Wir brauchen Cloe
Mir ging allerhand durch den Kopf, deshalb trieb ich mich so lange auf dem Klo herum, dass ich zu spät zur Stunde kam. Mr Melton knallte mir eine wüste Bemerkung über Pünktlichkeit hin, die mich aber kaum traf. Schlimmer war, was Lionel jetzt von mir denken musste. Er hielt mich bestimmt für unkommunikativ und zugeknöpft, denn er war im Gegensatz zu mir locker drauf gewesen.
Um nicht weiter aufzufallen, machte ich mich für den Rest des Tages unsichtbar. Kurz vor Schluss schob mir Lionel einen Zettel zu.
Soll ich dir aus dem Sekretariat was bringen? Wäre die Gelegenheit, Meltons Stunde zu schwänzen.
Ich sah in seine Richtung, lächelte breit wegen des Angebots und schüttelte den Kopf, als sich unsere Blicke trafen. Ich fand es süß, dass er sich um mich kümmerte. Lion war lange nicht so aufmerksam. Eigentlich war er ein richtiger Macho, der mit Periodenschmerzen und dergleichen nichts zu tun haben wollte und mir niemals Tampons vorbeigebracht hätte. Unsere Zeit war wild. Wir hatten viel Zoff, aber er lenkte mich von meiner Wut auf Dad ab und das machte Mom das Leben etwas leichter. Wir waren laut, chaotisch und stürmisch, eben ein ganz normales junges Paar. Wenn wir Streit hatten, dauerte er nie lange an. Wenn wir uns für ein Date schick machten, zogen wir Blicke auf uns. Mit der Zeit wuchsen wir immer enger zusammen. Die Voraussetzungen waren gut, dass wir uns für ein gemeinsames College entschieden und ein Zimmer teilen würden. Aber wie Tam gesagt hatte, musste es einen Grund geben, warum ich einen Schlussstrich gezogen hatte.
Ich fragte mich, ob Lionel seiner Freundin schon mal Tampons gebracht hatte. War er aktuell mit einer zusammen? Bei ihm standen sie bestimmt Schlange. Menno. Wieso fragte ich mich das überhaupt? Er verhielt sich kumpelhaft, da war nichts weiter dran. Doch langsam wurde ich neugierig. Er hatte am Morgen geduldig Kittys Fragen über sich ergehen lassen und von einer kleinen Schwester erzählt. Ich wünschte, dass ich besser zugehört hätte.
Als es klingelte, sammelte ich meine Beifahrer ein und wir gingen zum Auto. Tam und ich verbrachten die Pausen meistens zusammen. Natürlich wollte sie herausfinden, wie meine Pause mit Lionel gewesen war. Sie zeigte alles andere als unauffällig mit den Augen auf ihn und formte Grimassen mit dem Mund, was bedeutete, dass sie ihn echt heiß fand. Ich hatte das schon erwartet und wimmelte sie ab. Solange er bei uns war, wollte ich unser Freundinnen-Gespräch über scharfe Körperteile nicht führen.
Nachdem ich sie bei Marco's Pizzeria abgesetzt hatte, kletterte Lionel zu mir auf den Beifahrersitz. Er roch so gut, dass ich erstaunt war, dass mir das am Morgen nicht aufgefallen war. Ich fuhr los. Lionel lehnte sich nach hinten und schaute aus dem Fenster. Da ich auf die Straße achten musste, merkte ich erst gar nicht, dass er sich in Schweigen hüllte. Nach ein paar Minuten kam mir das seltsam vor. Den ganzen Tag war er schließlich sehr umgänglich gewesen. Was war mit ihm los? Lag es an mir? Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte und schwieg ebenfalls, da ich nichts Falsches sagen wollte. Doch je länger wir uns nichts zu sagen hatten, desto eigenartiger kam mir alles vor.
Bei seinem Haus hielt ich an. Ich war froh, die Fahrt hinter mich gebracht zu haben. Lionel hatte sich die ganze Zeit nicht bewegt. Er löste den Gurt und schaute mich an. Sein Gesicht war viel kantiger, wenn er nicht sein freches Grinsen zur Schau stellte. In seinen Augen war ein neuer Ernst, wie ich ihn bei ihm noch nicht gesehen hatte.
"Kannst du den Motor ausmachen? Ich möchte dir was sagen."
Von einer unguten Vorahnung erfüllt, tat ich ihm den Gefallen. Lionel sah nach unten und strich über sein Kinn. "Hättest du Lust, am Wochenende mit mir essen zu gehen? Ganz zwanglos natürlich."
"Ich würde gerne mit dir essen gehen. Aber ich glaube nicht, dass das alles ist, was du mir sagen willst. Spuck es aus", antwortete ich direkt. Die Pause mit ihm zu verbringen, war großartig gewesen. Ich war froh über seine Frage und atmete auf. Ein zwangloses Date war jedoch kein Grund für sein Gesicht. Mein innerer Alarm schlug kräftig an.
"Ich habe vor einer Weile was angestellt. Ich will, dass du es von mir hörst, bevor es sich rumspricht. Ich weiß nicht, wie lange es dauert, bis es jemand erfährt, der es rumerzählt."
Meine Hände waren um das Lenkrad geschlossen. Ich packte es, als würde ich an einem Seil hängen. Unter mir ein Fluss, der mich mitreißen und ertränken würde. Erst Lion, dann Lionel, ging es mir durch den Kopf. Lernte ich denn nicht dazu?
"Ich habe an meiner alten Schule ein paar Jungs kennengelernt und krumme Sachen mit ihnen gemacht", sagte Lionel. Er klang absolut ehrlich und war sich dessen bewusst, dass er einen Fehler gemacht hatte.
"Was für Sachen?", fragte ich mit trockenem Mund.
"Autodiebstahl. Ich war daran beteiligt, als meine Kumpels das Auto eines Mitschüles klauten. Ich hab total Mist gebaut. Es gab eine Schlägerei und einer der Jungs kam ins Koma. Er ist noch nicht wieder aufgewacht."
"Fuck", rutschte es mir heraus. Ich war total geschockt und fand keine passenden Worte.
Lionel nickte schwach. "Ich flog von der Schule und stand davor, in ein Camp für schwer erziehbare Jugendliche zu kommen. Es wurde in eine Therapie und Sozialstunden abgemildert." Er räusperte sich. "Das ist meine letzte Chance und ich darf sie nicht verbocken. Mein Dad - besser gesagt mein Stiefvater - hat für mich gebürgt. Er war für mich da. Mehr als mein richtiger Dad es je war. Ich sollte am Ball bleiben und nicht Schule schwänzen. Ich sollte Melton keinen Ärger machen. Er hatte keine Vorurteile, als wir bei ihm einzogen. Er behandelt mich wie einen Erwachsenen. Wie ich es verdiene."
Als der Name unseres Lehrers fiel, wurde ich stutzig. "Ich glaube, ich kann dir nicht ganz folgen. Melton ist dein Stiefvater?", warf ich ein.
"Melton ist mein Stiefvater", bestätigte er. "Na, zumindest fast. Er und Mom sind nicht verheiratet, aber ich denke, sie werden es bald sein. Wenn ich es nicht verbocke. Ich hatte Glück, dass er uns nicht rausgeworfen hat nach diesem Fehltritt. Mom hat das nicht verdient."
Das waren ganz schön viele Infos auf einmal, die da auf mich einprasselten. Toll gemacht, Delia. Wäre ja auch zu schön gewesen, wenn Lionel keine schräge Vorgeschichte gehabt hätte und ein netter Märchenprinz mit weißer Weste gewesen wäre.
"Danke. Ich weiß zu schätzen, dass du mir das anvertraust", meinte ich mit dünner Stimme. Ich war nicht abgeschreckt ... vielleicht ein bisschen schon. Probleme wie diese konnte ich nicht brauchen. Ich hatte meine eigenen. Aber ich sah seine Ehrlichkeit in diesen braun-grünen Augen und wunderte mich, warum er so ehrlich zu mir war, wo wir uns erst so kurz kannten. Sein "Fehltritt", wie er sagte, war eine krasse Sache, die mein Lion-Dilemma komplett in den Schatten stellte.
"Ich hätte dir das eigentlich gar nicht sagen sollen. Es wäre besser für Melton, wenn sich das an der Rutherford High nicht rumspricht", betonte er, als hätte er meine Gedanken erraten. "Mom ist viel glücklicher, seit sie zusammen sind. Das ist wichtig für mich. Ich will es nicht verbocken. Ich habe dir das eigentlich nur gesagt, weil ich das Gefühl habe, es zu müssen. Ich mag dich. Du bist smart, Delia. Du musst nur an dich glauben."
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also machte ich es beim Verabschieden kurz.
"Morgen früh um die gleiche Zeit?"
Es blieb dabei.
Ich fuhr nicht nach Hause, sondern zu meinem besten Freund Nick, um ihm mein Herz auszuschütten. So viel Chaos. So viel Gefühlsduselei. So viel Ehrlichkeit. So viel Familiensinn. Dass Melton darin verstrickt war, hätte ich diesem Arsch wirklich nicht zugetraut.
Nick ging in die gleiche Klasse wie Janet. Er war Vertrauensschüler und da Lionel neu an der Schule war, konnte ich eins und eins zusammen zählen. Nick kümmerte sich um neue Schüler. Er zeigte ihnen, was sie wissen mussten, um sich zurechtzufinden. Wenn ich richtig lag, hatte er Lionel meine Nummer gegeben.
"Du hast dem Neuen meine Nummer gegeben. Wie kommst du dazu? Ich habe dir vertraut", fiel ich mit der Tür ins Haus.
Nick hatte seine Lesebrille auf und machte vermutlich Schularbeiten, als er mir öffnete. Er war groß und sehr schlank mit schwarzen Wuschelhaaren. So hatte ich mir immer Harry Potter vorgestellt. Wahrscheinlich waren wir deshalb so gute Freunde geworden, weil ich eine ganze Weile glaubte, er wäre ein verschollener Verwandter von ihm. Da wir beide Buch-Freaks waren, verstanden wir uns auf Anhieb prächtig.
"Wenn du die Karten für das Konzert zurückhaben willst ..."
"Die Karten kannst du behalten. Ich habe dir gesagt, dass sie von Lion sind. Ich gehe nicht da hin. Aber frag mich nächstes Mal, bevor du einem Psycho meine Nummer geben willst", maulte ich ihn an.
Ich stürmte an ihm vorbei in das wunderschöne Haus seiner perfekten Eltern, was ich alles zusammen zutiefst beneidete. Der Einrichtungsstil war minimalistisch und hell. Passend dazu roch es immer super sauber nach frisch aufgetragener Möbelpolitur und Reinigungsmitteln mit dem Duft von exotischen Blumen. Dreimal in der Woche kam ein Reinigungsteam einer Firma aus der Stadt. Meiner Meinung nach etwas übertrieben für einen Drei-Personen-Haushalt. Mein bester Freund hatte jedoch ein paar Allergien, bei denen niemand wusste, woher sie kamen. Ich schätze, es waren die Putzmittel oder meine Wenigkeit, die ihn so empfindlich gemacht hatte. Tam stimmte darin mit mir überein. Sie sagte, ich hatte das Potenzial, andere in den Wahnsinn zu treiben.
"Warum immer ich", stöhnte ich, ließ mich auf das weiße Ledersofa im Wohnzimmer fallen und zog die Beine an, um mein Kinn darauf zu legen.
"Er schien nett zu sein", sagte Nick entschuldigend, als er sich neben mich setzte.
"Boah, Nick! Was hat dich dazu gebracht, das zu denken? Sein Aussehen oder dass er eine nicht zu übersehende Ähnlichkeit mit Lion hat?"
Nick nieste. Das ging auf mein Konto. Er hatte unter anderem eine Katzenallergie.
"Was hat er denn gemacht?", fragte er besorgt.
"Mit anderen das Auto eines Mitschüles geklaut. Es gab außerdem eine Schlägerei, wobei jemand ins Koma fiel", sagte ich fröstelnd. Mit lief es kalt über den Rücken, wenn ich daran dachte.
Nicks Augen weiteten sich. "Das hat er dir einfach mal so erzählt?"
Ich hob die Schulten. Nach wie vor war mir nicht klar, wieso Lionel interessiert an mir war oder sich aufgeweckt mit mir über unsere Probleme unterhielt. Fälschlicherweise dachte ich, er hätte schon neue Freunde gefunden, doch mit unseren Klassenkameraden hatte ich ihn noch nicht reden sehen. Wenn ich wissen wollte, was es damit auf sich hatte, blieb mir nichts anderes, als der Sache auf den Grund zu gehen.
"Ich hatte das Gefühl, dass er sich große Vorwürfe macht. Das sollte er auch bei diesem Vorfall", sagte ich ratlos. "Bitte behalte es für dich. Er will nicht, dass sich das rumspricht. Melton könnte sonst Probleme kriegen. Er ist mit Lionels Mom zusammen. Lionel rechnet damit, dass sie heiraten werden und kommt klar damit."
"Ich kann mir Melton gar nicht mit einer Familie vorstellen", entgegnete Nick mit gekräuselter Stirn.
"So kann man sich irren. Lionel will, dass seine Mom glücklich ist. Er scheint nicht dagegen zu sein, dass Melton sein Stiefvater wird."
"Und was machen wir jetzt? Mir gefällt das alles nicht. Ich hätte ihm deine Nummer nicht geben dürfen", erklärte Nick. Die Selbstvorwürfe waren auf seine Stirn geschrieben.
"Tja, da fällt mir nur eine Lösung ein. Wir brauchen Cloe."
"Nicht Cloe." Nick fuchtelte außer sich mit den Händen. Cloe war seine Cousine. Sie war ein paar Jahre älter als wir und arbeitete bei einer Zeitung. Schon früh hatte sie Kontakte zur Presse geknüpft und ein Praktikum ergattert. Sie war uns eine große Hilfe gewesen, als Nick und ich den Mord an Mrs Andrews' Wellensittich aufklären wollten. Er war jedoch nicht ermordet worden sondern an Altersschwäche gestorben. Aber das wussten wir damals nicht. Mrs Andrews war eine herzensgute Dame aus der Nachbarschaft mit langen, grauen Haaren, die mich bat, für ein paar Tage ihre Blumen zu gießen und mich um den Vogel zu kümmern, während sie ihre Schwester besuchen wollte. Stolz nahm ich den Auftrag an, wässerte wie von ihr gewünscht das Gemüse und versorgte den Wellensittich. Eines Tages lag das Vögelchen jedoch tot in seinem Käfig. Mir fiel nichts anderes ein, als Nick um Rat zu fragen. Der wiederum schaltete Cloe ein, die uns den detektivischen Rat gab, eine Beerdigung zu arrangieren. Seitdem ist Cloe meine Ansprechpartnerin bei Vorkommnissen fragwürdiger Herkunft. Sie handelte mit einem bemerkenswerten Eifer, der mich tief beeindruckte. Inzwischen hat sie alle nötigen Beziehungen dazugewonnen, mit denen sich Fälle wie der von Lionel aufklären lassen.
"Nicht Cloe", flehte Nick weiterhin.
"Doch. Es ist mehr oder weniger deine Schuld, dass ich in diesem Schlamassel bin", erinnerte ich ihn.
"Aber was soll sie denn machen?"
"Sie hat Beziehungen", sagte ich wie selbstverständlich. "Alles, was wir brauchen, ist ein Einblick in Lionels Polizeiakte. Ich glaube nicht, dass er sich die Sache nur ausgedacht hat. Besser ist es trotzdem, auf Nummer sicher zu gehen. Wir können beide besser schlafen, wenn wir wissen, ob er die Wahrheit sagt."
Damit hatte ich Nick überzeugt. Mit dem Rest würde ich fertig werden.
Wenn ich mich nicht vorher verliebte.
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Ich bin eindeutig zu sehr auf Harry Potter fixiert 😅 Einen Freund wie Nick habe ich mir immer gewünscht 💕
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