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Für Melina Hargraves war es kaum nachvollziehbar, was die britische Presse für ein übersteigertes Interesse an P1- Frank Sutton zeigte. Dennoch hatte sie sich mehrere Zeitungsartikel aufgehoben.
Einige Artikel beleuchteten die Vergangenheit von Frank Sutton, wieder andere Kommentare verloren sich in wilden Spekulationen über seinen Klinikaufenthalt. Andere Artikel befassten sich mit seinem kaum bekannten Privatleben und Artikel der vorigen Woche führten kurz aus, dass Frank Sutton Besuche von Anwälten und auch Scotland Yard im 'St. Martins' gehabt hat.
Es war für Melina irritierend, aber sie fand an P1- Sutton irgendwie auch Interesse. Nicht nur, weil sie den eigenartigen Koma- Fall an der 'Medwey' vorgestellt hatte. Es war vielleicht der innere Reiz der Situation, eine Art von speziellem Nervenkitzel. Sie konnte es für sich sehr schlecht erfassen, was es für Emotionen waren. Und eben dies machte es ein Stück weit noch interessanter.
Frank Sutton entsprach auch so überhaupt nicht dem Bild, was Melina selbst von einem 'Superreichen' hatte. Herr Sutton war freundlich, höflich und wohl auch recht bodenständig geblieben. Er wirkte wie ein guter Nachbar oder Jemand, den man zufällig im Supermarkt oder im Park kennen gelernt hat.
Viel mehr noch- und vermutlich war es Frank Suttons Verdienst- hatte Melina Hargraves bereits jetzt, vorzeitig und ohne sich weiter selbst bemühen zu müssen, eine Übernahmeerklärung auf eine Festanstellung als MTA für Funktionsassistenz/ Diagnostik nach bestandener theoretischer Prüfungen als Vorvertrag über das Rektoratsbüro der 'Medwey Medical School' gegen Unterschrift übergeben bekommen. Ein Novum!
Wohl auch aus diesem letzteren Grunde heraus, war in Melina Hargraves der Wunsch entstanden, bei einem Besuch ihrer alten Dienstschicht auch P1- Sutton zu besuchen und sich dafür zu bedanken.
Daher hatte Melina heute nach dem langen Unterrichtstag ihr Fahrrad nicht nach Hause, sondern zum 'St. Martins' gelenkt. Hier wollte sie ihrer Praktikums- Dienstschicht, aber auch dem Patienten 1- Sutton einen Besuch abstatten.
Für die Schwestern hatte sie kleine Nougat- Hörnchen eingekauft und hoffte, damit einige zukünftige Kolleginnen zufrieden zu stellen. Man hatte sie sehr gut aufgenommen. Die Einteilung ins Team hat gepasst. Als Ansprechpartner und Lehrschwester hatte die Stationsschwester Virginia einen super Job gemacht- sie forderte manchmal zwar viel, war sich aber auch nicht zu schade, zu loben. Virginia war eine gute und sehr ehrliche Frau.
Da man Melina wohl noch kannte, musste sie sich auch nicht langen Prozeduren an der Aufnahme aussetzen. Mit dem Hinweis: „Ich besuche nur einmal ganz kurz meine Kolleginnen der ITS. Ich habe mich dort bei der Stationsschwester Virginia angekündigt. Ich bringe dort nur kurz etwas vorbei und bin in 10 Minuten wieder draußen.", hatte sich Melina dort schnell entpflichtet und ein Kopfnicken des Wohlwollens erhalten.
Dennoch hatte sie sich an der Schleuse ungefragt in Kittel und Schuhüberzieher geworfen, wie man es hier als guter Besucher so machen muss, bevor man klingelte.
Schwester Virginia öffnete selbst. „Na Melina? Meine Gute? Hast Dir aber auch einen schlechten Tag für deinen Besuch ausgewählt. Wir haben erst zwei Stunden Dienst, aber es ist die Hölle los. Doch komm erstmal rein."
Die Tüte mit Nougat- Hörnchen fand guten Absatz im Schwesternzimmer, wenngleich sich kaum Zeit für nette Unterhaltungen bot. Dennoch bekam Melina Worte des Dankes für die schöne gemeinsame Zeit und Lob für die Auswahl der Leckerei. Die Schwestern schnappten sich nur nebenbei einmal flüchtig ein Stück.
Stationsschwester Virginia erklärte Melina, dass eine Kollegin kurzfristig ausgefallen sei, man ihre Hilfe gut benötigen würde und das sie vermisst werde- auch wegen ihrer Fröhlichkeit.
Irgendwann stellte Melina dann auch fast beiläufig die Fragen, die ihr auf den Lippen lagen: „Und? Wie geht es P1? Was gibt es da Neues? Macht er sich?"
„P1? Ich denke, dem geht es gut. Sieht viel Fern und hat die Essensumstellungen gut verkraftet. Ich hätte ihn am Liebsten ja irgendwie aus der Station auf eine normale Station verlegt, aber die Ärzte wollen ihn unter Aufsicht halten.", erklärte die Stationsschwester und tauchte das Hörnchen in ihren Kaffeebecher ein.
„Er hatte vorgestern in der Frühschicht eine Menge Besuch. Anwälte und Polizei waren da."
„Polizei? Wirklich? Stimmt, ich hatte da irgendwas gelesen."
„Ja. Denke Dir mal- das hat bestimmt mit der Ursache des Komas von P1 zu tun. Sie sollen aber nur kurz dagewesen sein- die Polizei meine ich."
„Aber er macht sich?", hakte Melina interessiert nach.
„Ja. Er macht sich. Körperlich bekommen wir ihn schon hin. Wie es in seinem Oberstübchen aussieht, dass wird sicherlich noch länger andauern. Aber das ist ja nicht unsere Baustelle, oder?"
„Gewiss nicht."
„Kannst dich ja einmal kurz zeigen bei P1. Vielleicht schläft er ja wieder.", empfahl Virginia.
„Okay, dann will ich das mal tun. Ich muss soundso nach Hause und wollte nur einmal kurz 'Hallo' sagen- bei Euch, meine ich."
Melina hoffte, dass sie nicht rot wurde. Sie konnte auch Virginia gegenüber noch nichts davon erzählen, dass sie die Zusage bereits hatte- vorbehaltlich ihres Abschlusses natürlich. Es war noch zu früh, um damit Hausieren zu gehen.
Virginia verabschiedete sich mit einem Drücker, einer herzlich wirkenden Umarmung. Dazu gab sie den Hinweis, nicht Dr. Hull in die Arme zu laufen.
Vor anderen Patienten unbeachtet ging sie zum Ausgang, kam aber am Zimmer von P1- Sutton vorbei. Sutton sah in der Tat müde aus, aber er blickte auf die Abwechslung, welche den Alltag ein wenig aufhellte- die Abwechslung in Persona von Melina Hargraves.
„Praktikantin Melina? Schön sie zu sehen. Es ist zuweilen sehr langweilig hier- jetzt, nachdem sie nicht mehr hier über mich wachen müssen. Kommen sie. Wie geht es Ihnen?", fragte P1- Sutton, sich aufrecht hinsetzend.
„Danke der Nachfrage. Ich habe gerade bei meiner alten Dienstschicht vorbeigesehen. Bei Ihnen ist alles gut? Kommen sie jetzt besser zurecht?"
„Ich werde schon. Nebenbei gesagt, ich kann sogar schon einige Schritte gehen unter Beobachtung. Das wird schon. Es benötigt eben sehr viel Zeit, befürchte ich. Aber wo sie schon einmal hier sind: wie lang dauert denn noch ihre Ausbildung an?"
„Ja, Herr Sutton, noch knapp zwei Monate Theorie, dann kommt die Prüfungszeit. Erst die Schriftlichen, dann noch fünf mündliche Prüfungen."
„Ach, sie schaffen das schon. Und dann? Dann sind sie nicht mehr Praktikantin Melina? Dann muss ich wohl Schwester Melina sagen, oder?" Frank Sutton lächelte hierbei.
„So ist es. Und ich wollte auch noch Dankeschön sagen. Denn ich denke, ich habe Ihnen zu verdanken, dass ich bereits jetzt- und das ist mehr als ungewöhnlich- die Übernahmezusage des 'St. Martin' erhalten habe. Ich schätze, hier haben sie vielleicht für mich vorgesprochen?", erklärte Melina Hargraves fast verschüchtert.
„Ich halte dies für einen guten Schritt, oder? Sie wollten doch hierher? Das habe ich beiläufig den Chefarzt erzählt und angedeutet, dass ich mit ihrer medizinischen Betreuung über die Maße zufrieden war. Ich denke, der Rest ergab sich nach dem Gespräch dann irgendwie."
„Dieser 'Rest' sichert mir aber meine Zukunft. Schön, dass da mein Plan aufgeht.", sprach Melina offen.
„Es kann sein, dass mich die Klinik irgendwann nach Hause entlässt. Ich habe soundso das Gefühl, ich gehöre schon nicht mehr auf die Intensivstation- jetzt, wo ich wieder unter den Lebenden bin. Der Chefarzt wird mich wohl noch zwei bis drei Wochen hier unter Beobachtung halten. Danach könnte ich – allerdings mit verschiedenen Anwendungen- zu Hause betreut werden. Das will Dr. Hull für mich anregen, zumal ich ja in Chatham wohne.", warf Frank Sutton ein.
Melina nannte Chatham ja auch ihr Zuhause, aber von Frank Sutton hatte sie- vor dessen Einlieferung- noch nie etwas gehört, geschweige denn Frank Sutton als Chathamer Superreichen im Stadtbild irgendwo wahrgenommen. Daher interessierte es Melina, wo den P1- Sutton in Chatham wohnte.
„Sie wohnen hier? In Chatham? Ich dachte mehr, dass es die Reichen nach London zieht. Oder das sie als Jetsetter oder Metropolitan durch die Welt reisen? So in etwa hatte ich mir Ihr Leben vorgestellt."
„Wenn sie es so beschreiben, dann klingt mein Leben interessanter, als die wenigen Brocken an Erinnerungen, welche ich habe. Reisen? Ja, ab und an. Und in London habe ich tatsächlich auch ein Haus. Aber aufgewachsen bin ich hier in Chatham. Meine Eltern waren ganz normale Leute. Mein Vater arbeitete als Schweißer in den Docks und meine Mutter war Gärtnerin bei 'Chrystals'. Jetzt sind die Beiden Frühpensionäre. Ich habe ihnen mein Elternhaus von meinem ersten Ersparten gekauft. Und jetzt reisen meine Eltern viel durch die Welt und genießen die gemeinsame Zeit."
„Und sie selbst?" Melina war von diesem Geständnis überrascht. „Wo wohnen sie hier in Chatham?"
„Kennen sie das alte 'Corbanian House' in West- Chatham?"
„Aber ja. Wer kennt das nicht! Das war doch vor Jahren vollkommen verfallen. Es hat einen großen Park. Da dort die Zäune kaputt waren, haben wir uns dort als Kinder oft herumgetrieben. Aber stimmt: Vor über zwei Jahren hat es jemand gekauft und neu aufgebaut. Auch der Park sieht im Vorbeifahren wirklich sehr gut hergerichtet aus. Das ist jetzt ihr zuhause? Das 'Corbanian House'?"
Frank Sutton nickte. „Mir ging es, wie Ihnen. Auch ich bin dort ab und zu als Kind mit Freunden hineingegangen, obgleich es meine Eltern verboten haben- wegen der Baufälligkeit. Aber als Kind sieht man keine Gefahren, nur einen abenteuerlichen Spielplatz. Aber das Anwesen hat mich nie so richtig losgelassen. Und London- das ist für mich nicht dasselbe wie Chatham. Ich fühle mich hier verbunden."
„Unglaublich. Das muss doch ein Vermögen ..." Melina Hargraves hielt inne. Wenn sie mit Frank Sutton so sprach, dann vergaß sie zuweilen, dass Frank Sutton vermögend war. „Entschuldigung. Man sollte nicht danach fragen. Aber es ist schön, das Anwesen so toll hergerichtet zu sehen- jedenfalls von Weitem. Ganz nahe kommt man ja nicht mehr heran."
Frank Sutton nickte. „Okay? Ein Angebot: Wenn ich hier herauskomme, würden sie mich besuchen? Vielleicht einmal privat? Oder nach Ihrem Abschluss als Schwester des 'St. Martin' zu meiner Betreuung? Und ich werde wohl eine lange Zeit noch Begleitung oder Betreuung benötigen. Zumindest liegen die Dinge zurzeit wohl so. Abgemacht?"
Melina überlegte. Das Angebot war ja verlockend, brachte aber auch Verantwortung mit sich.
Frank Sutton bemerkte, dass diese Entscheidung Melina Hargraves ein wenig überrascht hatte. Darum wollte er das Angebot noch etwas unterfüttern.
„Sie arbeiten fest im 'St. Martin', so, wie sie es sich immer gewünscht haben. Aber 'St. Martins' könnte sie ja wie abordnen- nur, bis ich wieder der Alte bin. Es ist nur, ich finde ihre Gesellschaft als sehr ehrlich und angenehm. Und bevor ich vielleicht jemanden anderen vom Klinikum zugewiesen bekomme- dann doch bitte Jemanden wie Sie, Melina. Jemanden, mit dem ich auskommen kann und der mich nicht am Gängelband hält. Letztlich wäre es ihre Wahl. Ich würde auch über einen freiwilligen Zusatzbonus mit Ihnen verhandeln? Was meinen sie dazu?"
„Das klang alles zu toll, um wahr zu sein. Aber letztlich arbeite ich für 'St. Martins'! Und ich mache zuerst meine Ausbildung zu Ende!", legte Melina als Bedingungen fest.
„Akzeptiert?"
„Ja. Zu diesen Konditionen akzeptiert. Und ein Bonus von 2000 Euro im Quartal? Wäre dies auch möglich? Den Bonus würde ich auch gesondert versteuern. Gut?"
„Na gut. Dann machen wir das so. Wenn sie fertig ausgebildet sind, stellen sie sich im 'St. Martins' vor und treten dann vorübergehend hier die Stelle an. Den Rest werde ich mit der Hausleitung abstimmen. Okay? Und nach meiner Genesung gehen sie hierher in die Schichten- ganz normal. Ohne Benachteiligungen, okay?"
„Ja. Das ist okay. Dann machen wir das so. Ich muss dann auch gehen, denn eigentlich habe ich hier keinen Zutritt mehr."
„Hab ich schon vergessen. Das fällt mir grade sehr leicht- bin ich momentan bekannt für. Unsere Absprache vergesse ich aber sicherlich nicht. Ich hoffe inständig, dass ich auch noch in den Genuss ihrer Aufsicht und Betreuung komme und mein Gedächtnis nicht mit einem Fingerschnippen in der nächsten Woche wieder vollkommen wiederhergestellt ist. Aber dann bleiben uns ja noch die Motorik und das Erinnerungstraining.", gab Frank Sutton bekannt.
Melina musste lachen als sie den Raum verließ. Sie winkte zum Abschied.
Für Frank Sutton war diese Freundlichkeit und herzerfrischende Natürlichkeit von Melina Hargraves sehr belebend und erfreulich. Er bemerkte jedes Mal, dass ihm die Gespräche mit der jungen Frau viel bedeuteten. Das möchte vielleicht an dieser Krankenhaus- Situation oder auch an dieser Ruhe und Einsamkeit des Zimmers liegen. Aber jedes Gespräch mit der jungen Noch- Praktikantin wirkte für ihn sehr lange nach, so dass er selbst Stunden danach über Kleinigkeiten nachdachte, die Melina Hargraves angesprochen hatte. Es war wohl die offene Art und Weise, wie sie mit ihm umging. Das vertrieb nicht nur die Zeit in der Klinik, es lenkte auch von düsteren Gedanken ab, die Frank Sutton für sich nicht richtig einzuordnen vermochte.
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