10
Ace
Ich hatte Trish noch nie so wütend erlebt. Dad schon. Tante Bev und Onkel Aidan hatte ich auch schon oft wütend erlebt. Meist waren sie wütend aufeinander und brüllten sich spät in der Nacht gegenseitig im Wohnzimmer an, bis Finn und Ally stumm zu weinen begannen und entweder ich oder Freya die Treppen nach unten liefen und unserer Tante und unserem Onkel sagten, dass sie gefälligst die Klappe halten oder wo anders streiten sollten, weil sie zwei Kinder weinend auf ihren Zimmern sitzen hatten, die jedes Mal glaubten, dass ihre Eltern ihretwegen stritten. Und so war es ja auch. Ich hatte Tante Bev und Onkel Aidan nie über etwas anderes als Ally und Finn streiten hören.
Aber Trish war normalerweise die Ruhe in Person und unfassbar diplomatisch. Sie war normalerweise die Streitschlichterin zwischen Dad und Freya oder Freya und Dee. Nur heute nicht, denn meine Schwester hatte sie mächtig in die Scheiße geritten. Schließlich war sie nun dem Direktor eine Erklärung schuldig, warum ihre Tochter schuld daran war, dass so viele teure Instrumente kaputt waren und die Aufführung nicht stattfinden konnte. Ich war mir ziemlich sicher, dass es sich bei den entstandenen Schäden um mehrere hunderttausend Dollar handelte... Zusammen mit meinem Dad, Dee, Tante Bev, Ally und Finn stand ich draußen vor dem Operngebäude und sah abwechselnd zwischen Trish, die sich gegenüber dem Dirigenten und dem Direktor zu erklären versuchte, und meiner Schwester, die sich vor den Polizisten verteidigte, hin und her.
Alles okay?
Freya antwortete mir nicht, aber ich sah, wie sauer sie war. Sie sah nicht im Geringsten schuldbewusst aus.
Was ist passiert?
Sie antwortete wieder nicht.
Ally knetete sich die Hände und Tante Bev legte ihr sofort besorgt eine Hand auf die Schulter. „Tut es weh? Hast du Schmerzen?"
Ally schüttelte den Kopf. „Ich mach mir nur Sorgen..."
„Kommt Freya ins Gefängnis?", fragte Finn und klang dabei beinahe aufgeregt.
„Nein, das auf keinen Fall", beruhigte Dad ihn.
„Wann kommt man ins Gefängnis?"
„Da muss man schon mehr ausgefressen haben, als ein paar Musikinstrumente kaputt zu machen."
„Was denn?", fragte Finn weiter und Tante Bev und Dad tauschten einen Blick miteinander aus. Ich war mir sicher, dass keiner von den beiden Finn eine Liste von Straftaten geben wollte, wegen derer einem eine Freiheitsstrafe drohte. Nicht, weil sie Angst hatten, Finn könne auf dumme Gedanken kommen (diese Sorge hätte man sich bei Ally machen können), sondern, weil er ein sehr zartes Kind war. Bis vor zwei Jahren hatte er noch panische Angst vor den Teletubbies gehabt.
„Darüber reden wir ein andermal", schloss Dad das Gespräch ab.
„Sie steckt in Schwierigkeiten, oder?" Allys Augen flackerten nervös hin und her. Etwas daran machte mich misstrauisch, weil es nichts gab, das Ally schnell nervös machte. Und ich glaubte auch nicht, dass sie sich Sorgen darum machte, dass Freya ins Gefängnis kam, denn dass die Chancen dafür gering standen, musste sie, im Gegensatz zu ihrem Bruder, wissen. „In richtig schlimmen?"
„Ally", sagte Tante Bev in einem Tonfall, der deutlich machte, dass sie das Verhalten ihrer Tochter auch ungewöhnlich fand. „Ist wirklich alles okay?"
„Ja. Ich mach mir nur Sorgen", wiederholte sie.
Tante Bev glaubte Ally nicht und ich tat es auch nicht, aber Trish stieß wieder zu uns, so blieb keine Zeit, Ally weiter auf den Zahn zu fühlen.
„Was haben sie gesagt?", fragte Tante Bev besorgt, aber Trish schüttelte nur den Kopf.
„Mom?" Dee griff erschrocken nach ihren Händen und noch bevor Trish irgendetwas sagen konnte, meinte sie: „Ich kann das wieder hinbiegen. Ich kann mit dem Direktor reden, dann wird alles wieder gut."
Trish schloss die Augen und seufzte. „Das kann ich nicht von dir verlangen."
„Haben sie dich aus dem Orchester geschmissen?", fragte Dee, obwohl die Antwort ziemlich offensichtlich war. Ally wandte den Blick ab und presste die Lippen aufeinander. „Lass mich das wieder hinbiegen, Mom, ich kann das."
Trish und Dad waren total dagegen, dass Dee ihre Gabe wissentlich einsetzte, um Menschen zu manipulieren, aber im Augenblick gab es vermutlich keine andere Möglichkeit, wie Trish halbwegs unbeschadet aus dieser Sache wieder herauskommen konnte.
Beide tauschten einen langen Blick miteinander aus, so lange, dass ich beinahe dachte, die beiden besäßen auch telepathische Fähigkeiten.
„Lass deine Tochter dir helfen, wenn sie das möchte", mischte Tante Bev sich vorsichtig ein. „Nur dieses eine Mal."
Schließlich nickte Trish und Dee wandte sich sofort an mich. „Kommst du mit?"
Ich nickte. Sie brauchte mich dafür nicht, aber ich wusste, dass es vielen Menschen schwerfiel, die Hände von Dee zu lassen, besonders, wenn sie ihre Fähigkeiten absichtlich einsetzte, also konnte es wohl nicht schaden, wenn ich sie begleitete.
„Und Dee?" Trish zog sie noch einmal zu sich und raunte mit kühlem Unterton: „Sieh zu, dass du deine Schwester aus einer Anzeige rausredest, wenn du schon dabei bist."
Dee nickte, atmete durch und ging zielstrebig auf den Direktor und den Dirigenten zu, die sich immer noch beschwerten und aufplusterten. Ich wich meiner Schwester nicht von der Seite, als sie ihr strahlendstes Lächeln aufsetzte und sich geschickt zwischen den beiden aufgebrachten Männern positionierte, die sich eben jeweils eine Zigarette angezündet hatten.
„Entschuldigen Sie, ich wollte nicht stören." Die beiden blinzelten Dee irritiert an. „Das war ein ganz schönes Chaos, oder? Ein verrückter Abend. Wirklich schade..."
„Ja, das kann man wohl sagen!", meckerte der eine weiter.
Sie schüttelte bedauernd den Kopf. „So hätte es nicht laufen sollen. Aber Unfälle passieren, meinen Sie nicht auch?"
Sie sah zwischen den beiden hin und her, hielt mit jedem von ihnen für einen kurzen Moment Augenkontakt, und die Männer sahen einander unsicher an. Bereits jetzt war deutlich, dass Dee sie aus ihrer Rage gebracht hatte und die beiden sich vermutlich fragten, warum sie sich so aufgeregt hatten und ob sie damit nicht aufhören sollten.
„Wissen Sie", lächelte Dee breit. „Meine Schwester ist nun Mal ein bisschen tollpatschig. Aber das sind wir doch alle Mal, oder? Was sagen Sie, Mr. Burkley?" Sie wandte sich an den kleineren der beiden mit der Brille und den gräulichen Haaren. „Sie stimmen mir doch zu, oder?"
„I-Ich... Ich denke, dass... ja? Schon..." Er nickte und hing förmlich an Dees Lippen, so intensiv, wie er sie anstarrte. Die beiden taten mir beinahe leid. Es war ihnen unmöglich, sich aus Dees Griff zu befreien. Sie war wirklich gut, wenn sie es sein wollte und ich fragte mich, ob sie in den letzten Wochen heimlich geübt hatte, obwohl ich mir das kaum vorstellen konnte. Die meiste Zeit versuchte sie krampfhaft diese Gabe zu unterdrücken.
„Und Sie, Mr. Wilson? Finden Sie nicht auch, dass meine Mom die beste Pianistin ist, die die Welt je gesehen hat? Es wäre so unfassbar schade, wenn sie nicht mehr in Ihrem Orchester spielen würde. Sie ergänzt es, wie kein anderer!"
Der Dirigent nickte aufgeregt. „Ja, ja, das stimmt schon. Eine sehr talentierte Frau!"
„Nicht wahr? Ich möchte unbedingt einmal in ihre Fußstapfen treten, wenn ich mit der Schule fertig bin. Bis dahin hoffe ich einfach, meine Mom so oft wie möglich auftreten sehen können, um von ihr zu lernen."
„Das kannst du!", sagte der Dirigent aufgeregt. „Ja, gleich nächste Woche haben wir ein Konzert geplant, mit den besten Stücken von Tchaikovsky! Da ist deine Mutter fest eingeplant."
Dee strahlte von einem Ohr zum anderen und der Dirigent wirkliche wie ein glückliches Kind an Weihnachten.
„Das klingt ja wunderbar! Ich freue mich so!"
Dass die beiden Trish gerade rausgeschmissen hatten, schien ihnen nicht aufzufallen.
Dee ließ ihr Lächeln abrupt fallen. „Was hast du denn?", fragte der Direktor aufmunternd.
Sie blinzelte. „Wissen Sie... ich mach mir solche Sorgen um meine Schwester... Glauben Sie, dass sie jetzt Ärger bekommt?" Dee ließ mühelos Tränen in ihren Augen aufwallen und der Direktor legte ihr väterlich eine Hand auf die Schulter.
„Nicht doch, auf keinen Fall, mach dir keine Sorgen, wir reden mit der Polizei und ziehen die Anzeige zurück."
Der Dirigent nickte zustimmend. „Ja, das machen wir, du musst dir keine Sorgen machen."
Dee begann wieder zu strahlen. „Meine Eltern kommen selbstverständlich für den entstandenen Schaden auf! Ich danke Ihnen vielmals!"
Der Direktor machte sich auf dem Weg zu den Polizisten und Freya und sprach mit ihnen. „Warum gibt es an deiner Schule eigentlich keinen Schauspielunterricht?", murmelte ich Dee zu.
„Gibt es", grinste sie und machte eine theatralische Handbewegung. „Sie wollten mich nur nicht mehr, weil ich einfach zu gut bin."
Ich lachte. Sekunden später stampfte Freya mit böser Miene zu uns zurück.
„Schnell weg hier, bevor die beiden Idioten aus ihrer Trance aufwachen und mich doch noch verhaften lassen wollen", murmelte sie.
„Gern geschehen!", fauchte Dee, als wir zurück zu den Erwachsenen gingen. „Meine Mom wäre deinetwegen fast ihren Job los, wenn ich nicht geholfen hätte. Das nächste Mal lass ich dich in einer Zelle schmoren, du blöde Kuh!"
„Ach, halt doch den Rand!"
„Schluss jetzt!", zischte Trish und deutete energisch zum Wagen.
Die Fahrt nach Hause verlief wie erwartet: Furchtbar lang. Dad fuhr, Trish starrte wütend geradeaus, Freya hatte das Gesicht zum Fenster gewandt und Dee und ich spielten auf einer Serviette, die wir im Fußraum des Wagens gefunden hatten Tic-Tac-Toe auf meinem Bein. Sie sah mich immer mal wieder unbehaglich an und ich quittierte mit hochgezogenen Augenbrauen. Irgendwann stieß sie mich an und nickte zu Freya. Ich unterdrückte ein Seufzen, probierte es aber, während ich ein X in die obere Mitte setzte.
Sag schon, was los war.
Sie antwortete nicht.
Freya.
Dee sah mich abwartend an und ich schüttelte den Kopf.
Ich musste immer noch an den Blick denken, den Freya und Ally miteinander ausgetauscht hatten, bevor Tante Bev sie und Finn zum Auto dirigiert hatte und wir in unseren Wagen gestiegen waren. Ally wusste etwas. Sie hatte mit dieser ganzen Sache etwas zu tun und das machte mich unruhig. Wenn Ally und Freya Geheimnisse hatten, waren es gefährliche Dinge. Böse Dinge. So wie damals, als Ally das Hexenbuch ihrer Mutter geklaut hatte und mit Freya einen Zauber hatte probieren wollen...
Irgendwann war die Serviette beidseitig voll und fünf Minuten später bog Dad in die Einfahrt unseres Hauses ein.
Freya war die erste, die aus dem Wagen sprang und auf die Türe zu stampfte. Trish stürmte hinterher.
„Wir könnten jetzt auch einfach ins Kino fahren", schlug Dee vor, als wir nur noch zu dritt im Wagen saßen, und sah Trish und Freya nach. Dad drehte sich zu uns und ich hatte das Gefühl, dass er ernsthaft darüber nachdachte.
„In dem Aufzug?", fragte ich und deutete auf Dees Kleid.
„Drive-in? Ich hätte Lust auf Pommes und keiner müsste das Auto verlassen."
Dad löste mit einem Seufzen den Sicherheitsgurt. „Ich habe Angst, dass das Haus nicht mehr steht, wenn wir das machen", sagte er und schwang sich aus dem Fahrzeug.
Unbehaglich folgten Dee und ich ihm ins Haus, wo der unvermeidbare Streit zwischen Trish und Freya schon in vollem Gange war.
„Du hast Hausarrest!", rief Trish. „Über die Dauer unterhalte ich mich noch mit deinem Vater."
Freya stand an der Treppe. Zorn funkelte in ihren Augen. „Wieso?!"
„Was meinst du mit Wieso? Vielleicht, weil du mir einen der wichtigsten Abende meiner gesamten Karriere kaputt gemacht hast und ich heute Abend fast meinen Job verloren hätte, wenn deine Schwester nicht gewesen wäre."
„Sie ist nicht meine Schwester!", brüllte Freya. „Und du bist nicht meine Mutter!"
Freya!, mahnte ich schockiert und Trish stieß einen fassungslosen Laut aus.
„Pass auf, was du sagst!"
„Ist meine Seite der Geschichte denn völlig irrelevant?!"
„Ja, und willst du wissen, warum? Weil ich glaube, dass du es geradezu darauf angelegt hast, mir diesen Abend zu ruinieren! Weil du seit Jahren jede Gelegenheit nutz, um mir das Leben schwer zu machen, weil du unfähig bist zu akzeptieren, dass deine Mutter nun einmal gestorben ist, als du ein Baby warst und kein Teil deines Lebens mehr ist!"
Völlig überrumpelt sah ich zwischen Trish und Freya hin und her. Ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung, wo das alles auf einmal herkam. Mom im Streit aufzubringen, war in diesem Haushalt normalerweise wie der Eröffnungsschuss auf einem Schlachtfeld.
Freya lachte bitter auf. „Na, herzlichen Glückwunsch. Scheint, als hättest du mich endlich durchschaut. Und wenn wir schon dabei sind: Meine Mom hätte mir zugehört!"
Freya stürmte die Treppen hinauf auf ihr Zimmer, während sie wiederholt: „Ich hasse dich!", schrie, und schlug dann die Türe hinter sich zu.
Geladen wirbelte Trish zu Dad herum, der sich überraschenderweise völlig aus dem Streit rausgehalten hatte. „Darf ich sie rausschmeißen, wenn sie achtzehn ist?"
„Wenn du sie bis dahin nicht erwürgt hast", entgegnete er trocken und zog sich die Anzugjacke aus. Dee zupfte mich am Ärmel und nickte zu den Treppen. Während Trish ihrem Frust weiter freien Lauf ließ, verdrückten wir uns nach oben. Dee zog mich sofort mit auf ihr Zimmer und schloss die Türe leise hinter sich. Trishs geladene Stimme drang immer noch dumpf zu uns herauf.
„Ist es jetzt ein normaler Familienausflug gewesen?", fragte sie und sah mich an. „Oder fehlt noch fliegendes Geschirr?"
„Die beruhigen sich schon wieder." Ich lockerte meine Krawatte und schälte mich aus meiner Jacke.
„Kleid?", fragte sie und drehte sich mit dem Rücken zu mir. Ich zog den Reißverschluss ihres Kleides auf und sie ging zu ihrem Schrank.
„Die blöde Kuh weiß wirklich, was sie sagen muss, um jemandem wehzutun", sagte Dee dann, als ich mich von ihr weggedreht hatte, damit sie sich in Ruhe umziehen konnte.
„Weil sie gesagt hat, dass du nicht ihre Schwester bist?"
Dee schwieg einen Augenblick. Freya und sie waren zwar kein Herz und eine Seele, und mit Trish geriet sie manchmal aneinander, aber sie war, wie ich, mit den beiden aufgewachsen. Ich kaufte ihr nicht ab, dass sie sie nicht als Teil unserer Familie sah, nur weil wir keine Blutsverwandten waren, auch wenn sie es oft andeutete. Ich war mir sicher, dass Freya das nicht ernst gemeint hatte. Nein, ich hoffte es.
„Du denkst nicht auch so über mich und Mom, oder?", fragte Dee.
„Dass ihr kein Teil der Familie seid? Natürlich nicht! Was ist das denn für eine Frage?"
„Kannst dich wieder umdrehen", murmelte sie.
„Du und Trish gehört zur Familie. Ohne euch wären wir keine, ihr seid die Familie", sagte ich nachdrücklich, aber sie sah mich nicht an, sondern verstaute ihr Kleid im Schrank. „Hör nicht auf das, was Freya gesagt hat, okay? Sie war nur sauer. Du weißt doch, dass sie dann immer Sachen sagt, die sie nicht so meint. Das passiert uns allen mal."
„Ich hätte so etwas nie gesagt." Das stimmte vermutlich, aber Dee war auch niemand, der Konfrontationen suchte. Sie holte tief Luft und entspannte die Schultern. Dann drehte sie sich doch zu mir. „Egal. Hat sie dir erzählt, was heute Abend los war?" Ich schüttelte den Kopf. „Glaubst du, dass sie das wirklich gemacht hat, um meiner Mom eins auszuwischen?"
„Glaubst du das denn?", gab ich die Frage zurück.
Dee schüttelte zögerlich den Kopf. „Aber mir will einfach keine andere Erklärung einfallen..."
Ich nickte seufzend. „Ja, mir auch nicht."
Und solange Freya nicht redete, würden wir nicht erfahren, was wirklich passiert war. Außerdem gab ich mir eine Teilschuld an dem Desaster. Hätte ich mich nicht lieber mit dem hübschen Mädchen unterhalten und wäre bei Freya geblieben, wäre das vielleicht nicht passiert. Als ich mich daran erinnerte, zog ich die Serviette mit ihrer Nummer aus meiner Hosentasche.
„Das ist ja schon wieder eine Telefonnummer", sagte Dee kopfschüttelnd. „Da könnte man ja ein Trinkspiel draus machen."
Ich schmunzelte. „Was ist eigentlich mit dir und dem Basketballer?"
Sie sah mich verwirrt an. „Mit wem?"
„Dem großen Kerl, der dich letztens zur Schule gefahren hat."
„Ach so... Nichts." Sie zuckte mit den Schultern.
„Nichts?"
„Ich mag ihn, aber..." Sie ließ sich auf dem Bett fallen, setzte sich die Kapuze von ihrem weißen Pullover auf, und ich setzte mich neben sie. „Früher hab ich nicht so viel drüber nachgedacht, aber seit ich es weiß... Ich will mit niemandem zusammen sein, der nur mit mir zusammen sein will, weil er gar nicht anders kann, verstehst du? Und wenn ich will, dass sich jemand in mich verliebt, dann passiert genau das." Sie senkte den Blick und zupfte an einem ihrer flauschigen, pinken Kissen herum. „Das ist nicht fair. Für niemanden..."
Darüber hatte ich noch nie so recht nachgedacht, aber wenn ich meine Schwester jetzt so ansah, glaubte ich, dass sie dieses Thema schon eine Weile beschäftigte. „Verstehe", sagte ich leise, weil ich nicht recht wusste, was ich sonst sagen sollte. Wollte sie denn jetzt für immer allein sein? Nie wieder mit einem Jungen zusammenkommen? Keine Freunde mehr finden? Sie war aus unserer Familie vermutlich diejenige, mit den meisten sozialen Kontakten. Ab und zu brachte sie Freunde mit nach Hause und sie war nie so ganz single. Es gab immer jemanden, mit dem sie Händchen halten konnte.
Aber sie hatte recht. Sie würde nie wissen, ob ein Mensch sie wirklich gerne hatte, oder sie nur mochte, weil er sich nicht gegen ihre Gabe wehren konnten.
Sie sah mich an, bevor ich weiter darauf eingehen konnte. „Und du?"
„Was soll mit mir sein?"
„Du hast doch bestimmt schon mehr Auswahl in deinem Kontaktbuch, als auf einer Dating-Website."
Ich musste lachen. „Ja, naja... Vielleicht treffe ich mich ja wirklich bald mit einem Mädchen."
Dee lächelte zufrieden, aber ich fragte mich plötzlich, was das alles überhaupt sollte. Die immerwährende Sorge, dass ich niemals einen Menschen nah genug an mich heranlassen konnte, -an mich und die Welt, in der ich lebte- ergriff wieder Besitz von mir. Warum mit diesem Mädchen, Noa, auf ein Date gehen, wenn ich jetzt schon wusste, dass es nicht lange halten würde? Dass ich einen Teil von mir nie würde zeigen können. Schlimmer noch, ich musste ihn verstecken. Ich würde nie ehrlich sein können.
„Was hast du denn plötzlich?", fragte Dee besorgt.
„Nichts, alles okay." Ich zwang mir schnell ein geübtes Lächeln auf, aber sie konnte hindurchsehen.
Sie legte ihren Kopf an meine Schulter und ich legte einen Arm um sie. „Ich hab auch Angst davor", sagte sie leise.
„Wovor?"
„Irgendwann allein zu sein."
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