie schlimm das für mich ist?"

„Ich weiß. Es ist beschissen. Aber man kann es sich nicht aussuchen, sowas passiert. Es... soll nur manchmal einfach nicht sein."

Genauso, wie ich immer noch fand, dass dieses Date zwischen dem Jäger und mir eine dumme Idee gewesen war und es hasste, dass ich ab und zu an ihn dachte und daran, ob wir uns wieder über den Weg laufen würden. Aber diese Gedanken drückte ich mühsam weg, denn einen Jäger interessant zu finden, wäre pure Dummheit gewesen und tausend Mal schlimmer, als dass Ally in Ace verliebt war.

„Und wenn du dich damit besser fühlst: Ihr seid ja nicht wirklich verwandt. Das macht es ein bisschen weniger schlimm, denke ich." Eigentlich erinnerte ich mich nur ungerne daran, dass Onkel Aidan und meine Mom keine biologischen Geschwister gewesen waren, weil ich mich ihm und meiner Cousine so verbunden fühlte und nicht daran denken wollte, dass uns nicht dasselbe Blut verband. Ace war es völlig unwichtig, ob wir nun alle miteinander verwandt waren oder nicht, wir waren so oder so eine Familie. Aber hätte ich bis an mein Lebensende nicht erfahren, dass Onkel Aidan, Ally und Finn gar nicht mit mir verwandt waren, hätte mich das nicht gestört.

„Na gut", sagte Ally schließlich. „Aber fragen wir ihn jetzt, solange alle noch draußen sind."

„Und ich erzähle ihm heute noch davon, was wirklich in der Oper passiert ist", fügte ich hinzu, woraufhin Ally sofort wieder protestieren wollte, aber ich redete weiter. „Nein. Es ist Ace, okay? Ich hab keine Geheimnisse vor ihm." Von dem Jäger mal abgesehen. „Das kannst du vergessen. Ich sage es ihm, ob du willst oder nicht."

Widerstrebend nickte sie. Sie wusste, dass es nichts gab, das mich davon abbringen würde, Ace die Wahrheit zu sagen. Ich hatte eine Woche lang nicht mit ihm geredet, weil ich gewusst hatte, dass ich mich sofort verplappert hätte. Das musste aufhören, ich brauchte ihn.

Ich drehte das Gesicht zum Garten. Mein Bruder musste gespürt haben, dass gleich etwas passieren würde, denn er hob den Blick und sah durch die Scheibe unbehaglich zwischen mir und Ally hin und her. Mit ernster Miene fixierte ich ihn.

Wir müssen reden.

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