Zirkus im Zoo

Der Zoobesuch war eine blöde Idee. Es fing schon am Morgen an, dass ich mit Bauchkrämpfen aufwachte. Ich wusste nicht, wie ich es schaffen sollte, Lion und Lionel zusammen um mich zu haben und mir nicht anmerken zu lassen, dass mir an beiden etwas lag. Denn das tat es. Mit dem einen verband mich eine aufregende Zeit. Er hatte mir sehr geholfen, als Dad abgehauen war. Den anderen fand ich sehr anziehend, obwohl ich ihn hasste, weil er auf Kittys kindliche Einladung eingegangen war, um mich in Schwierigkeiten zu bringen. Er genoss es, dass ich ihr ihren Wunsch nicht abschlagen konnte. Kitty zuliebe musste ich das Beste aus der Situation machen. Für mich würde der Tag zu einem der längsten in meinem Leben werden.

Als ich meine Schwester, Tam und Lionel zum Zoo chauffiert hatte und wir Lion am Eingang trafen, ließ er sich kaum etwas anmerken. Nur weil ich ihn so gut kannte, merkte ich, dass es ihm nicht passte, einen Rivalen dabeizuhaben. Kitty rannte auf ihn zu und umarmte ihn. Das brach das Eis. Die beiden hatten eine schon fast geschwisterliche Verbindung, die Gewissensbisse in mir hervorrief, weil ich sie voneinander trennte. Lion blieb vorerst einmal professionell. Er kümmerte sich liebevoll Kitty und half ihr bei ihren Recherchen. Lionel tat, was er am besten konnte. Er spielte sich auf und gab vor, alles über Primaten zu wissen. Sehr wahrscheinlich hatte er den ganzen Montagabend im Internet recherchiert. Hin und wieder gelang es Tam, ihn zum Schweigen zu bringen, damit Lion seinen Job machen konnte. So viel Autorität wie meine beste Freundin hatte ich nicht auf Lager. Inzwischen war klar, dass der Ausflug ein Männerwettstreit werden würde, denn auch Lion war nicht auf den Mund gefallen. Er war klug und schlagfertig und hatte es im Gegensatz zu Lionel nicht nötig, Pluspunkte bei Kitty zu sammeln.

In dem ganzen Tumult, den Lion, Lionel und Tam verursachten, gelang es mir, mich für ein paar Minuten davonzuschleichen. Kitty genoss die Aufmerksamkeit, aber ich brauchte Kaffee, mein Hauptnahrungsmittel, wenn es stressig wurde. Im Moment schwebte mir ein Latte Macchiato mit aufgeschäumter Milch vor.

Ich schaffte es zu einem etwa hundert Meter entfernten Kiosk und reihte mich in die Schlange. Kitty war bei Lion gut aufgehoben. Er hatte vielleicht mich betrogen, doch ihr würde er niemals wehtun. Als ich an der Reihe war, sagte mir das Mädchen vom Kiosk, dass die Maschine defekt war und es keinen Latte Macchiato gab. Ich musste schrecklich böse geguckt haben, so verschreckt wie sie mich daraufhin ansah. Aber ich hatte andere Probleme. Kein Kaffee, kein Balsam für meine Nerven. Ich ging zurück zu den anderen.

"Es gibt keinen Latte", sagte ich und bekam verwirrte Blicke. Niemandem war aufgefallen, dass ich weg gewesen war. Es störte mich nicht. Mein Schwestern-Nachmittag hatte bereits ein Eigenleben entwickelt, mit dem ich nicht schritthalten konnte. Ich fügte mich und klärte die Situation mit der defekten Maschine auf.

"Vielleicht sollten wir eine Pause machen. Delia wird zur Furie, wenn sie keinen Kaffee bekommt", grinste Lion.

Ich öffnete den Mund, doch Lionel ging dazwischen. "Ich mach das. Bei der Abzweigung zu den Raubkatzen war noch ein anderer Kiosk", verkündete er unerwartet.

"Bringst du mir was mit? Kriege ich Zuckerwatte?", bettelte Kitty.

"Ja, du kriegst Zuckerwatte. Komm mit, wir suchen dir eine aus."

"Ich komme auch mit. Sonst machst du beim Kaffee was falsch", bot Tam hilfsbereit an und würgte die Einwände, die mir auf der Zunge lagen, ab. Ich konnte Kitty nicht bei einem Jungen lassen, den ich erst wenige Tage kannte.

"Was kann man denn bei Kaffee falsch machen? Der kommt doch aus einer Maschine", wunderte Lionel sich.

"Ich erkläre es dir, wenn du mir eine Tüte Gummischlangen für die Schule morgen kaufst", sagte Kitty. Sie durfte noch keinen Kaffee trinken, aber sie war genau wie ich Stammgast im Marco's und kannte meine Vorlieben, zu denen Tam mich verführt hatte.

Lion schien darauf gewartet zu haben, mit mir alleine zu sein. "Wieso ist er denn dabei? Seid ihr zusammen oder so?"

"Fang nicht damit an", sagte ich genervt.

"Ich habe dich nicht betrogen", entgegnete Lion wie aus der Pistole geschossen.

"Bin ich zu wählerisch?", fragte ich ihn.

Lion verschloss die Lippen. Seine Stirn zog Falten, da ihm die Sonne ins Gesicht schien. Er sah inzwischen viel reifer aus, als noch im Sommer.

"Ich bin sparsam soweit es geht. Warum kann ich mich nicht mit normalem Kaffee zufriedengeben und muss mich aufführen wie eine bockige Ziege?"

"Du hast ein Recht darauf, ab und zu wählerisch zu sein, Delila."

Ich schwelgte in seiner Stimme. Wie schaffte er das nur, meine Zweifel mit einem Satz zu zerstreuen? So war Lion. "Ab und zu" war der Schlüssel in seiner Aussage. Er wusste, dass ich mir kaum etwas leisten konnte. Wählerisch zu sein, war ein Luxus, den ich nur wegen meiner Freunde kennengelernt hatte. Tam war meine Quelle für gutes Essen und leckere Getränke, Lion hatte dafür gesorgt, dass ich teure Autos und Jachten von innen gesehen hatte. Er ließ nicht raushängen, dass er reiche Eltern hatte, er teilte ihren Reichtum nur, großzügig wie er war, und ließ andere daran teilhaben. Vielleicht hatte Kitty ihm den Superhelden-Stempel nicht umsonst aufgedrückt.

"Ich mochte dich, weil du kein eingebildetes Miststück warst."

Das ging zu weit. Lion ging zu weit. Er stand viel zu nahe. Seine weichen Lippen bewegten sich auf mich zu. In meinem Bauch kribbelte es. Lion zu küssen war wundervoll. Wir harmonierten perfekt.

Delia! Spinnst du?

Was fuhr nur in mich? Es waren unsere Körper, die perfekt harmonierten, nicht wir.

Es war zu spät. Ich spürte seine wunderbaren Lippen auf meinen und seufzte in seinen Mund. Ich wollte diesen Kuss. Ich wollte mich wieder geborgen fühlen, weshalb ich unsere chaotisch-heiße Beziehung nie aufgegeben hatte, obwohl ich nie in seine Welt gepasst hatte. Ich war nur Ballast für ihn gewesen. Ihm stand die Welt offen, aber ich brauchte ihn, um von hier wegzukommen und ein College zu besuchen.

Irgendwo kreischte ein Affe und ich fiel aus meiner rosaroten Blase.

"Hast du mich gerade geküsst?", fragte ich ihn und drückte ihn weg. Meine Hände stießen auf harte Brustmuskulatur. Blöder Sportler.

Mein Herz pochte. Die Tiere in dem Gehege, das am nächsten bei uns lag, waren in heller Aufregung. Ich sah, wie sie sich blitzschnell über die Äste hangelten, und mir wurde schwindelig. Ich hätte den Kuss nicht zulassen dürfen. Ein Schlussstrich war ein Schlussstrich.

"Ich habe dich nicht betrogen", sagte Lion.

Ich musste in einer Zeitschleife festhängen. Aber da ich ihm glaubte, nickte ich. "Du warst ein guter Freund."

Es lag nicht an ihm, dass ich dachte, wir würden nicht zusammen passen. Ich hatte öfter Komplexe, weil ich nicht von ihm abhängig sein wollte. Mit seiner Großzügigkeit hatte er mir das sehr erschwert.

"Du solltest auf das College gehen, das am besten für dich ist."

Lion warf die Hände hoch. "Warte, hast du deswegen Schluss gemacht?"

Ich kniff die Augen zusammen. Hatte ich da eben den echten Grund für meine Trennung entdeckt? Und wenn schon. Als ob das im Nachhinein noch wichtig war.

"Ich kann das jetzt nicht. Der Kuss war ein Fehler, Lion." Mir schwirrte der Kopf. Außerdem kamen Kitty, Tam und Lionel zurück und ich wollte verhindern, dass sie etwas mitbekamen.

Kitty überreichte mir fröhlich einen Latte Macchiato mit herrlich aufgeschäumter Milch, außerdem einen XXL Schokoladenkeks. Sie schien den Ausflug in vollen Zügen zu genießen. Das erinnerte mich wieder daran, weshalb ich einverstanden gewesen war, den ganzen Zirkus zu veranstalten. Zu meinem Übel waren Lion und Lionel ungebetene Gäste, die ich leider erdulden musste.

Nachdem Lion den Rest seiner Führung beendet hatte, schlenderten wir alle gemeinsam zum Ausgang. Tam, Lionel und Kitty naschten Süßigkeiten, scherzten miteinander und bewarfen sich mit Popcorn, als wären sie die dicksten Freunde. Ich nutzte die Gelegenheit, Lion für alles zu danken, was er für Kitty tat. Wenigstens das war ich ihm schuldig. Ich war angespannt währenddessen. Der Kuss hatte mir gut getan. Lion fehlte mir mehr als ich zugeben konnte. Erst als wir alle im Auto saßen, entspannte ich. Ich war froh, dass alles vorbei war.

Zuhause machte ich Essen für Kitty und mich. Mom war arbeiten. "Hast du genug Informationen bekommen?", fragte ich Kitty.

Sie nickte eifrig. "Lion war super. Er hat mir so gefehlt."

"Er fehlt mir auch", sagte ich, obwohl ich es nicht beabsichtigt hatte.

Kitty war bereit, auf den fahrenden Zug aufzuspringen, doch mein Telefon klingelte und rettete mich vor einer peinlichen Erklärung.

Ich hob den Zeigefinger, entschuldigte mich und zog mich für das Gespräch auf mein Zimmer zurück. Es war Cloe. Ihr Anruf kam unerwartet. Ich hatte den Auftrag, den ich ihr gegeben hatte, ganz vergessen, aber sobald sie anfing, ihre Ermittlungsergebnisse mit mir zu teilen, war ich Feuer und Flamme. Maddox, der auf meinem Bett gelegen hatte, fühlte sich in seiner Ruhe gestört und verließ eingeschnappt das Zimmer.

"Soweit ich sagen kann, ist die ganze Sache ziemlich aus dem Ruder gelaufen. Eine Gruppe junger Leute klaut das Auto eines Mitschülers und fährt damit durch die Gegend. Bis dahin wäre noch niemand zu Schaden gekommen. Doch nach dem Autodiebstahl kam es zu der Schlägerei. Es gibt mehrere Aussagen, die belegen, dass einer der Jungs die Nerven verlor und dafür verantwortlich ist, dass ein anderer ins Koma fiel. Lionel hat sich da schon rausgehalten."

Ich hörte zu und biss mir die Lippen auf. Es war wie erwartet. Das Wesentliche hatte ich schon von Lionel gehört. Ich war jedoch froh, dass er aufgehört hatte.

"Es war auch ein Mädchen dabei. Sie war damals Lionels Freundin. Einer der Jungs hat sie begrapscht", sagte Cloe.

Mir wurde schlecht. "Das hat mir Lionel nicht erzählt", nuschelte ich.

"Lionel fing die Schlägerei an. Dann ist sie eskaliert."

Ich war geschockt. Erst vor wenigen Tagen hatte mir ein Fremder an den Arsch gefasst. Ich hasste dieses Gefühl, ihm ausgeliefert zu sein. Ich hätte am liebsten zuschlagen wollen. Aber ich wollte keine Szene und meinen Freunden keine Schwierigkeiten machen.

Cloe hörte mein Schweigen und seufzte. "Lionel wollte seine Freundin verteidigen. Er hat meine volle Sympathie dafür. Es kann doch nicht sein, dass man sich begrapschen lassen muss. Aber eine Schlägerei löst nicht das Problem."

Mir war eiskalt. Ich verstand Lionels Reaktion besser als die meisten sie verstehen würden. Aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich hatte niemandem davon erzählt außer Nick.

"Geht es dir gut, Delia?"

"Ja, es ist nur ein Schock. Niemand sollte sich begrapschen lassen müssen", sagte ich hastig, obwohl ich es kaum aussprechen konnte.

Ich hatte Tränen in den Augen, als ich das Gespräch beendete. Hätte ich Cloe nur nicht gebeten, Nachforschungen anzustellen. Ich hätte das Chaos vorhersehen müssen und was es mit mir machen würde. Der ganze Ekel von meiner Schicht im Marco's rauschte durch meinen Kopf. Mein Körper war kein Spielzeug für irgendwelche dahergelaufenen Lustmolche. Ich konnte an nichts anderes mehr denken, bis ich einschlief.

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