Zwei mal zwei Meter

Song: Lady Gaga, Million Reasons

Wie jeden Abend wartete ich darauf, dass mein Kater Maddox zu mir kam und mir beim Einschlafen half. Er war ein stolzer Freigänger, der durch das geöffnete Fenster spazierte, wie es ihm gefiel. Vor acht Jahren hatte ich mich während der sozialen Woche, die ich im Tierheim absolvierte, in das schwarzweiße Fellknäuel verliebt und ihn unter der Bedingung bekommen, dass ich vollständig für ihn sorge. Abgesehen davon, dass ich mein ganzes Taschengeld für ihn ausgab, hatten wir beide keine Probleme. Meistens trieb er sich in der Nachbarschaft herum, doch für meine seelische Verfassung hatte er immer eine gut funktionierende Antenne. Er kannte alle meine Geheimnisse und ließ sich genüsslich von mir kraulen, bis uns beiden die Augen zufielen.

Als ich aufwachte, war Maddox verschwunden. Neben mir im Bett lag nur noch Jane Austens Stolz und Vorurteil. Bücher waren meine Leidenschaft, aber von allen mochte ich dieses am meisten. Es ließ mich die Träume und Ängste der Protagonisten verstehen und half mir in schweren Zeiten. Ich bekam es von Tam, als ich 16 war und mein Dad uns sitzen ließ. Zuerst dachte ich, Kitty würde mehr als alle anderen darunter leiden. Doch es war Mom. Sie blieb bei uns. Sie war unser Fels in der Brandung, obwohl sie die Rechnungen für die Reparaturen am Haus kaum zahlen konnte. Ich fing an, zu rebellieren und alles zu hinterfragen, und kam erst zur Ruhe, als Lion und ich ein Paar wurden. Damals fing er mich auf. Ich dachte nicht, dass er mir so wichtig werden würde. Ich wollte nicht so werden wie Mom und eines Tages sitzengelassen werden. Erst recht wollte ich keines von diesen Mädchen sein, das an ihrem Freund klebt und eifersüchtig ist, wenn er anderen nachsieht. Es war nur andersrum. Lion zog Mädchen an. Er war jedoch nicht an ihnen interessiert. Er blieb treu und wir wurden unzertrennlich, bis ich ihn auf der Party mit Janet sah. Da war es bei mir aus. Ich dachte, er wüsste, wie wichtig mir Vertrauen war, und beendete es.

Ich stieg aus dem Bett und zog die Vorhänge zur Seite. Ein schöner, freundlicher Tag strahlte mich an. Nachdem ich geduscht und angezogen war, machte ich Frühstück für Kitty und Maddox. Mom war schon arbeiten. Kitty und ich versuchten, ihr zur Hand zu gehen, so gut wir konnten. Ich war froh, dass meine kleine Schwester clever und viel zu reif für ihr Alter war. Eigentlich gaben wir ein ganz gutes Team ab, doch seit meiner Trennung von Lion nörgelte sie schon wegen Kleinigkeiten herum. Seine spontanen Besuche und die frischen Croissants vor der Schule, die er oft mitgebracht hatte, fehlten ihr genauso wie mir.

Zuerst holten wir Lionel ab, dann Tam. Ich kam mir seltsam vor mit meinen drei Passagieren im Auto. Meine Schwester setzte ich bei ihrer Schule ab. Ich hatte ihr beim Frühstück berichtet, dass wir einen neuen Mitschüler mitnehmen würden, damit sie keine unnötigen Fragen stellen würde. Das hätte ich mir jedoch sparen können. Sie quetschte Lionel aus wie eine Zitrone. Er nahm es mit erstaunlicher Gelassenheit und wir erfuhren, dass sein Auto in der Werkstatt war, er selbst eine kleine Schwester hatte und noch mehr Dinge, die mich nicht interessierten. Ich wollte nur diese Taxifahrt hinter mich bringen und nach der Schule schnellstmöglich wieder abhauen.

Nachdem wir Kitty abgesetzt hatten, lehnte sich Lionel auf dem Rücksitz zu mir und Tam vor. Mir wäre wohler gewesen, er hätte mit verschränkten Armen im Sitz gesessen und wortlos aus dem Fenster gesehen.

"Kannst du das lassen?", fragte ich.

"Macht dich das nervös?"

"Nein, Lionel. Obwohl du dir das wahrscheinlich kaum vorstellen kannst."

Tam fing an, sich zu räuspern. "Bin ich hier in irgendwas reingeraten?"

"Wer hat dir gesagt, dass du auf meinem Schulweg wohnst?", überhörte ich meine beste Freundin.

"Ist das wichtig für dich?"

Ich fauchte Lionel an. "Wir haben gestern nicht ein Wort miteinander geredet, aber ich bin deine erste Wahl, wenn du ein Taxi brauchst", stellte ich fest.

"Ich wusste nicht, dass es dir solche Umstände macht, vor meiner Tür anzuhalten und mich einsteigen zu lassen", erwiderte Lionel sachlich.

"Da ist was dran", sagte Tam leise.

Ich sah konzentriert auf die rote Ampel vor mir. Ich war gestresst wegen eines Kerls, der optisch meinem Ex ähnlich sah und damit sehr anziehend auf mich wirkte. Tams Gerede am letzten Tag davon, dass Lion unschuldig war, machte es mir nur noch schwerer, ihn abzuschreiben. Janet, diese Schlampe, hatte es schon lange auf Lion abgesehen. Ich war hin- und hergerissen, ob ich nochmal mit ihm reden sollte.

"Ich kenne Kerle wie dich", sagte ich, als würde das meine Stimmung erklären oder was daran ändern, wie aufgewühlt ich war.

Lionell tippte mit den Fingerspitzen neben meinen Schultern auf der Rückenlehne meines Sitzes den Takt eines Songs von Imagine Dragons, der im Radio gespielt wurde. Sein Verhalten trug dazu bei, dass ich mich verspannte. Mein Nacken wurde warm und meine Hände feucht.

"Du kennst vielleicht Kerle wie mich. Aber du kennst mich nicht. Lass mich dich was fragen. Gehst du mit jedem so hart ins Gericht, den du nicht kennst?", meinte er gechillt.

"Auch da ist was dran", hörte ich Tam flüstern.

Ich stöhnte leise. "Richtig, ich kenne dich nicht", musste ich zugeben. "Kannst du dich jetzt bitte nach hinten lehnen, ich muss mich auf den Verkehr konzentrieren."

Lionel warf sich in den Rücksitz. Das Tippen neben meiner Schulter hörte auf. "Ich mache dich nervös", sagte er gelassen.

"Jeder aufgeblasene Sack macht mich beim Fahren nervös ... Und damit meine ich nicht den Airbag", warf ich schnell hinterher.

Ich hörte ihn glucksen und besann mich darauf, uns sicher zur Schule zu manövrieren. Ein Unfall wegen dem gutaussehenden Lion-Verschnitt auf dem Rücksitz fehlte mir noch.

"Danke für's Mitnehmen", sagte Lionel beim Aussteigen.

"Klar doch", kam es mir über die Lippen. Ich wusste ja, dass es nicht seine Schuld war, wie das mit Lion ausgegangen war.

"Was ist nur in dich gefahren? Er war total nett die ganze Zeit und du hast ihn blöd angeredet", rügte mich Tam auf dem Weg zum Hintereingang unserer Schule.

Ich hielt nach Lion Ausschau und entspannte mich, da von ihm nicht die Spur zu sehen war. "Es macht mich einfach wahnsinnig, dass er eine exakte Kopie von Lion ist", sagte ich rechtfertigend.

"Du siehst eine Kopie von Lion in ihm, weil du auf Lion fixiert bist. Wenn du mal mit ihm reden würdest, wäre das echt hilfreich", erklärte Tam mein Verhalten.

"Lion hat ...", versuchte ich es.

Tam legte den Arm um mich und sah mich mit ihren braunen Augen an. "Er hat nichts getan", sagte sie verständnisvoll. "Du wolltest sehen, was du gesehen hast, weil du nicht verletzt werden willst. Aber damit hast du dich selbst verletzt."

"Wie meinst du das?", fragte ich unsicher nach.

"Klassischer Fall. Du hast Panik geschoben und es beendet, bevor er es eines schönen Tages beenden konnte. Wenn dein Dad euch nicht sitzengelassen hätte, wäre deine Trennung mit Lion anders abgelaufen. Vielleicht wärt ihr ja dann wieder zusammen oder du hättest Janet die Schuld an der Knutscherei gegeben und nicht Lion."

Was sie sagte, beschäftigte mich den ganzen Vormittag. Ich wollte nicht von anderen Menschen abhängig sein, erst recht von keinem Mann. Ich bewunderte Mom, wie sie alles alleine geregelt bekam. Dad hatte uns aufgegeben, weil er keine Lust mehr hatte, seine Kohle in ein altes Haus zu stecken, das nie wie ein Neubau sein würde. Doch mehr konnten wir uns damals wie heute nicht leisten. Wir kamen gerade so über die Runden.

Lionel bemerkte meine Schweigsamkeit und schob mir in der Pause einen Schokoriegel zu.

"Du siehst aus, als könntest du ihn brauchen", sprach er mich an, nachdem ich verdutzt bemerkte, dass der Unterricht beendet war.

"Danke", sagte ich und gab mir Mühe, freundlicher als am Morgen zu klingen.

Lionel nickte und hielt mir die Hand hin. "Hast du Lust, mir zu sagen, warum du mich nicht magst? Wir können uns draußen in die Sonne setzen, anstatt hier drinnen Trübsal zu blasen."

Sein freches Grinsen lockte in mir ein Lächeln hervor. "Meinetwegen."

Wir schlenderten bei brütender Hitze nach draußen, während ich mich für mein Verhalten im Auto zu entschuldigen versuchte.

"Ich mag dich nicht nicht", erklärte ich umständlich.

"Tatsächlich?", fragte er grinsend.

Ich nickte. Wir setzten uns auf ein schattiges Stück Rasen und Lionel zauberte ein Trinkpäckchen aus den Taschen seiner Cargohose hervor, das er mir anbot. Ich nahm dankbar an. Während ich trank, sah ich mir sein Gesicht genauer an. Mir gefiel sein freches Grinsen. Sogar wenn er ziellos in die Ferne blickte, schien er den Schalk im Nacken zu haben. Er hatte sehr schöne weiße Zähne und seine Augen leuchteten aufgeweckt in einem schönen Braun mit grünen Sprenkeln, wenn er diesen Ausdruck annahm.

"Ich weiß nicht, ob du es weißt, aber ich war mit Lion zusammen", startete ich von vorne.

"Dem allseits beliebten Klassensprecher", ergänzte er. Er wusste, was ich sagen wollte. Die ganze Schule wusste es.

"Das ist gerade mal dein zweiter Tag hier und du hast schon davon gehört", seufzte ich frustriert.

"Lion und ich haben vielleicht ein paar Ähnlichkeiten. Aber ich werde deswegen nicht mein Aussehen ändern, damit du mit mir redest", konterte er taff.

Das war ein Argument, das ich gelten ließ. Trotzdem fragte ich mich, warum er sich mich als neue Kontaktperson ausgesucht hatte. "Warum willst du überhaupt mit mir reden?"

"Es wäre ziemlich unhöflich, nur deine Fahrdienste in Anspruch zu nehmen. Deshalb will ich mich bei dir revanchieren und sehen, was passiert, wenn Lion uns zusammen sieht."

Mein Alarm schlug an. Ob das gut war, bezweifelte ich. "Du hast vor, ihn eifersüchtig zu machen? Warum willst du das tun?"

"Ich bin ein Kerl und will checken, wie er so drauf ist."

"Du willst dein Revier abstecken", stellte ich fest. Ich schüttelte den Kopf. "Daraus wird nichts."

"Oho. Du bist immer noch in ihn verknallt", erriet Lion auf wundersame Weise.

"Das ist nicht der Grund. Jemand eifersüchtig machen zu wollen, ist affig", sagte ich hastig.

"Dann ist es eben affig. Wenn ich mich irre, kann es dir ja egal sein, dass ihr getrennt seid. Es gibt noch andere hübsche Kerle."

Mir schoss die Röte ins Gesicht. Ich mochte die Hitze der hochstehenden Sonne und im Schatten war es sehr angenehm auszuhalten. Ich war nur viel zu schüchtern für diese Unterhaltung mit einem Fremden, der sich nicht daran störte, mich auszuquetschen.

"Wenn du ihn noch magst, wieso hast du ihn dann abserviert?"

Ich starrte ihn an. "Wer sagt, dass ich ihn noch mag?"

"Tust du es etwa nicht?"

Mir wurde heiß unter seinem Blick. Beschämt senkte ich den Kopf. Gab es für jemand in meinem Alter was, das noch schlimmer war, als mit einem gutaussehenden Lion-Verschnitt darüber zu reden, wie und warum ich mit Lion schlussgemacht hatte?

"Wenn nicht, solltest du ihn hinter dir lassen", sagte er, als ich nicht antwortete.

Ich lachte nur. Sollte ich ihm sagen, dass ich noch an Lion hing? Ich konnte nicht wie andere aus dem Nähkästchen über meinen Ex plaudern. Als Dad uns verließ, hatte das Spuren hinterlassen. Aber ich musste zugeben, dass es gut tat, wie locker Lionel drauf war. Irgendwie erfrischend. Vielleicht war er ja ganz okay, obwohl er mich jedesmal sehr an Lion erinnerte, wenn ich ihn ansah.

Gemeinsam gingen wir ins Gebäude zurück. Mir wurde nicht nur wegen der Sonne warm, als wir in der Hitze über den freien Platz liefen. Es war seine Nähe, wenn unsere Arme sich beim Gehen fast berührten. Zuvor, als er mir die Hand gereicht und mich aufgefordert hatte, mit ihm raus zu gehen, war ich nicht halb so damit beschäftigt gewesen, auf ihn zu achten. Es war der Beginn einer ganz normalen Unterhaltung. Aber inzwischen spielten meine Sinne mir einen Streich. Ich spürte, dass es zwischen uns knisterte. Oje. Was war das nur für ein Gefühl!

Ich konzentrierte mich darauf, meine Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Lionel war optisch ein Kerl zum Anbeißen. Groß, ein breites Kreuz, Arme, in die sich jede Frau nur zu gerne fallenlassen würde, Augen, die dazu bestimmt waren, jeden Zentimeter eines nackten Körpers zu betrachten, Hände, die ihnen folgten. Ich war da keine Ausnahme. Aber hatte mir nicht genau so ein Kerl Probleme gemacht? Lion, das optische Abbild dieses Traummannes. Zwei Frauenmagneten, zwei Katastrophen. Zwei mal zwei Meter wandelnder Sex.

Perfekt. Meine Gedanken gingen eindeutig in die falsche Richtung.

Ich ballte meine Hände zusammen und sagte leise: "Mist. Ich muss schnell mal auf's Klo. Ein kleines Problemchen bahnt sich an."

Mir war im Augenblick nicht ganz klar, wie bekloppt das klang. Es war auch ziemlich unwichtig, solange ich einen guten Grund hatte, Lionel loszuwerden. Ich durfte nicht den Kopf verlieren. Ich hatte ihn schon einmal verloren.

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😀 Hallo, das Kapitel behandelt ein paar Reasons für Delias Reaktion auf Lionel bzw. Lion. Ich hoffe, ich konnte das gut genug erläutern ❤️

Alle Bilder wurden von mir fotografiert oder mit Apps gemacht

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