Die Arbeit ruft

Ich lag auf dem Bett und starrte seit einer Viertelstunde die Buchseite eines spannenden Mittelalterromans an, den ich vor meiner Trennung mit Lion zu lesen begonnen hatte. Nicht einen Satz der Seite hatte ich mir in den letzten Minuten eingeprägt, obwohl ich von solchen Büchern kaum die Finger lassen konnte. Ich reservierte seit Jahren jede Woche ein paar Stunden extra für mein Lieblingshobby und machte es mir dabei richtig gemütlich. In letzter Zeit jedoch war mir diese Gewohnheit entgleist. Ich fand es Zuhause unerträglich. Alles erinnerte an Lion. Die Küche, das Wohnzimmer und mein eigenes Zimmer.

Ich war froh über die Gesellschaft meines Katers und streichelte mit einer Hand sein weiches Fell. Maddox, der auf meinem Schoß lag, räkelte sich.

"Du hast nicht zufällig einen Rat für mich?"

Maddox schielte mich verschlafen an. Sein Leben kam mir unverschämt einfach vor.

"Du bist ein Glückspilz. Weißt du das?"

Maddox streckte eine Pfote nach mir aus und kuschelte sich wieder hin.

Ich legte das Buch weg. Mir war nicht danach, die Seite ein weiteres Mal zu beginnen. Lionels Vorgeschichte schlug mir viel zu sehr auf den Magen. Konnte ich unter dieser Voraussetzung guten Gewissens mit ihm befreundet sein? Ich war mir nicht sicher und rief Tam an. Auf dem Nachhauseweg war ich auf dem besten Weg gewesen, einen Schlussstrich zu ziehen, bevor Lionel mich verletzen konnte. Damit hätte ich Tams Gerede über meine Verletzlichkeit eine klare Zustimmung erteilt. Doch das war nicht, was ich wollte. Mein Instinkt hatte mich meinen ersten festen Freund gekostet. Ich hatte nicht erwartet, dass wir zusammen alt werden, aber auch nicht daran gedacht, dass es plötzlich endet. Der Zeitpunkt war ungünstig. Ich war 18, ohne Freund und ohne Perspektive. Meine Vorstellungen von einem gemeinsamen College-Besuch mit geteiltem WG-Zimmer waren zerstört. Ich würde mir ohne Lions finanzielle Hilfe nicht einmal eine Abstellkammer leisten können. Ich gab es nicht gerne zu, aber ich schaffte es nicht, auf eigenen Beinen zu stehen.

Die nächste Mittagspause verbrachte ich mit Lionel und Tam zusammen. Nachdem ich ihr am Telefon alles berichtet hatte, was sie gestern verpasst hatte, wich sie mir nicht mehr von der Seite. Das war auch stark nötig. Lionel mochte die Wahrheit gesagt haben und seinen Fehltritt bereuen, er war aber immer noch ein neuer Mitschüler, den ich nicht kannte. Ein viel zu heißer Mitschüler mit einem extrem scharfen Körper. Da mein eigener Körper seit der Trennung von Lion keinen Sex mehr hatte und Lionel in der Schule die meist Zeit neben mir saß, plagte mich ein heftiges Bauchkribbeln, das ich unmöglich abstellen konnte. Die Versuchung, meine Hände über seine Brustmuskeln gleiten zu lassen, war riesig. Ich hätte meine Vorsätze aufgegeben und Lionel an den nächsten Spind gepinnt, wenn Tam nicht gewesen wäre.

Wir rauften uns alle zusammen, wobei jeder in die Rolle schlüpfte, die er am besten beherrschte. Ich spielte die Taxifahrerin, Tam meine Beschützerin und Lionel den sexy Neuen. Am natürlichsten in ihrer Rolle war meine kleine Schwester Kitty. Lionel schien sie zu mögen, denn er hatte keine Probleme damit, sämtliche Fragen zu beantworten, die ihr einfielen. Hatte ich mich zu Beginn der Woche noch nicht dafür interessiert, war ich inzwischen Feuer und Flamme. In den Minuten, die wir zu viert im Auto verbrachten, verging die Zeit wie im Flug. Wir waren ein komischer Haufen. Ich amüsierte mich unerwartet und fand immer wieder etwas Neues heraus, wie den Umstand, dass Lionel einen Filmgeschmack hatte, der sich gut mit meinem verstand. Tam war überwiegend für romantische Serien zu haben, doch ich mochte genauso gerne Actionhelden-Filme. Unbeabsichtigt stellte ich meine Alarmsignale auf stumm und lauschte den Signalen meines Körpers. Vielleicht würde mir ein Abenteuer gut tun. Wie schwer konnte es schon sein, Sex ohne weitere Verpflichtungen zu haben?

Am Abend rief Tam an. Sie bat mich, am Wochenende im Marco's auszuhelfen: Eine Reisegruppe hatte sich angemeldet und dazu gab es noch eine Jubiläumsfeier. Ich sagte sofort zu. Das Geld konnte ich brauchen und auch sonst passte mir die zusätzliche Beschäftigung. Je mehr ich zu tun hatte, desto besser für meine Nerven. Lionels Magnetismus wurde langsam ein Problem für mich und das Warten auf Cloes Anruf zermürbte mich schon jetzt, obwohl ich wusste, dass es Zeit brauchte, die nötigen Informationen zu beschaffen. Ständig hoffte ich auf Entwarnung. Wenn Lionel nicht dafür verantwortlich war, dass sein Mitschüler im Koma lag, würde ich unserer Freundschaft eine Chance geben. Allerdings war mir nicht klar, wie diese aussehen sollte. Aber darum würde ich mich kümmern, wenn es soweit war. Zuerst musste ich mehr darüber herausfinden, was passiert war. Es gab Fehler, die jeder Mensch einmal machte. Einen Mitschüler ins Koma zu prügeln, gehörte in eine andere Kategorie.

Ich war froh, als ich am Samstag im Marco's gebraucht wurde. Ich fuhr gleich in der Früh hin. Tams Mom öffnete mir die Haustüre, ein unscheinbarer Hintereingang, von dem eine Treppe nach oben in die über der Pizzeria gelegene Wohnung führte. Mrs Ricci war eine herzliche Frau mit feurigen braunen Augen. Sie umarmte mich und verriet, dass meine beste Freundin noch schlief.

"Es ist ein Jammer mit ihr. Warum kann sie nicht Frühaufsteher sein wie du?", fragte Mrs Ricci vorwurfsvoll mit den Händen fuchtelnd.

"Ich kriege sie schon wach", lachte ich und rannte die Treppe hinauf, wo ich an ihre Zimmertüre klopfte. "Aufstehen. Tam, die Arbeit ruft!"

Mehr als ein Nuscheln war nicht zu verstehen, also riss ich die Türe auf, eilte zum Fenster und zog die Vorhänge weg.

Tam setzte sich auf. "Es ist Samstag, Mom."

"Weit gefehlt. Hier ist deine beste Freundin."

"Was willst du hier?", fragte Tam gähnend und fiel wieder aufs Bett.

Kopfschüttelnd setzte ich mich zu ihr. "Arbeiten. Genau wie du", erinnerte ich sie. "Los, zieh dich an. Wir sollten Frühstücken, bevor wir uns ans Werk machen."

Sandro, Tams älterer Bruder, war schon in der kleinen Küche, die zur Wohnung gehörte. Die eigentliche Küche der Pizzeria war das Herzstück des Hauses und lag unten beim Restaurant.

"Da ist ja meine Ersatzschwester", flötete Sandro mit der Stimme eines erfahrenen Verführers.

Ich wurde rot und sah beschämt weg. Einerseits war Sandro ebenfalls ein Bruder-Ersatz für mich. Andererseits hatte ich jahrelang einen Crush auf ihn, was mir immer noch peinlich war. Er war aber auch extrem gutaussehend. Seine Augen hatten dasselbe Feuer wie die von Mrs Ricci und sein Körper war fit wie ein Turnschuh. Mehrmals hintereinander hatte er beim lokalen Marathon einen der ersten drei Plätze belegt.

Tam kam in die Küche, als ich den Tisch gedeckt hatte und Sandro gerade Rührei auf den Tellern verteilte. Wir waren ein eingespieltes Team. Wir kochten zusammen internationale Gerichte für die Familie, arbeiteten zusammen unten in der Pizzeria und gönnten uns hin und wieder einen Filmabend. Die Riccis waren wie ein Teil Familie für mich, nur eben fröhlicher, lauter und aufgeweckter als es bei Mom, Kitty und mir zuging. Sie taten mir gut. Ein zweiter positiver Aspekt war, dass mich in ihrer Mitte kaum etwas an Lion erinnerte.

"War da gestern etwa jemand aus?", zog Sandro seine Schwester auf, die ihre Haare zu einem schlampigen Dutt hochgesteckt hatte und noch ziemlich verschlafen aussah.

"Pah. Im Gegensatz zu dir muss ich meinen zukünftigen Ehemann erst noch finden", antwortete Tam spitz. Sie wollte es nicht zugeben, aber sie war eifersüchtig auf Agnes, die sich ins Herz ihres Bruders geschlichen hatte und Mrs und Mr Ricci um den kleinen Finger wickelte. Ich mochte sie. Jedoch war es schwer für Tam, einen Teil der Aufmerksamkeit an sie abgeben zu müssen. Als jüngstes Mitglied der Familie war sie stets von allen verhätschelt worden. Daran hatte sich aus meiner Sicht kaum etwas geändert. Tam war frei wie ein kleines Vögelchen, das nach Belieben hier und dort hin flattern konnte. Sie musste nur ihren Schulabschluss hinbekommen und wenn es eng wurde in der Pizzeria aushelfen. Ansonsten fand man sie regelmäßig im Barrel Club House, wo sie sich austobte und Männern den Kopf verdrehte.

"War Lion im Barrel?", fragte ich. Vor ein paar Tagen hätte ich diese Frage nicht vor Sandro stellen können. In dieser Woche hatte ich zum ersten Mal richtig über Lion gesprochen.

"Lion und noch ein paar andere."

"Also Janet", ergänzte ich und war erstaunt, dass es mir keine Schwierigkeiten machte, ihren Namen in den Mund zu nehmen. Ich hatte schon erwartet, dass beide dort waren. Alle in meiner Jahrgangsstufe trieben sich am Freitagabend im Barrel herum. Nur ich ging allen aus dem Weg.

Nach dem Frühstück legten wir los. Mr Ricci war bereits unten in der Küche und erwartete uns zur Teambesprechung, während Mrs Ricci Milchshakes, Cappuccino und Kaffee an die ersten Gäste verteilte. Sie fing um 9 Uhr morgens mit der Arbeit an und hörte erst am späten Abend auf. Dazwischen lag oft nur eine kurze Mittagspause, die sie oben auf der Couch zubrachte, um die Beine hochzulegen. Es war ein Glück für Tam, dass Agnes bereit war, auf diesen Zug aufzuspringen. Irgendwann würde Sandro in die Fußstapfen seiner Eltern treten und Agnes war genau die richtige Unterstützung für ihn.

Sandro und ich fuhren zum Markt. Wir hatten eine große Bestellung Salatköpfe, Gemüse und Erdbeeren abzuholen. Weiter ging es zum Fischmarkt, wo frische Muscheln und Garnelen auf uns warteten. Wieder im Marco's verstauten wir unsere Besorgungen im Kühlraum. Anschließend zog ich mich oben um. Meine Arbeitskleidung bestand aus einem Set schwarzer Röcke mit weinroten Blusen, auf die in geschwungener Schrift mein Vorname eingestickt war. Ich band meine brünetten Haare hoch und betrachtete mich im Spiegel. Heute gefiel mir mein Gesicht zum ersten Mal wieder. Die ersten drei Wochen nach der Trennung hatte ich schreckliche Augenringe.

Unten stellte sich schnell die übliche Routine ein. Stunde um Stunde verging, während ich Getränke, Pasta, Salate, Pizzen und Nachtisch zu den Tischen balanciere. Als ich angefangen hatte, im Marco's auszuhelfen, war ich erstaunt gewesen über die Kombination aus Milchshake und Knoblauch-Pizza. Inzwischen schreckte mich fast nichts mehr ab, außer die schlechten Manieren mancher Menschen. Die gab es Tag für Tag. Tatsächlich sprach mich auch diesmal jemand auf unpassende Weise an. Ein Kerl mit gegelten schwarzen Haaren, vermutlich 30 Jahre alt, der mit drei anderen Männern an einem Tisch saß. Er schob seinen Kopf vor meine Brust, weit außerhalb meiner Komfortzone, und sagte: "Schöne Augen."

Solche und andere Sprüche hörte ich öfter. Ich war grundsätzlich zufrieden damit, dass ich Moms blaue Augen hatte. Aber sie hatten nichts mit dem Job zu tun.

Ich überging das Kompliment, das natürlich nicht als solches gemeint war, und stellte den heißen Teller ab. "Ihre Spaghetti mit Meeresfrüchten."

"20 Mäuse, wenn ich deinen Arsch anfassen darf."

Ich ignorierte den Kerl und machte wie gewohnt weiter. Als ich jedoch nach einer Weile zu ihm musste, um das Geschirr abzuräumen, sprach er mich wieder an.

"Bist du immer so prüde?"

Ich lachte fast. Ich war ganz bestimmt nicht prüde. Ekelhafte, schmierige Kerle waren nur nicht mein Geschmack.

Ich konzentrierte mich auf die Monotonie der Atmung und sammelte das Besteck und die zur Hälfte leer gegessenen Teller ein. Als ich mich umdrehte und damit zur Küche gehen wollte, fasste mir der schmierige Kerl an den Arsch.

Erschrocken zuckte ich zusammen. Das Geschirr glitt mir dabei fast aus den Händen. Gerade so konnte ich es noch halten. Als Nächstes stand ich wie am Boden festgeklebt da und hielt meine Tränen zurück. Was sollte ich tun? Ihm das Geschirr über den Kopf ziehen? Ich war kurz davor, die Nerven zu verlieren. Es war nicht das erste Mal, dass mich jemand anfasste. Gewissen Leuten war einfach egal, wenn sie sich über andere hinwegsetzten. Sie interessierten sich einen Scheiß für deren Gefühle. Das war nicht in Ordnung so.

"Lass sie gehen. Du hast schon wieder zu viel getrunken, Stan", sagte einer der Männer am Tisch des schmierigen Ekels.

Ich hörte Abscheu in seiner Stimme. Das war keine Entschuldigung, aber wenigstens etwas. Ich setzte mich in Bewegung. Meine Beine waren bleischwer. Endlich erreichte ich die Küche, wo ich das Geschirr abstellte. Ich zitterte vor Ekel und wusch mir gründlich die Hände. Ich fühlte mich unglaublich schmutzig.

Nachdem ich mich für eine kurze Pause abgemeldet hatte, rannte ich unter Tränen aufs Klo. Der Hass auf diesen schmierigen Kerl staute sich so in mir, dass ich mich über der Kloschüssel übergab.

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Wie wird es jetzt weitergehen? Welche Person kann Delia jetzt helfen?

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