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Freya

Ihm waren die drei Typen mit ihrer großen Klappe, den ausgetragenen Turnschuhen und ihrem lauten Benehmen trotz Kopfhörer aufgefallen, als sie in die Bahn eingestiegen waren. Und jetzt saßen sie seit zwei Minuten einem Mädchen gegenüber, das etwa in seinem Alter war und krampfhaft versuchte, die Blicke der Jungen zu ignorieren.

Der Wagon begann nach altem Fett zu riechen, nach Junk Food und den süßen Getränken, die die Jungen in Massen mitgebracht hatten. Die Sonne blendete ihn, als er die Musik ausschaltete und sich die Kopfhörer herunterzog.

Die Jungen versuchten immer wieder, das Mädchen anzusprechen, aber es tat so, als würde es nichts hören, starrte weiter aus dem Fenster, betrachtete die vorbeirauschende Landschaft und die untergehende Sonne.

Als einer der drei eine Handvoll Popcorn nach dem Mädchen warf und alle lachten, schwang er sich von seinem Sitz, ging durch das Abteil zu dem Mädchen und ließ sich neben ihm fallen. Er lehnte sich zurück, verschränkte lässig die Arme hinter dem Kopf und fixierte die drei Jungen, die ihn missmutig anschnauzten und beschimpften, sich aber nicht mehr trauten, das Mädchen mit dummen Bemerkungen zu belästigen oder mit Essen zu bewerfen. Als der Zug in die Haltestelle einfuhr, sprangen die Jungen grölend auf den Bahnsteig. Er sah ihnen durch das Fenster hindurch nach, bevor er sich die Kopfhörer wieder aufsetzte und sein Handy hervorzog.

Plötzlich spürte er eine Hand auf dem Unterarm und drehte den Kopf zu dem Mädchen, das ihn anlächelte. Ihre Lippen formten ein: „Danke", das in der Musik in seinen Ohren unterging.

Der Schlag traf mich mitten im Gesicht, ich taumelte nach hinten und schlug mir die Ellenbogen auf dem Boden an. Der Fast Food Geruch verschwand, die Geräusche im Zug verwandelten sich in brüllendes, aufgekratztes Jubeln und anstelle des Mädchens sah ich nun den Kerl, der mir gerade eine verpasst hatte.

Er grinste.

Ich wurde wütend.

Den ganzen Kampf über hatte er kaum einen Treffer landen können, aber jetzt lag ich mit einer schmerzenden Schulter auf dem Boden. Der Kerl war ein absolutes Rhinozeros mit Oberarmen, die so dick waren, wie mein Schädel.

Es war gut, dass er mich endlich getroffen hatte. Das Blut lief von meiner Nase in meinen Rachen hinunter. Ich spuckte es auf die blaue Matte unter uns. Ich musste mich besser konzentrieren, härter zuzuschlagen und endlich zu denken aufzuhören. Deshalb war ich doch überhaupt erst hier!

Der Gestank nach Schweiß und Blut rüttelte mich wach und vertrieben auch den letzten Rest der Bilder in meinem Kopf. Mein Körper begann zu kribbeln, ich stemmte mich hoch und ich trat auf ihn zu, wich einem seiner Schläge geschickt aus, wirbelte herum und trat dem Kerl so heftig in die Kniekehle, dass er mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Knie sackte.

Gerne hätte ich noch länger mit ihm gekämpft, aber die rotleuchtende Anzeige über den Köpfen der jubelnden Masse zeigte mir an, dass die zehn Minuten fast vorbei waren. Es war Zeit, diesen Kampf zu beenden.

Rhinozeros wollte sich wieder auf die Beine kämpfen, aber ich nahm meine ganze Kraft zusammen und trat dem Kerl so fest gegen das Kinn, dass er mit dem Rücken auf die Matte prallte.

Ich hatte die Fäuste immer noch angriffsbereit vor meinen Oberkörper gehalten und fixierte den Kerl, als der Gong die brüllende Masse komplett zum Ausrasten brachte. Geldscheine wurden herumgereicht, Bierdosen geleert, es wurde gelacht, geklatscht, in Enttäuschung mit den Köpfen geschüttelt, geschimpft, auf mich gezeigt.

Rhinozeros hob seinen Kopf von der Matte und funkelte zu gleichen Teilen zornig wie ungläubig zu mir auf.

Ihn hatte davor bestimmt noch nie ein Mädchen so übel zugerichtet, wie in den letzten Minuten. Das blaue Auge, das ich ihm schon beim ersten Schlag verpasst hatte, begann sich bereits sichtbar zu machen, genauso wie der Bluterguss an seinen Rippen. Und nach meinem letzten Tritt würde er sicher noch eine nette Wunde am Kiefer davon tragen.

„Wer zur Hölle bist du?", fragte er mit tiefer, krächzender Stimme. Der Schweiß glänzte auf seiner Stirn, den Schultern und der nackten Brust.

Ich ließ endlich die Fäuste fallen, richtete mich auf und atmete aus. „Ich hoffe, wir sehen uns wieder", grinste ich hämisch, drehte mich um und verließ den offenen Kampfring.

~~ ~~

Nachdem ich fast meine gesamte Wasserflasche in einem Zug geleert und mir mit einem Handtuch den Schweiß von der Haut getupft hatte, zog ich mir meinen Kapuzenpullover über, nahm meine Sporttasche aus dem Schließfach und schlug die Metalltüre zu. Vorsichtig ließ ich meinen Nacken kreisen, den ich mir verrissen hatte, als ich auf der Matte aufgeprallt war.

Noch nie hatte ich hier ein anderes Mädchen gesehen. Das überraschte mich nicht unbedingt. Kein Mädchen, das ich kannte, hätte sich freiwillig in diesen stinkenden Keller gewagt, um gegen ausgewachsene, durchtrainierte, aggressive, blutlüsterne Männer im Ring anzutreten.

Bei den meisten Leuten die hier herunterkamen, war ich daher mittlerweile bekannt wie ein bunter Hund. Ich stach eben heraus. Auch, wenn keiner von denen meinen Namen kannte oder wusste, warum ich einen eins neunzig großen, durchtrainierten Kerl zusammenschlagen konnte, wie mein Kopfkissen.

Noch nie hatte ich einen Kampf verloren.

Ich tastete meine Nase ab, während ich die Treppen durch den engen Gang nach oben stieg. Gebrochen war sie immerhin nicht und die Blutung hatte aufgehört. Die Finger fest um den Griff meiner Sporttasche, die ich auf der Schulter trug, trat ich aus dem Kellerloch, hinaus in die Gasse, die nach Biomüll und Urin miefte, und machte mich auf den Weg nach Hause.

Selten hatte ich mich nach einem Kampf so unbefriedigt gefühlt. Der Kerl war einfach kein sonderlich spannender Gegner gewesen. Ich hatte mich schon mehr anstrengen müssen.

In meiner Brust tobte immer noch eine unbändige Energie -ich hätte ganze Bäume samt Wurzeln ausreißen können. Aber das hätte bei den Nachbarn vermutlich Fragen aufgeworfen. Also würde ich mich mit dieser inneren Unruhe bis nächsten Dienstag abfinden müssen.

Dad und Trish standen in der Küche, als ich die Haustüre aufsperrte und ich roch das Abendessen. Schnell lief ich die Treppen nach oben, auf mein Zimmer, damit die beiden nicht sahen, wie schrecklich ich aussah. Ich warf meine Sporttasche neben das Bett, griff nach frischer Kleidung, beeilte mich ins Bad und schloss die Türe hinter mir ab.

Ich streifte mir die Kleider vom Leib und betrachtete meinen Körper im Spiegel. Definitiv hatte ich schon mehr abbekommen. Ein paar dunkelblaue Flecken erstreckten sich über meinen rechten Oberarm. Ich drehte mich und warf einen umständlichen Blick auf meinen Rücken. Nichts zu sehen. Meine Ellenbogen waren gerötet, nichts Weltbewegendes. Meine Nase hatte am meisten abbekommen. Sie war ziemlich zugeschwollen und rot. Alles nicht tragisch.

Ich stieg unter die Dusche, öffnete den Zopf, den ich mir geflochten hatte und ließ das dampfende Wasser über meinen Kopf laufen. Meine Fingerknöchel brannten. Sie waren nach einem Kampf immer aufgeplatzt und aufgeschunden, immerhin benutzte ich sie am aller meisten. Ich blieb fast fünfzehn Minuten unter der Dusche stehen, um Zeit zu schinden, bevor ich nach unten musste. Währenddessen schrubbte ich mir das eingetrocknete Blut, das sich unter meinen Fingernägeln gesammelt hatte, weg und spülte den metallischen Geschmack aus meinem Mund.

Als ich wieder aus der Dusche stieg, waren meine Fingerknöchel nur noch gerötet und meine Nase war deutlich abgeschwollen. Die Flecken an meinem Oberarm waren gelblich und meinen Ellenbogen ging es wieder gut.

Ich föhnte mir noch die Haare trocken und band meine Locken wieder in einen hohen, geflochtenen Zopf, bevor ich einen letzten Blick in den Spiegel warf und zufrieden feststellte, dass mein Gesicht wieder normal aussah. Es tat zwar noch weh, aber weder Dad noch Trish würde etwas auffallen.

„Freya! Das Essen ist gleich fertig, kommst du?", hallte Trishs Stimme durch das Haus.

Ich kämpfte mich in einen frisch gewaschenen Pullover und galoppierte die Treppen nach unten in die Küche. Natürlich war das Essen noch nicht fertig. Das Essen war nie fertig, wenn es hieß, dass es fertig war. Wenn Trish mich zum Essen rief, dann meist, damit ich half, den Tisch zu decken. Ein widerlicher Trick, um mich aus meinem Zimmer zu locken, aber es klappte jedes Mal.

Es roch so gut, dass mir der Magen zu knurren begann.

Dee saß am Küchentisch und machte ihre Hausaufgaben, während Trish mir sofort das Besteck und die Teller in die Hände drückte, als sie mich sah.

„Wie war das Training?", lächelte sie und sprang zurück zum Ofen, in dem ein ganzes Hähnchen vor sich hin brutzelte.

„Gut", erwiderte ich knapp.

Natürlich wusste Trish nicht, wo ich Dienstagabends wirklich hinging. Dad wusste es auch nicht und Dee schon gar nicht. Nur Ace wusste es. Ich hatte vor zwei Jahren erzählt, dass ich trainieren wollte und jetzt glaubten sie, dass ich meine Sporttasche packte, um im Fitnessstudio eine Runde auf dem Laufband zu joggen.

„Weißt du, wo Ace ist?", fragte sie weiter.

„Bahn", antwortete ich. „Er sollte gleich da sein." Ich dachte an die Blondine, neben die er sich im Zug gesetzt hatte, um die drei Typen zu verjagen.

„Deine Tante kommt zum Essen vorbei."

„Kommt Onkel Aidan auch?", fragte ich hoffnungsvoll, aber Trish schüttelte den Kopf.

„Er muss arbeiten."

„Na, ist ganz toll", grummelte ich verbissen.

„Lass das, Freya", mahnte Dad, ohne sich zu mir umzudrehen. Er stand am Herd und briet meine Tofuscheiben an.

Ich hielt einen Augenblick inne und wartete, ob er mich ansehen würde, aber er war zu sehr mit dem Essen beschäftigt, also wandte ich mich wieder dem Geschirr zu. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann Dad mich zuletzt angesehen und dabei gleichzeitig etwas zu mir gesagt hatte. Das war schon zu viel verlangt.

Die Haustüre ging auf und Ace rief seine gutgelaunte Begrüßung durchs Haus. Ich streckte mich, um zum Eingang zu sehen.

„Wo hast du die Blondine gelassen?", neckte ich ihn. Er kam in die Küche. „Sie wäre dir doch in der Bahn fast auf den Schoß geklettert."

Ace kramte in seiner Jackentasche und zog einen Zettel heraus, auf der mit blauem Kugelschreiber eine Telefonnummer stand.

„Un-fass-bar", stieß ich aus. Er zwinkerte und ging zurück ins Vorzimmer, um sich Jacke und Schuhe auszuziehen.

Natürlich hatte das Mädchen ihm seine Nummer gegeben. Wie hätte es auch anders sein sollen? Die meisten Mädchen an unserer Schule hätten ein lebenswichtiges Organ gegeben, um einmal von ihm berührt zu werden. Wirklich! Erst heute Vormittag hatte ich Ashley auf dem Schulflur zu ihren Freundinnen sagen hören, dass sie sich beide Nieren mit einem Buttermesser aus dem Körper geschnitten hätte, wenn sie Ace dafür einmal berühren dürfte. Das konnte ich weder subjektiv noch objektiv betrachtet nachvollziehen.

Abgesehen davon war sich unsere gesamte Familie uneinig, ob wir nun glauben sollten, dass Ace auf Jungs stand oder auf Mädchen. Seit er vor einem guten Jahr beschlossen hatte, dass er seine Locken schulterlang und mit einem violetten Bandana auf dem Kopf tragen wollte, und Dad und Trish so lange angebettelt hatte, sich ein Ohrpiercing stechen lassen zu dürfen, bis sie es Widerwillen erlaubt hatten, rätselten wir.

Ace verlor kein Wort über das Thema, aber die Mädchen an unserer Schule, oder die, denen wir auf der Straße entgegenliefen, wenn wir unterwegs waren, schienen sich alle einig darüber zu sein, dass Ace einer griechischen Gottheit glich.

Ich fand, er sah einfach nur aus, wie eine jüngere, weniger mürrische Version unseres Dads ohne dem Kinngrübchen, aber mit den Smaragdaugen unserer Mom, um die ich ihn für immer beneiden würde.

Ace ließ sich neben Dee in einen der Stühle fallen und musterte den Extrateller.

„Erwarten wir Besuch?"

„Deine Tante", erwiderte Dad und drehte sich zu Ace. „Wie war Latein?"

Mein Bruder nickte zufrieden. „Gut."

Dee vergrub die Finger in ihren kupferfarbenen Haaren und stieß frustriert den Atem aus. „Dann kannst du mir sicher beim Übersetzen dieses idiotischen Textes über den Textilienhandel in Rom helfen."

„Der Textilienhandel in Rom?", hakte er verwirrt nach. „Gehst du auf eine Musikschule oder auf ein Modecollege?"

Ich schob ihm den Zettel mit der Telefonnummer wieder zu, er griff danach, knüllte ihn unbekümmert zusammen und warf ihn mit einem perfekten Schuss in den Mülleimer am anderen Ende des Raums.

Dee ließ den Kopf auf ihre Bücher fallen. „Ich bin nicht gut in Latein. Oder Chemie. Oder Mathe. Oder Wirtschaft. Was glauben die, warum ich mich wohl an einer Musikschule beworben habe und nicht auf eine normale High School gehe? Um Flügelpolitur zu schnüffeln?"

Trish stellte den Salat auf den Tisch. „Dieses Jahr noch", lächelte sie aufmunternd. „Dann fallen fünfzig Prozent der Allgemeinfächer von deinem Stundenplan."

„Latein ist aber keines davon", murrte Dee und Ace beugte sich zu ihren Büchern, als es an der Türe klingelte.

„Machst du auf, Freya?", bat Trish.

„Sie ist eine Hexe, sie wird die Türe doch wohl selbst aufbekommen", entgegnete ich mit verschränkten Armen.

Trish legte mahnend den Kopf schräg. „Freya."

Ich ließ knurrend den Kopf in den Nacken fallen, bevor ich aufstand und zur Türe stampfte. Gerade, als ich sie öffnen wollte, schwang sie von selbst auf und Tante Beverly trat ins Haus.

„Entschuldige, ich wollte nicht warten", erklärte sie. 

„Oh, nein, vergiss es, dafür bin ich nicht aufgestanden, das machen wir noch einmal", murrte ich, schob meine verwirrte Tante wieder aus dem Haus und drückte die Tür ins Schloss. Ein paar Sekunden später klopfte sie und ich öffnete ihr. 

„Geht doch", nickte ich. „War doch nicht schwer, oder?" Tante Bev versuchte ihre Belustigung zu verstecken und ich drehte mich um und ging wieder ins Wohnzimmer. Dad und Trish stellten das restliche Essen auf den Tisch, während Tante Bev Dee und Ace begrüßte. Sie umarmte Trish, als hätten sie einander ein Jahr lang nicht gesehen, obwohl wir erst letztes Wochenende bei ihr und Onkel Aidan zu Besuch gewesen waren. Abschließend ging sie zu Dad und berührte ihn am Oberarm. Das war ihre Art, ihn zu begrüßen, denn Dad ließ sich selten umarmen. Ich wusste nicht, warum das so war, er hatte es mir nie gesagt, aber Onkel Aidan hatte einmal gemeint, dass es mit seiner Kindheit zu tun hatte, über die ich weniger als nichts wusste. Wenn er sich umarmen ließ, dann nur von Dee, Ace und mir, aber es war lange her, dass er mich umarmt hatte.

Nach dem Kampf hatte ich einen Bärenhunger und das Essen schmeckte wie immer absolut fantastisch. Ally hatte einmal gesagt, dass sie nur noch essen würde, wenn sie bei so einem Superkoch wie Dad wohnen würde. Dee hatte traurig gelächelt.

„Dann würdest du wohl verhungern."

„Wieso?", hatte Ally verblüfft gefragt.

„Na, so selten, wie der Superkoch zu Hause ist..."

Es fiel mir schwer, mich auf die Gespräche am Tisch zu konzentrieren, und mich einzubringen, weil heute einer der beschissenen Tage war, an denen ich konstant in Ace' Kopf hineinrutschte, ohne es so recht zu bemerken. Meist merkte ich es erst, wenn er mich ansah und ich mich selbst sah und begriff, dass ich schon wieder in seinen Gedanken wohnte. Oder er ein Stück von dem Huhn aß und mich der Geschmack zurück in meinen eigenen Kopf katapultierte.

Ich griff nach meinem Glas und trank es bis zur Hälfte leer. Krampfhaft bemühte ich mich, fokussiert zu bleiben.

„Ace? Dee?", fragte Tante Beverly.

Dee verzog das Gesicht. „Ich würde gerne, aber ich hab erst eine Woche später Ferien. Musikschule, eben..."

„Ich komme gerne mit", nickte Ace und stieß mich unterm Tisch mit dem Fuß an.

„Freya?", fragte Tante Bev und ihr Blick glitt zu mir.

Worum zur Hölle geht es?, fragte ich Ace, ohne die Lippen zu bewegen.

Irland, erwiderte er, während er sein Glas mit Sprite austrank.

Ich verzog das Gesicht. „Nichts für Ungut, aber... deine seltsame Hexenfamilie hat nicht sonderlich viel für mich übrig."

„Corona hat für niemanden viel übrig", erwiderte sie.

„Schön, ich habe trotzdem keine Lust meine wohlverdienten Ferien am Arsch der Welt in einem antiken Schloss ohne WLAN-Zugriff zu verbringen, vielen Dank auch."

„Freya", mahnte Dad, aber Tante Bev winkte ab.

„Lass sie, sie ist wenigstens ehrlich."

Der fehlende WLAN-Zugriff war nicht unbedingt der Grund, warum ich nicht mitwollte. In dem Schloss gab es sogar viel zu entdecken. Es war voller Magie und alter Geheimnisse, die Bibliothek war der reinste Wahnsinn und Tante Bevs Bruder, Arlen, war wirklich witzig und er erzählte mir gerne und oft, wie heldenhaft er Tante Bev jedes Mal vor dem Tod bewahrt hatte, wenn sie mit einer klaffenden Wunde bei ihm aufgetaucht war. Das dürfte recht oft passiert sein. Aber wenn ich eine ganze Woche jeden Abend die Gelegenheit hatte, aus dem Haus zu kommen, um zu kämpfen, dann wollte ich diese Gelegenheit verdammt nochmal nutzen.

„Ich finde es wäre keine schlechte Idee, wenn du mitgehst", mischte Dad sich ein.

„Na, dann pack ich doch sofort meine Koffer", erwiderte ich sarkastisch.

„Es würde dir nicht schaden, Mal wieder rauszugehen."

„Dir ist schon aufgefallen, dass ich eben drei Stunden weg war, oder?"

Er warf mir einen angestrengten Blick zu. „Ist mir aufgefallen."

Wow. Ein Blick und drei Worte. Man streiche den Tag im Kalender an!

„Ich meinte, eher sowas wie... Grünzeug ansehen. Du weißt schon. Tut dir bestimmt gut."

Grünzeug ansehen", wiederholte ich. „Finde ich toll. Du hast vollkommen Recht, ich liebe Grünzeug. Warum sollte ich nicht mit einem Portal ans andere Ende der Welt reisen und mir ein bisschen auf die Schuhe kotzen, für... Grünzeug?"

Er schüttelte den Kopf und wandte sich wieder seinem Essen zu. „Vergiss es. Dann bleib eben hier."

„Nein, schon gut, deine Propaganda für Grünzeug hat mich überzeugt."

Dad legte sein Besteck weg und rieb sich die Nasenwurzel.

Tante Beverly schmunzelte. „Den Sarkasmus hast du von deiner Mutter."

Jetzt schoss Dad ihr einen warnenden Blick zu, so wie er es immer tat, sobald von Mom die Rede war.

„Du musst nicht mit", sagte Trish beschwichtigend. „Du kannst hier bleiben und Dee beim Lernen helfen."

Was?", schossen Dee und ich ihr gleichzeitig schockiert entgegen. „Ja", nickte Trish ruhig. „Freya ist doch gut in Latein, wieso nicht?"

„Da schau ich mir ja lieber das Grünzeug an...", murmelte ich.

Als sich Dad, Trish und Tante Beverly nach dem Essen mit einer Flasche Wein und drei Gläsern bei uns auf die Terrasse setzten, kramte ich die Packung Ben&Jerry's aus der Tiefkühltruhe, und nahm mir einen großen Löffel, bevor ich mich an die Kücheninsel setzte und im Eis herumstocherte.

„Scheißtag?", vermutete Ace und setzte sich neben mich. Dee war auf ihr Zimmer gegangen, um weiter zu lernen.

„Wann nicht?", entgegnete ich verbissen, als ich das Eis, das sich steinhart anfühlte, aus der Packung zu schälen versuchte. „Ich hab schon Kopfschmerzen..."

„Du bist heute oft in meine Gedanken gerutscht, oder?", fragte Ace, als ich mir einen Löffel Eis in den Mund steckte und erleichtert die Augen schloss. Ich reichte den Löffel an ihn weiter und er stach ebenfalls ins Eis.

„Ja. Ich weiß auch nicht warum. Ich bin froh, dass du dieses Mädchen nicht mitgenommen hast. Stell dir bloß vor, was passiert wäre, wenn du sie auf dein Zimmer genommen hättest und-"

Er verschluckte sich an dem Eis und gab mir den Löffel zurück. „Du bist doch krank im Kopf. Stell mich dir gefälligst nicht beim Sex vor."

Ich tauchte den Löffel wieder ins Eis und nickte zu dem Mülleimer. „Warum hast du ihre Nummer weggeworfen?"

Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung."

Ich nickte teilnahmslos. „Okay. Warum will Tante Bev nach Irland? Das hab ich irgendwie nicht mitbekommen."

Er nahm mir wieder den Löffel ab. „Weil Ally in drei Monaten vierzehn wird. Sie wird offiziell zur Prinzessin gekrönt. Sie reisen für die Vorbereitungen dort hin."

„Ich bin sicher, Ally freut sich, dass du mitkommst", grinste ich.

Es war ein offenes Geheimnis, dass Ally absolut in Ace verschossen war. Aber sie war auch nicht sonderlich gut darin, es zu verstecken. Der offensichtlichste Faktor war, dass sie jedes Mal knallrot anlief, wenn er sie ansah oder ein Wort mit ihr wechselte oder auch nur im selben Raum war wie sie.

Ich wiederhole mich vielleicht, aber ich verstand es nicht.

Wenn ich mich jemals in einen Kerl verlieben würde, dann wäre das sicherlich nicht Ace, was nicht zuletzt an dem offensichtlichsten Faktor lag. Mein Bruder war ein neunmalkluger Erbsenzähler, mit der emotionalen Reife eines Vierjährigen. Und trotzdem fanden ihn alle toll.

Außerdem fand ich es seltsam, dass Ally in ihn verknallt war, auch, wenn die beiden nicht wirklich verwandt waren, weil Onkel Aidan nicht wirklich Moms Bruder war. Es war trotzdem seltsam.

Ich schüttelte den Kopf. „Ekelhaft..."

„Du findest alles ekelhaft."

„Und warum sollen wir mit?"

„Um uns das Grünzeug anzusehen", grinste Ace und ich stieß ihm genervt mit dem Ellenbogen in die Rippen. „Naja, vielleicht wollen Dad und Trish ja Mal wieder alleine sein. Wenn Dee in der Schule ist und wir in Irland, dann haben sie Mal wieder Zeit für sich."

Ein Knoten bildete sich in meinem Magen und ich stach den Löffel ins Eis, ohne ihn wieder herauszuziehen. Ich hasste den Gedanken, dass es meinem Dad und Trish gefallen könnte, alleine zu sein und musste für einen Augenblick an den Abend vor sieben Jahren denken, schob die Erinnerung aber sofort wieder beiseite.

„Ekelhaft...", murmelte ich kopfschüttelnd und Ace grinste, als er den Löffel aus der Eispackung zog und mir zustimmte.

„Total ekelhaft."

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