Eine erste Art von Genesung

Frank Sutton machte weiterhin gute Fortschritte.

Melina Hargraves war zufrieden mit dem Genesungsprozess ihrer Patienten. Die unorthodoxe Betreuungsform, die dem Patienten in seinem Anwesen zuteilwurde, sorgte für eine weitere Kräftigung der Muskulatur- und auch für die Beruhigung von Melinas Anspannung.

Melina hatte anfänglich ihre Zweifel, ob die Betreuungsweise Erfolge bringen könnte. Und sie war in Sorge, dass den Patienten Frank Sutton ein Rückfall- egal welchen Ursprunges gesetzt oder welcher Wirkung in der Folge- ereilen könnte. Stetig- und fast schon zu viel- führte sie Blutdruckmessungen durch, dokumentierte alle Behandlungen und Übungen.

Eine von Melina's eigenverantwortlich festgelegte Übung für das Erinnerungsvermögen war das Durchblättern alter Fotoalben, die gut sortiert in der kleinen Bibliothekswand eines Raumes im Erdgeschoss von 'Corbanien House' gefunden wurden.

Melina hatte sich hierfür mit Frank Sutton viel Zeit genommen. Sie forderte Frank Sutton auf, zu jedem Bild seine Erinnerungen dazu zu erzählen, aber auch offen und ehrlich mitzuteilen, wenn dem Patienten keine Erinnerung zum Foto ins Gedächtnis zurückkommt.

Dieses 'Kramen' in Erinnerungen brachte Vieles aus Franks Kindheit und Jugend zu Tage. Ausflüge mit der Familie- oftmals auch nur in das Umfeld von Chatham, familiäre Anlässe und Feiern, Schulfreunde, Schulabschluss, erste Freundinnen, Studium, Reisen.

Ein Foto- wohl aus den letzten Semestern stammend- behielt Frank Sutton sehr lange in der Hand. Er betrachtete es, wie versteinert und auf die Sache fixiert.

Melina ließ den Patienten gewähren. Sie wollte keinen übermäßigen Druck auf Frank Sutton aufbauen- Frank sollte versuchen, freiwillig über die Situation und Erinnerungen zu reden. Zuweilen kamen die Informationen schnell und zeugten von guter Erinnerungsfähigkeit, in anderen Momenten überlegte Frank Sutton auch einmal länger, bevor er Antwort gab.

„Dieser Abend?" Frank Sutton verlor sich beim Anblicken des Fotos mit einem Male in seiner Erinnerung. Das Foto zeigte drei Männer- darunter Frank- und zwei junge Frauen, die offenbar ausgelassen waren, vielleicht auch scherzten.

„Melina, dieser Abend hatte eine besondere Bedeutung. Peter, Ben und ich wollten einfach mal feiern und abschalten. Billard spielen oder irgendwo ein paar Dartpfeile werfen. Peter und ich hatten die Prüfungen hinter uns gebracht, wir hatten nur noch mündlich das Leitthema zu verteidigen. Wir hatten seit langem ein kleines Zeitfenster, wo wir einfach einmal alles abfallen lassen wollten. Benjamin Brown haben wir überredet, denn er hatte am Tage darauf noch eine Unterredung mit seinem Tudor. Aber letztlich hat er sich nicht lange geziert. Wir sind extra einmal weg vom Campus, um nicht immer nur dieselben Gesichter im Studentenkeller sehen zu müssen. Da sind wir irgendwie in dieser Kneipe nahe der Pädagogischen Hochschule gelandet. Wir sehen von außerhalb hinein- die Darts- Scheibe war augenscheinlich frei. Wir also rein, bestellen unsere Sachen, und ab zum Darts. Doch da waren diese zwei Mädchen. Peter bettelte die Beiden förmlich an, doch mitmachen zu dürfen- er würde auch aufschreiben für die Mädels. Und wir spielen und spielen- und irgendwann hatte Peter von dieser jungen Dame die Anschrift. Ja. Wie das Leben und das Schicksal so spielt: Lydia ist heute seine Ehefrau, beide haben eine Tochter und die Zweite hier, Cynthia, ist heute seine Schwägerin. Die Mädels waren Schwestern, wie sich herausstellte."

Nach einem kurzen Moment der Ruhe fragte Melina, was ihr Patient fühlt, wenn er dieses Bild betrachtet.

„Zufriedenheit. Ungezwungenheit. Einfach nur einen tollen Abend haben wollen- von allen, die den Abend dabei waren. Das Foto hat der Barmann von Uns gemacht. Das war, wie angenehmes feiern im Familienkreis- vom ersten Moment an. War ein toller Abend."

Frank Sutton ließ nicht ab von dem Bild, er war wie gebannt davon.

„Ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, weshalb und aus welchem Grund unser Peter einfach so abtaucht und verschwindet. So wie ich Peter kenne? Das wäre nicht sein Stil. Er hat schon bei kleineren Verspätungen, wenn wir mit irgendeinem Problem beschäftigt waren, seine Lydia angerufen und um Verständnis gebeten. Die zwei sind wie Fisch und Wasser- keiner kann mehr ohne den Anderen sein. Das passt nicht zu Peter, einfach so Lydia und die Kleine ohne eine Information sitzen zu lassen und sich bei ihr nicht wenigstens zu melden. Das klingt so gar nicht nach Peter Bellamy."

Melina Hargraves folgte einem Bauchgefühl, als sie Frank einen Vorschlag unterbreitete.

„Und wenn Du einfach mal bei ihr anrufst? Ich habe den Eindruck, dass dies vielleicht euch Beiden vielleicht helfen kann. Dieser Frau, Lydia, würde es vielleicht ja auch guttun, zu reden. Über alte Zeiten, ihren Mann, wie es ihr erging? Würde ich an ihrer Stelle sein, dann würde mir vielleicht so etwas helfen- irgendwie zumindest. Für Dich wäre dies vielleicht auch eine gute Therapieform- du setzt Dich mit deiner Vergangenheit vor deinem Unfall oder Koma auseinander. Es ist natürlich in erster Linie deine Entscheidung."

„Ja. Aber ich bin unschlüssig. Ich weiß ja nicht, wie sie es aufnimmt. Nicht dass sie mir Vorwürfe macht, weil Peter weg ist. Das könnte ja sein."

„Frank, dann sag ihr das auch. Es weiß doch niemand, was geschehen ist. Aber ich will keine Radikalkur, okay? Nur annähern an das Problem- so, wie wir es in den letzten Wochen immer wieder probiert haben. Wenn Du erkennst, dass das Gespräch in eine Richtung geht, welche Dir nicht guttut, dann brich es ab oder gib mir ein Zeichen."

Frank Sutton holte tief Luft und pustete lange die Luft aus den Lungen aus. Dann machte er große, aufgerissene Augen.

„Probieren wir es?", fragte Frank rückversichernd.

Melina zuckte mit den Schultern.

„Versuch macht klug, wie es so schön heißt."

„Okay. Dann versuche ich es."

Frank Sutton nahm all seinen Mut zusammen. Mit Schritten, welche sich schwer anfühlten ging er in den großen Flur, wo ein Festnetzgerät in der Halterung steckte. Er suchte über die Wipptaste darauf nach der richtigen Eintragung.

„Gut. Dann will ich mal."

Bevor er auf die Anruftaste drückte, atmete er erneut lang und tief ein und prustete ebenso lange aus. Dann drückte er die Nummernwahl.

„Hallo Lydia? Ich bin es, Frank."

Frank Sutton war zu Beginn des Telefonats anzusehen, dass er sich wohl unwohl fühlte. Die Frau, also Lydia Bellamy, schien jedoch erleichtert am Telefon, von Frank zu hören- so jedenfalls schätzte es Melina Hargraves ein.

„Ja, ich weiß. Du Arme. Ist sicher eine schwere Zeit für Euch seither. Und Paula? Kann sie damit umgehen?"

Frank wurde ruhiger- Melina konnte es ihm deutlich ansehen. Sie redeten lange und auch vertraut- ohne groß erkennbare Distanziertheit oder Vorhaltungen.

„Na klar. Das klingt doch super. Was? Nein, fahren darf ich noch nicht selbst. Da haben die Ärzte und sicherlich auch die Bobbies etwas dagegen. .... Hmm? .... Ja? Sicher. Das können wir doch so machen. Ist eine tolle Idee. Ich freu mich. .... Gut. Okay? Dann machen wir das so. Kommt einfach gleich heute Nachmittag vorbei. Das Wetter ist gut. Da gehen wir in den Park. ... Nein. Habe ich nicht. Wenn du da was für Paula mitbringen würdest, wäre das besser. ... Fein. Schön. Dann bis nachher."

Frank Sutton legte auf. Ganz ruhig stand er da und starrte das Telefon an.

Melina Hargraves war neugierig. „Und? Das klang doch alles nett, oder?"

„Ja. War letzten Endes Einfacher mit ihr zu sprechen, als ich es befürchtet hatte. Das tat echt gut. Sie will auch heute gleich am Nachmittag vorbeikommen. Ein wenig Quatschen, Kaffee trinken.", erklärte Frank Sutton- seinen Blick immer noch auf das Telefon gebannt.

„Und? Wie geht es Dir jetzt? Wie denkst du darüber?"

„Gut. Irgendwie gut. Befreiend, wenn ich es beschreiben müsste. Ich habe das Gefühl, dass dieses Telefonat mehr als überfällig war."

„Das ist okay so. Ein wichtiger Schritt. Und wenn sie heute Nachmittag kommen, dann gehst du den nächsten Schritt. Wie ich es dir gesagt habe Frank, ein Schritt nach dem anderen. Immer 'Step by Step'. So wird das schon wieder. So bekommen wir das gemeinsam hin. In die richtige Richtung, du wirst sehen."

„Ja. Ich finde auch okay so. Ich glaube, dass passt."

Frank Sutton blickte mit einem leichten Lächeln zu Melina herüber, die sich an den Türpfosten anlehnte.

„Dann werde ich mal Frau Singh bitten, uns irgendwas zum Kaffee zu besorgen. Ein paar Kekse- mit Schokolade. Für Paula. Und vielleicht mal etwas Blätterteig. Nur kein Clotted Creme, da wird mir jedes Mal sowas von übel von.", überlegte Frank.

„Klingt nach einem guten Plan."

Melina war es zufrieden. Frank Sutton- also ihr Patient- traf Überlegungen, wobei er sich aktiv mit seinen Erinnerungen auseinandersetzte und begann, wieder Entscheidungen zu treffen.

„Ach Melina? Eines noch. Ich hätte Dich gern dabei, heute Nachmittag. Vielleicht kannst Du Paula ein wenig bespaßen. Dann kann ich vielleicht auch mal mit Lydia unter vier Augen reden. Ich weiß, dass es damit für Dich heute länger geht. Aber, wenn du dies machen würdest? Wäre schön. Du könntest dich dann gern morgen zurücknehmen- mach dann einfach mal nur bis Mittag."

„Okay? Können wir machen. Ist ja eine Ausnahme. Und letztlich habe ich es ja auch irgendwie eingerührt."

Melina Hargraves zeigte Verständnis. Es war ja im Sinn der Sache zielführend. Sollte Frank Sutton im Rahmen des Besuches ein Problem bekommen, einen Flash oder irgendeine andere unvorhersehbare Reaktion, so war sie- als beauftragte Krankenschwester da. Und mit einem Kind- das würde sie schon irgendwie händeln.

Am Nachmittag fuhr ein großer Range Rover SUV vor.

Eine mittelgroße Frau mit schulterlanger brünetter Schüttelfrisur stieg aus, musterte 'Corbanien House' kurz, winkte Frank Sutton zu und begab sich dann zur hinteren Beifahrerseite, um ihr Kind abzuschnallen.

Melina Hargraves stand neben Frank Sutton, hatte sich aber bewusst zurückgenommen, da Lydia Bellamy ja 'sein Besuch' ist.

Lydia Bellamy machte auf Melina- abgesehen von der Größe und dem Wert des Autos- nicht den Eindruck einer wohlhabenden Frau. Sie schien eigentlich recht normal aufzutreten im ersten Eindruck. Als Mutter sofort um ihr Kind bemüht- und auch ein wenig abgespannt von der Fahrt.

Hand in Hand kamen Mutter und Tochter zum Eingang.

„Na, mein Schöner? Wie geht's Dir? Och- London im Berufsverkehr. Alle wollen nach Hause, oder einkaufen oder aus der Stadt. Gefühlt ein Horror. Paula hat es verschlafen, aber ich musste schon ordentlich aufpassen." Mit Küsschen links und rechts und einem Drücker wurde Frank Sutton von Lydia Bellamy begrüßt.

„Danke. Es geht so. Braucht aber wohl noch eine Weile. Und damit ich wieder werde- darf ich vorstellen? Schwester Melina Hargraves vom 'St. Martins Hospital', die mir dabei hilft. Sie würde sich um Paula kümmern. Dann können wir auch einmal ein paar Schritte gehen und einfach mal reden.", stellte Frank Sutton vor und beschrieb schon kurz das Programm des Nachmittags.

„Hallo."

Melina stellte sich vor- und gleich mit Handschlag wurde sie von Lydia Bellamy begrüßt.

Lydia Bellamy klopfte auf den Deckel einer bunten Ledertasche, deren dicken Riemen sie über die Schulter zur rechten Seite trug.

„Frank denkt wieder Mal an alles, habe ich den Eindruck. Einmal Perfektionist- immer Perfektionist." Lydia lächelte dabei Melina aufmunternd zu. „Mein Mäuschen ist gerade in der 'Male- Phase', deshalb habe ich ihre Malsachen gleich einmal mitgebracht."

„Ja. Ich male alles und Jeden. Am liebsten Pferde. Onkel Frank? Hast Du Pferde zum Abzeichnen?" Die kleine Paula fremdelte nicht.

Frank Sutton schüttelte den Kopf. „Nein Paula. Tolle Pferde habe ich nicht. Du kannst aber vom Garten aus Schiffe sehen. Vielleicht möchtest du die Schiffe malen. Oder Bäume?"

Melina ging auf erste Tuchfühlung zu Paula. „Weist du? Ich bin Krankenschwester. Ich würde mich freuen, wenn du ein Porträt von mir anfertigst. Ich habe noch kein Bild von mir. Dann hätte ich eine schöne Erinnerung an unser erstes Kennenlernen. Würdest Du mir diese Freude machen?"

„Ja? Dann must du aber stillsitzen."

„Ich versuche es. Und wenn ich zappelig werde, dann musst du es mir aber sagen."

„Na gut."

Das Eis war wohl schon gebrochen.

„Kommt. Lasst uns hinters Haus gehen. Frau Singh hat uns dort schon ein schönes Plätzchen vorbereitet. Für Uns mit Kaffee. Und Paula? Bananenmilch? Okay?"

Alle schienen mit dem Vorschlag zufrieden. So ging man in den Park.

Lydia ließ sich erzählen, wie es Frank Sutton so erging. Sie ließ sich beschreiben, wie Frank sich im Koma fühlte und erfragte, wie es um sein Erinnerungsvermögen bestellt sei. Das es damit nicht weit her sei und viele Bausteine immer noch fehlen, bedauerte Lydia Bellamy erkennbar.

Unspektakulär setzte man sich zusammen und genoss den warmen Nachmittag im Schatten der großen Bäume.

Als Paula irgendwann anfragte, wann man denn mit dem Porträt von Melina beginnen wollte, wurde klar, dass die Zeit gekommen war, sich dafür bereit zu stellen.

„Wollen wir ein Stück gehen? Zum Bootsanleger?", fragte Frank Sutton.

„Ja, das machen wir. Gehen wir ein wenig. Paula ist versorgt, Danke."

Lydia und Frank Sutton schlenderten langsam in einem weit ausholenden Bogen zwischen den Bäumen entlang mit Richtung des Steges am Wasser. Ab und an blieben sie stehen in ihrer Unterhaltung- dann schlenderten sie weiter.

Unumgänglich fragte Lydia nach, ob sich Frank Sutton an den Abend bei S&B in der Zentrale erinnern kann. Sie sagte auch, dass sie es nicht verstehen kann, dass ihr Ehemann und Paulas Vater so einfach verschwindet- die Zelte ohne eine Nachricht abgebrochen haben soll und seither verschwunden ist.

„Keine Nachricht von Peter?", fragte Frank nach.

„Keine! Nicht eine! Und das ist eben der Punkt, den ich nicht verstehen kann.", Lydia Bellamy wirkte davon sehr betroffen. „War eine sehr schwere Zeit für Uns."

„Das glaube ich Dir sofort."

„Weißt Du, wie das ist? Du musst auf die Polizeiwache und denen dort sagen, dass Dein Mann nicht nach Hause gekommen ist? Alles- wirklich alles musst Du denen dann erzählen. Und du hast immer das Gefühl, dass dir selbst dann noch nicht richtig zugehört wird. Ob Peter 'Damenbekanntschaften' habe! Du kennst Peter- da war nie etwas in dieser Richtung."

„Ja. Kann ich mir auch nicht vorstellen. Er vergöttert Dich und Paula. Schon immer."

„Ob so etwas schon öfter vorgefallen ist- Nein sage ich! Und selbst dann bohren sie weiter. Welche Immobilien wir haben, wo er sich gern aufhält im Normalfall? Ob ich seinen Rückzugsort kenne? Ja. Ich kenne seinen Rückzugsort, sagte ich dem Polizisten. Peters Rückzugsort waren wir- die Familie. Unser Haus! Das war sein Rückzugsort. Und dann dieses Warten! Jeden Tag warten wir- Paula und ich. Auf Peter, eine Nachricht von ihm, sogar auf irgendeine Info der Polizei, dass er gesehen wurde. Peter ist jetzt seit fast neun Monaten zur Personenfahndung als Vermisster ausgeschrieben."

Über das Gespräch hinweg hatten es Lydia und Frank geschafft, den Bootsteg zu erreichen.

Lydia ergriff unverhofft Franks Hände und blickte ihn fest und fragend an.

„Frank? Du weißt, was sie in der Firma reden? Selbst die Polizei glaubt die Version, dass ihr Zwei in Streit geraten seid, Peter dich dann niedergeschlagen haben soll? Und dann könnte Peter wohl so ein schlechtes Gewissen bekommen haben- weil er dann wohl gedacht hat, dich erschlagen zu haben, dass er sich entschieden hat, unbemerkt abzutauchen?"

„Ja. Ich kenne das Gerede.", räumte Frank Sutton offen ein.

Lydia blieb ernst. „Aber glaubst Du diesen Mist? Glaubst Du, dass Peter Dich im Streit ausgeknockt hat? Einfach abhaut?"

Frank Sutton schüttelte den Kopf. Ein Windhauch von der See fuhr durch seine Haare.

„Lydia, wir kennen uns gefühlt ewig- wir alle. Das ist wie Familie- für mich jedenfalls. Wir reden, ja. Wir diskutieren, ja. Wir sind vielleicht auch einmal unterschiedlicher Meinungen, ja. Aber ich mag nicht glauben, dass Peter und ich uns handfest wegen irgendetwas herumschlagen und er mir dann so heftig eine über den Schädel zieht, dass ich auf Ewigkeiten Sterne sehen muss."

„Eben!", bestätigte Lydia Bellamy. „Und selbst wenn es so war- Peter hätte dann einen Fehler gemacht, der vermeidbar gewesen wäre. Und Peter hätte dies bereut und dir einen Krankenwagen besorgt und Dich nicht in einer Blutlache im Besprechungsraum liegen lassen- ohne Hilfe. Mann, Frank- ihr zwei seit wie Brüder. Und wenn es ums Geschäftliche ging? Egal! Er hätte Dir geholfen. Peter würde das doch nicht so beendet, oder?"

„Glaub ich auch nicht. Ich stimme dir da eigentlich zu. Und der Hauch von Zweifel, denn ich vielleicht irgendwo in mir daran hätte, kann von mir auch nicht entkräftet werden. Ich erinnere mich wirklich an gar nichts, was den Abend angeht. Der Abend- und viele andere Dinge- sind wie ausgelöscht."

Frank Sutton löste sich aus dem Händchenhalten und fasste sich an den Hinterkopf.

„Lydia? Die Polizei war bei mir. Gerade als ich frisch erwacht war. Sie stellten Fragen zu Peter und dem Abend. Ich konnte denen nichts sagen. Gar nichts. Sei darüber nicht erzürnt. Im Kopf besteht wirklich sehr viel Leere im Moment."

„Ist gut."

Frank wollte zumindest auch seine Frage loswerden. „Und Peter hat sich nie gemeldet? Kein Anruf? Kein Zettel? Kein Brief oder Hinweis?"

„Nichts. Keine Zeile, kein Wort!" Lydia Bellamy hatte mit Tränen zu ringen.

„Ach komm schon Lydia. Der Lump wird sich schon irgendwann melden. Dann sagen wir uns alle die Meinung- und damit ist es dann auch wieder gut, oder?"

„Wenn es nur so einfach wäre. Paula versteht das Ganze überhaupt nicht."

„Wegen unserer Arbeit werden wir uns doch nicht kaputt machen gegenseitig."

„Die Arbeit. Ben war am Anfang zweimal die Woche bei Uns zu Hause und hat uns versichert, dass Uns die Firma nicht im Stich lässt. Egal was mit Peter ist- wir seien abgesichert. Die Firma sorgt für Uns, sagte er immer wieder. Aber mir ist das egal. Ich will nur meinen Mann zurück. Paula braucht ihren Vater. Das Geld der Firma ist mir doch egal. Notfalls gehe ich wieder als Lehrerin jobben. Aber Ben immer- das wird schon. Am Geld soll es nicht scheitern, bla bla bla."

Lydia hatte mittlerweile ein Taschentuch bei der Hand und trocknete unter den Augen ab, bevor sich lang ins Taschentuch hinein schnupfte.

Nach einiger Weile hatte sich Lydia beruhigt. „Komm. Lass uns zurückgehen."

Beim Zurückflanieren fiel der Blick von Lydia Bellamy auf Melina, die Krankenschwester.

„Ist da etwas zwischen Euch? Sie scheint ja eine recht vernünftige Frau zu sein, oder?"

„Melina? Ja, Melina ist eine Seele von Mensch. Super nett und auch immer ehrlich. Sie macht einen guten Job, um mich wieder zurück ins Leben zu bringen.", erklärte Frank.

„Und sonst?", hakte Lydia Bellamy nach.

„Nichts sonst. Ich denke, Melina sieht meine Betreuung nur sachlich."

„Sachlich. Und du?"

Frank Sutton schien ein wenig Hitze ins Gesicht zu steigen. „Sachlich. Sie wäre schon mein Typ, aber- keine Ahnung?"

„Wäre doch zur Abwechslung auch mal schön, wenn du mal ein wenig persönlichen Erfolg haben würdest- neben dem Beruflichen, meine ich.", steuerte Lydia Bellamy die Unterhaltung ein wenig. „Sie ist eine Nette."

Frank Sutton pustete lang aus. Er sagte nichts dazu.

Nur: „Schön, dass ihr mal vorbeigekommen seid.", kam über Frank Suttons Lippen.

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