Erwachen

Das war nun der zweite Schreckmoment in dieser Nachtschicht.

P1 war am Erwachen?

Ja! Es sah ganz deutlich danach aus.

Die Augen waren seit sieben Monaten immer geschlossen gewesen! Und nun? Jetzt waren sie geöffnet.

Und deutlich hörbar hat er auch geseufzt!

Das war neu!

Und überraschend!

Und ja- für Melina war es beunruhigend.

Sie legte das Buch bei Seite, stand auf und blickte- dem Bette langsam näherkommend- auf die Augen von P1, die an die Decke des Raumes starrten. Als Melina nun sehr nahe an seinem Bett stand und wohl von P1 wahrgenommen werden konnte, da passierte das Unglaublichste: Urplötzlich wanderten die Augen von P1 langsam zu Melina Hargraves herüber.

Er reagiert auf Reize und Bewegungen?

Das war auch neu!

Bevor der vielleicht versucht, sich die Schläuche abzureißen, wollte Melina dann doch auf dieses „Neue" irgendwie reagieren. Heimlich drückte Melina den stummen Alarm- und hoffte, dass irgendjemand diesen wahrnahm und sie nicht aus dem Patientenraum musste.

„Alles ist gut. Sie sind im Krankenhaus 'St. Martin' in Chatham. Wenn sie mich verstehen können, könnten sie bitte kurz zwinkern? So ein oder zwei Male?", fragte Melina vorsichtig.

Und P1 zwinkerte- langsam zwar, aber bemüht, es zwei Mal bewusst zu zeigen.

Innerlich geriet Melina ein Wenig in Panik. Aufpassen auf einen Koma- Patienten war ja okay.

Aber was, wenn er dann plötzlich aufwacht?

Was macht man da?

Die Schwester! Virginia wird es wohl wissen! Sie muss her! Hierher!

Doch wo blieb sie?

Melina sah auf die Milchglasscheibe neben der Tür. Aber da huschte kein Schatten heran.

„Bitte bleiben sie einen kurzen Moment so, wie sie liegen. Ich hole die Stationsschwester herbei. Ja? Keine hastigen Bewegungen. Wir helfen Ihnen gleich gemeinsam."

Langsam zog sich Melina aus dem Sichtbereich des liegenden Patienten zurück.

'Mist! So ein Mist!', dachte Melina bei sich. 'Was nun?'

Jetzt wurde sie dann doch wieder schneller- kaum, dass der Patient sie nicht mehr sehen konnte. Im blinden Winkel angekommen, stürzte sie fast hektisch zur Tür herüber, sich nahe am Boden bewegend.

Auf dem Flur war keine Bewegung. Melina blickte nach oben- der stumme Alarm wurde durch die leuchtende Lampe aber signalisiert.

„Schwester Virginia? Schwester Ann?", rief Melina gedämpft in den Flur hinein.

Nicht aus dem Schwesternzimmer, sondern von genau der anderen Seite zum Ausgang hin, blickte die Stationsschwester Virginia aus einem der Zimmer.

„Was ist denn? Was Dringliches?"

„P1! Er ist wach geworden!", flüsterte Melina und ließ beim Flüstern ihrer Panik freien Gestik- Lauf. „Was soll ich jetzt tun?"

„Heute ist wirklich ein verrückter Tag, Mädchen! Geh zurück und achte darauf, dass er sich nicht die Schläuche und Sonden abzieht. Wenn er kann, soll er kurz liegen bleiben. Ich telefoniere mit Dr. Hull und komme dann." Während sich Virginia die blauen Einweg- Handschuhe auszog und in einen Mülleimer warf, wedelte sie zu Melina, wieder hinein zu gehen in die 101. Auch Virginia wurde dann schneller, rannte sogar die letzten Meter zum Schwesternzimmer, um sich dort das Telefon zu schnappen.

Melina ging unterdessen zu ihrem Patienten zurück.

P1 lag immer noch reglos auf seinem Bett und starrte in die Luft.

Melina räumte ihren kleinen Wohlfühlbereich schnell beiseite, während sie erzählte.

„Wir bitten sie um einen kleinen Moment Geduld. Die Stationsschwester ruft gerade nach einem diensthabenden Arzt aus und wird auch gleich zu Ihnen kommen. Bleiben sie bitte einfach erst einmal so liegen. Wir kümmern uns sofort um sie. Ich benötige allerdings noch den Arzt dazu, der Sie dann begutachten wird und die Entscheidungen trifft, wie es dann weitergeht."

„Hmm.", bestätigte P1.

'Habe ich das soeben wirklich gesagt?', fragte sich Melina innerlich. 'Das klang ja im hohem Maße professionell nach Krankenschwester.'

Virginia kam hinzu. Sie ging hastig ans Bett von P1, richtete sein Bettzeug schön her und begutachtete die Tropf- Infusionen. „Hallo, Mister Sutton. Ich bin Stationsschwester Virginia. Gleich wird der Arzt hinzukommen. Später sieht auch der Chefarzt, Herr Dr. Hull persönlich nach Ihnen. Er hat sich schon auf den Weg gemacht."

'Da war er, der feine Unterschied zu anderen Patienten.', dachte Melina Hargraves. 'Die Reichen werden sofort umsorgt- und in hohem Maße freundlich. Und der Chefarzt kommt früher? Sonst unvorstellbar.'

Dies war offenkundig, wenn Dr. Hull vor acht Uhr auf die Station kam. Dr. Hull war nicht unbedingt als Morgenmensch bekannt.

Genau! Sutton! So hieß P1 mit bürgerlichem Nachnamen. Jetzt fiel es auch Melina wieder ein, da es die Stationsschwester aussprach. Sie hatte es ja auch oft gelesen im Schwesternzimmer. Aber P1 klang bislang einfacher.

Und schon war Dr. Schryver auch schon im Raum. Schryver hatte ebenfalls Nachdienst, aber zumeist blieb er in der Notaufnahme und kam nur zu Notfällen auf die Intensivstation herauf.

Professionalität auch hier: „So. Guten Morgen. Dr. Schryver mein Name. Dann lassen sie mich mal sehen."

Einige Tests musste P1, also Herr Sutton über sich ergehen lassen. Lichtreflexe prüfen, Reaktionstests der Muskulatur und ähnliche Dinge. Irgendwann traf Dr. Schryver die Entscheidung, dass P1- Sutton wohl nicht mehr künstlich zu ernähren sei. Da die Reflexe gut seien und P1- Herr Sutton gut reagierte, könnte man annehmen, dass nach den Unterlagen die Verdauung auch wieder gut in Gang kommen würde. Letztliche Entscheidung sei jedoch dem Chefarzt zu überlassen. Allerdings könne man einige Anschlüsse schon entfernen.

P1- Sutton erduldete alle Untersuchungen seines kraftlos wirkenden Körpers ohne Widerstand. Freiheiten haben ihren Preis- und wenn dies nur auf ärztlichen oder chefärztlichen Ratschlag geht, dann erst recht.

Beiläufig nahm Stationsschwester Virginia Melina auf dem Flur einmal kurz beiseite. „Hast Du irgendetwas besonderes gemacht?"

„Nein. Ich doch nicht. Ich habe ihm aus 'Stolz und Vorurteil' vorgelesen- mehr nicht."

„Okay? Ich denke nicht, dass ihm Jane Austin schlecht bekommen ist.Wird ihm nicht geschadet haben. Es war wohl einfach an der Zeit, wieder aufzuwachen."

Virginia schien beruhigt.

'Was hatte sie denn erwartet? Dass ich Tuba spiele am Bett des Patienten?', dachte sich Melina Hargraves fast beleidigt- aber manchmal muss man seine Gedanken für sich behalten. Und wenn es nur um die Bewertung des Praktikums ging, die ja zeitnah anstand.

Während Melina mit Stationsschwester Virginia auf dem Flur stand und Dr. Schryver die Untersuchungen vornahm, da schien es so, als wenn P1 nach Melina sah. Das konnte aber auch nur so scheinen, da Dr. Schryver ihn etwas seitlicher gelagert hatte, um den Rücken des Patienten zu untersuchen.

Melina jedoch erwiderte den vermuteten Blick ihrerseits.

Es war schon seltsam, wie P1 sie mit seinen trüben Augen und mit all den Schläuchen gerade ansah. Was in P1 wohl vorging?

Dr. Schryver stellte fest, was der Chefarzt Dr. Hull eine Stunde danach ebenfalls mitteilte.

„Also Herr Sutton. Ihnen geht es augenscheinlich gut. Natürlich werden sie sich nach all der Liegezeit sehr schlapp fühlen. Das ist eine ganz normale Sache. Wir bauen sie schon wieder auf, das ist keine lange Angelegenheit- aber medizinisch dennoch notwendig."

Der Chefarzt machte noch bekannt, dass die Sondenernährung und verschiedene Tropfe entbehrlich erscheinen- aber dafür ein Multivitamin- Cocktail als Transfusion gegeben werden, ebenso etwas Kortison gegen mögliche Schwindel- Empfindungen und ein Paket an Untersuchungen anstehe."

Diese Diagnosen zu P1 waren gegen 06:30 Uhr dann auch die letzten Informationen, welche Melina Hargraves nach der überzogenen Nachtschicht- Dienstzeit noch hörte, bevor sie sich übernächtigt nach Hause begab.

Damit waren die schönen ruhigen Zeiten der P1- Patientenaufsicht und der angenehmen Vorlese- Stunden wohl für Melina vorbei ab dieser Nacht.

Adieu ruhige Aufsichtszeit- und willkommen normale Arbeitshektik.

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