Eine Frau zu Rad
Melina Hargraves hatte den Tag auf dem 'Corbanien House' Anwesen hinter sich gebracht. Mit dem Rad fuhr sie abseits den Radweg an der flachen Wasserkante der Nordsee entlang in Richtung Chatham.
Feierabend!
Endlich.
Genug Betreuung von Frank Sutton für einen weiteren Tag.
Genug Frank Sutton?
Das klang in Melinas eigener Gedankenwelt etwas seltsam. Doch warum?
Frank Sutton war ein seltsamer Mensch- und Patient zudem.
Im Krankenhaus hatte Melina ja immer diese Barriere des Koma zwischen sich und dem Patienten P1.
Doch nun?
P1 war auch kaum noch Patient Sutton- er war für Melina über die vielen Wochen hinweg schon eher wie ein guter Bekannter- ja zu einem guten Freund geworden.
Und die anfängliche Distanz zu 'dem reichen Snob' und sogar Klinikum- Anteilseigner?
Da Melina nun Frank Suttons Leben Tag um Tag miterlebte: Einen Snob- Moment hatte Melina Hargraves noch nie bei Frank Sutton erlebt. Und das er in der Klinik etwas zu sagen hatte? Dies war nur einmal aufgeblitzt, als es Frank Sutton wohl wichtig war, zu Hause betreut zu werden. Und dies von einer 'Krankenschwester' seiner Wahl und seines Vertrauens. Dann war es nie wieder Thema.
Frank Sutton ist... irgendwie ein ganz normaler Typ geblieben.
Stinkreich? Ja. Aber nicht abgehoben, auch wenn es sein Kontostand ihm sicherlich erlauben würde.
Als Patient ist er mustergültig. Macht alles mit, folgt allen Anweisungen.
Mittlerweile- und dies besorgte Melina ein wenig- mittlerweile war eigentlich schon der Punkt erreicht, an dem sie ihr vorgesehenes 'Betreuen und Überwachen' beenden müsste, wenngleich derlei zu keinem Zeitpunkt thematisiert worden ist. Die Frage stand noch nie im Raum.
Und dann?
Zurück ins 'St. Martins'. Stationsdienst bei Schwester Claudia und den anderen.
Aber war das gut? Würde es vielleicht Gerede geben?
Bestimmt würde es Gerede geben. Sie wären keine Mädchen und Frauen, wenn es kein Gerede geben würde.
Ach was soll es. Abwarten.
Und Frank?
Er würde körperlich klarkommen.
Aber da war noch etwas, was Melina an dieser Vorstellung störte: Sie würde dann Frank Sutton nicht mehr sehen können. Jeder wieder an den Platz, den das Schicksal für ihn bestimmt hatte.
Irgendwie kam Melina bei dieser Vorstellung ein Zitat aus einem Jane Austin Roman in den Kopf.
Da sagte die Tante zu Elisabeth Bennet beiläufig auf dem Ausflug in die Berge etwas über Mister Darcy, was Melina irgendwie für einen Moment durch den Kopf schoss: „Er hat so einen angenehmen Zug um den Mund, wenn er spricht."
Und wohin dies für Elisabeth Bennet im Roman führte ist ja bekannt- tiefversunkene und auf ewig gestandene gegenseitig beruhende Liebe!
Melina stoppte ihr Fahrrad abrupt.
Was es das?
War sie selbst auf dem besten Wege, sich in Frank Sutton zu verlieben?
Gedankenversunken standen Melina und ihr Fahrrad auf dem Radweg an der breiten Schilfkante. Ein frischer Wind fuhr durch ihr Haar.
Weiter vorn lag die Silhouette von Chatham. Vom Glockenturm der Stadt war das Geläut einer vollen Stunde zu hören. Nachhallend und schwer kam das Geräusch zu Melina herüber über die weiten flachen Flächen. Als wollten diese Glocken zu ihr sprechen, ihr etwas zuflüstern oder sie wachrütteln.
So erschien es Melina jedenfalls.
Und in diesem Moment des Stillstandes- ohne Bewegung des Fahrrads und des eigenen Körpers darauf- ließ eine gedankenversunkene junge Frau mit Namen Melina Hargraves diese wachrüttelnde Botschaft der Glocken von Chatham auf sich wirken. Hierbei hatte sie ihren Blick über die breiten Schilfhalm- Felder gerichtet, die sich in Wellen zum Gesang von Wind und Glockenschlag zu bewegen schienen.
Melina kratzte sich sacht am Kinn, stützte sich danach auf den Lenker auf, um wieder Fahrt mit dem Fahrrad aufzunehmen.
Und wieder fiel ihr ein Zitat ein- allerdings in einem anderen Kontext ausgesprochen und bislang durch keine Autoren niedergeschrieben.
Es waren die Worte eines älteren Mannes.
Kein Geringerer als der siebenundachtzig Jahre alte ehemalige Dockarbeiter William Weston hatte sie vor geraumer Zeit in seinem Krankenbett im 'St. Martins' liegend ausgesprochen, als Melina Hargraves in ihrer Praktika- Zeit auf der Intensivstation mit flinken Schritte damit beschäftigt war, ihm hastig eine Ente zum Wasserlassen herbei zu schaffen. Mister Weston hatte damals lautfluchend nur noch gesagt: „Mist! Das war jetzt unerwartet!"
Und genau diese Worte gingen Melina jetzt auf ihrer Weiterfahrt nach Hause nicht mehr aus dem Kopf.
'Mist! Das war jetzt unerwartet!'
Genau diese Worte gaben wieder, was Melina in ihren Gedanken darüber, ob sie etwas für Frank Sutton empfand, geradeheraus dachte und für sich einschätzte.
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