Twenty

C E L I A

Es fühlte sich zu dieser frühen Stunde erstaunlich befreiend an, wie meine nackten Füße die violette Yogamatte berührten. Die Sonntagssonne war noch nicht aufgegangen, hin und wieder wehte die frische Morgenluft in mein Schlafzimmer herein und ließ mich angenehm erschaudern.

Sonstige Geräusche und Bewegungen nahm ich gar nicht wahr, denn die meisten im Wohnviertel schienen noch zu schlafen- meine Eltern mit eingeschlossen, oder verließen nicht das Haus, bevor die Umgebung keiner Helligkeit erliegen war und draußen eine eisige Kälte herrschte.

Die Stille schenkte mir die Möglichkeit, mich leichter auf mich selbst- auf meinen Körper und meine Atmung zu konzentrieren. Ich hielt gedanklich Störenfriede von mir fern, versuchte nur das aufzunehmen, was mir gut tat und ergab mich vollkommen der Entspannung hin.

Ich hatte über ein ganzes Jahr lang meine Gewohnheiten vernachlässigt, womit ich keineswegs zufrieden war, da normalerweise die Routine meinen Alltag prägte. Es würde zwar noch dauern, bis alles seinen gängigen Gang einnahm, aber ich war fest entschlossen, daran zu arbeiten.

So startete ich meinen Tag wieder mit Yoga, weil das im Vergleich zu den anderen Dingen einfach umzusetzen war und mich nicht in die schrecklichste Phase unseres Lebens zurückversetzte. Viel mehr half es mir, zur Ruhe zu kommen und all das Negative für einen Moment zu vergessen.

Damals als sich Enzos Gesundheitszustand drastisch verschlechtert hatte, er immer schwächer wurde, rückte nahezu alles, was nicht ihn betraf, stark in den Hintergrund. Demzufolge auch meine Hobbies. Von der Routine war seither nichts mehr übrig geblieben.

Ich glaubte immer, ich würde die Kontrolle über mein Leben verlieren, sobald ich nicht meinen üblichen Aktivitäten nachging. Dabei geriet meine ganze Welt erst dann ins Schwanken, als mein Bruder kraftlos im Krankenbett lag, und brach völlig zusammen, nachdem er aufhörte zu Atmen.

Dadurch nahmen die Dinge erst recht einen anderen Lauf, wovon ich mich bis heute nicht gänzlich erholen konnte. Weder ich noch meine Eltern. Wir hatten uns eine lange Zeit lang nicht getraut, so weiterzumachen wie bisher, weil alles, was wir einst mit ihm taten, sich falsch angefühlt hatte.

Ich war mit diesem Gefühl am stärksten betroffen. Schließlich wuchsen Enzo und ich wie Zwillinge auf. In ihm fand ich meinen besten Freund, den ich nie gesucht hatte. Es gab so ziemlich nichts, was wir nicht miteinander geteilt hatten. Jeden Schritt im Leben gingen wir gemeinsam.

Als ihm aber bewusst wurde, dass er nur noch seine letzten Atemzüge nahm, wollte er, dass ich anfing zu lernen, ohne seiner Stütze zu laufen. Meine eigenen Entscheidungen traf, mir Ziele setzte, die ich nicht aus den Augen verlor und vor allem nicht das vergaß, was mich ausmachte.

Wie es jedoch unschwer zu erkennen war, scheiterte ich und brach mein verdammtes Versprechen. Ich ließ zu, dass das Klavier, das ihm so wichtig war, Staub fing, bloß weil ich nicht mutig genug war, um mich darum zu kümmern. Ich hatte seinem wertvollsten Besitz jegliche Achtung verweigert.

Enzo hatte immer behauptet, dass das Klavier uns beiden gehören würde. Dem wollte ich bis heute kein Glauben schenken. Es war seins gewesen. Von uns beiden war definitiv er das musikalische Genie, ich dagegen war nur ein unscheinbares Ebenbild, welche er tagtäglich gelehrt hatte.

Wieder dachte ich viel zu viel nach, dabei wollte ich das während meiner Entspannungsphase vermeiden. Mit neuer Konzentration begab ich mich schlussendlich zurück in die ursprüngliche Position und atmete ein letztes Mal tief aus, bevor ich die Augen langsam wieder öffnete.

Jetzt war ich energiegeladen und bereit, den Rest des Tages zu überstehen. Es stimmte mich zwar ein wenig unruhig, nicht zu wissen, was mich erwartete, da ich vorhersehbare Ereignisse bevorzugte, aber mein Gefühl verriet mir, dass heute keines dieser langweiligen Sonntage war.

Seit sich Cole immer weiter in mein Leben einnistete, worüber ich jegliche Kontrolle verlor, verlief kein anderer Wochentag mehr eintönig. Er schubste mich kaltblütig ins Unwissen, zeigte mir Neues und brachte mir vor allem bei, auch die Zufälligkeiten furchtlos anzuerkennen.

Er schenkte mir dieses Abenteuer, welches ich mir gewünscht hatte, wobei ich selbst entschied, ob ich Entschlüsse mit meinem Herzen oder meinem Verstand fasste. Ich konnte nicht leugnen, dass ich die Oberhand mittlerweile sogar freiwillig ersteres überließ. Nämlich meinem Herzen.

Cole gab mir die Chance, meine bisher unentdeckten Gefühle zu erkunden, ohne dass er mich zu irgendetwas drängte. Er war geduldig mit mir, wofür man diesen Jungen wahrlich krönen sollte. Doch vor allen Dingen war ich mit ihm an meiner Seite wieder mit allen Sinnen lebendig.

Natürlich war es erschreckend, wie sicher ich mir dabei war, dass er mich mit Leichtigkeit brechen und alles in mir erlöschen konnte. Doch trotz der höllischen Angst, ihn an mich auch emotional heranzulassen und somit der Gefahr, verletzt zu werden, wollte ich es riskieren.

Zu Cole eine Bindung aufzubauen war eben genauso wie mit Feuer zu spielen, es war falsch und absolut gewagt, denn je weiter man es berührte, desto mehr würde es letztlich schmerzen, aber bislang hielt es mein Herz für richtig. Das Hier und Jetzt war alles, was zählen sollte.

Nachdem ich mich aus diesem schwarzen Loch endlich herausziehen konnte und anfing zu lernen, mit Enzos Verlust anständig umzugehen, schwor ich mir auch, nicht der Vergangenheit nachzutrauen. Mich an Neues heranzuwagen, Risiken einzugehen und weiterzuleben.

Durch Cole könnte ich mich nun selbst testen und sehen, ob ich tatsächlich stark genug war, um meinen Schwur einzuhalten. Ich verstand zwar nach wie vor nicht, wieso um alles in der Welt das Schicksal uns beide zusammengewürfelt hatte, aber diesem Zufall war ich unglaublich dankbar.

Ich stattete dem Badezimmer einen Besuch ab und ging im Anschluss frisch gekleidet hinunter in die Küche, weil ich unbedingt eine Kleinigkeit frühstücken musste. Kurzerhand später griff ich nach den Cornflakes und der Packung Milch, ehe ich beides in eine Müslischale schüttete.

Dummerweise vergaß ich schon wieder meinen Laptop mitzunehmen, um damit Modern Family weiterschauen zu können, da ich gerne beim Essen, sofern ich natürlich alleine aß, nebenbei in Zeitschriften blätterte oder eben Serien schaute. Ich war gezwungen, Option B auszuführen.

Dementsprechend entsperrte ich seufzend mein iPhone und öffnete sogleich die App, bevor die Folge an der Stelle startete, wo ich das letzte Mal gestoppt hatte und lehnte das Handy gegen ein Wasserglas an. Hoffentlich waren die nächsten siebzehn Minuten weiterhin nur mir selbst gegönnt.

Inmitten der Folge, mein Frühstück war bereits so gut wie leer, unterbrach plötzlich ein Anruf das Gespräch zwischen Claire und Phil. "Ich werde erst gar nicht nachfragen, ob ich dich geweckt habe, denn ich bin mir sicher, dass du schon seit einer guten Stunde wach bist."

Ich lächelte, als ich Coles Stimme vernahm. "Und ich werde erst gar nicht nachfragen, wieso du diese Kenntnis besitzt", erwiderte ich, stellte auf Lautsprecher und schob mir dann das letzte Mal den Löffel in den Mund, damit ich die Schale gleich in die Spülmaschine einräumen konnte.

"Gute Entscheidung", meinte dieser lachend. "Soll ich wenigstens ein wenig höflich sein und nachfragen, ob ich dich bei etwas störe?", fügte er hörbar belustigt hinzu. "Nun ja, du rufst achteinhalb Minuten zu früh an", brachte ich irgendwie kauend und daher nuschelnd hervor.

"Isst du gerade etwa?", bekam ich von ihm verwundert zu hören. Auf meine Anspielung, dass eigentlich noch Celia-Zeit war, ging er überhaupt nicht ein. "Nicht mehr", antwortete ich diesmal mit leerem Mund. "Wieso beehrst du mich denn jetzt mit deinem Anruf? Ist etwas passiert?"

Auf der anderen Seite der Leitung ertönte ein abruptes Rascheln, welches ich ganz als das Pfeifen des Windes wiedererkannte. Offenbar hielt er sich draußen auf. "Wie wäre es, Kleeblatt, wenn wir diese Unterhaltung weiterführen, nachdem du mir die Haustür geöffnet hast?"

Ich verweilte keine Sekunde länger in der Küche, sondern sprang von meinem Stuhl auf und eilte aufgeregt zur Haustür. Cole hatte sich dicht neben die Tür seitlich angelehnt, ein Lächeln zierte sogleich seine Lippen, als er mich sah, und ich fragte mich, wie lange er wohl hier draußen stand.

Mir wurde unter seinem Blick ganz warm und sein Erscheinen zu dieser Uhrzeit erfüllte mich mit einer gewissen Vorfreude, da er bestimmt nicht grundlos hergekommen war. Er hatte sicherlich Pläne, die er jetzt mit mir in die Tat umsetzen wollte. Diese Vorstellung war fantastisch.

Noch bevor ich ihn ausgiebiger begrüßen und ihn auf die sichere Seite ziehen konnte, fielen meine Augen plötzlich auf das weiße Verband, das um seine rechte Hand gewickelt war. Erschrocken zog ich die Luft ein. Cole merkte mir meine Besorgnis sofort an, weshalb er rasch beteuerte, dass es nichts ernstes sei.

"Gestern Abend hattest du die Verletzung noch nicht!", ignorierte ich trotzdem gekonnt seine Worte, die eigentlich zur Ermunterung dienen sollten, und nahm vorsichtig die verwundete Hand in meine, ehe ich fürsorglich einen hauchzarten Kuss auf sein Handrücken platzierte.

Sein Gesichtsausdruck wurde weicher. Ich wusste nicht, ob es tatsächlich so war oder ob ich es mir bloß einbildete, aber er blickte mich irgendwie mit voller Hingabe an. Liebvoll und ehrlich. Ich konnte es nicht definieren, jedoch hatte er mich zuvor noch nie auf dieser unsinnig vertraut wirkenden Weise angesehen.

Ich ertappte mich dabei, wie ich mir wünschte, dass ich ihm genauso wichtig wurde wie er mir und er auch jede einzelne Sekunde unserer gemeinsamen Zeit schätzte. Mein Herz machte einen Satz, als Cole seine Hand an meine Wange führte. Genießerisch kam ich seiner Geste entgegen und schmiegte mich an sie.

"Mir geht es gut, es tut nicht einmal weh. Hör bitte auf, dein hübsches Gesicht mit lästigen Sorgenfalten zu verunstalten. Okay?", sprach er sanfmütig, womit er mich diesmal überzeugte. Ich nickte kaum merklich, lächelte schwach und versuchte wirklich, die Beunruhigung zu verwerfen.

Cole strich im nächsten Moment die nervigen Haarsträhnen hinter mein Ohr und umfasste dann mein Gesicht mit seinen Händen, während er mir innig in die Augen schaute. "Ich bin hier, um dich für einen Spaziergang in den Park zu entführen. Zieh dich warm an und wir können los."

Allmählich verzogen sich meine Mundwinkel zu einem Grinsen, meine Vermutung bezüglich seiner möglichen Pläne hatte sich so eben bestätigt. Zweisamkeit unter freiem Himmel hörte sich wahnsinnig gut an. "Ist es fragwürdig, dass ich mich sogar gerne von dir entführen lasse?", erwiderte ich gespielt grübelnd, worauf mein Gegenüber amüsiert auflachte.

"Darüber denkst du am besten nach, während du dich fertigmachst", sagte Cole anschließend auffordernd, womit er mir verdeutlichte, dass er keine Zeit mehr verlieren wollte. Daher begab ich mich mit ihm zusammen zurück in mein Zuhause, somit er nicht in der Kälte warten musste.

"Gib mir zehn Minuten!", rief ich ihm noch zu, derweil ich die nach oben führenden Treppenstufen betrat. Cole schüttelte verneinend den Kopf. "Du kriegst fünf!" Als Dank für seine außerordentliche Gütigkeit streckte ich ihm nur neckisch die Zunge heraus, was schon genügte.

Die nächsten sieben Minuten verbrachte ich damit, warmhaltende Kleidung anzuziehen, meine Haare zu einem Zopf zu binden, welchen ich natürlich mit einem Haarband schmückte und mich nochmal im Badezimmer frisch zu machen. Gott, das war die reinste Herausforderung gewesen.

Schließlich nahm ich den Hausschlüssel an mich und ließ diesen sogleich in meiner roten Manteltasche verschwinden, bevor die schwere Tür leise ins Schloss fiel. Ich lächelte Cole schwach zu, als er mir einladend seinen Arm entgegenhielt, damit ich mich bei ihm einhaken konnte.

Der Weg zum Park verlief unvermutet schweigsam. Ich wagte nicht, die Stille zu unterbrechen. Die kleine Falte, die sich auf seine Stirn geschlichen hatte, beunruhigte mich zutiefst. Ich spürte, dass ihn etwas bedrückte, konnte jedoch nicht einordnen, worüber er sich so den Kopf zerbrach.

Cole nachdenklich zu erleben war kein Anblick, den man jederzeit zu sehen bekam. Natürlich liebte er die Ruhe und genoss diese unscheinbaren Momente, in denen er bloß seinen Gedanken nachgehen durfte, aber das unterschied sich gewaltig mit dem, was ich nun vor Augen hatte.

Im Park machte sich wieder der Wind bemerkbar, indem er die Äste der Bäume, welche an Mengen von Blättern bereits verloren hatten, hin und her schüttelte. Es kam mir vor, als würde es sogar mich auffordernd anstupsen, damit ich endlich der Totenstille zwischen uns ein Ende bereitete.

Bei dem nächsten Windstoß, der wirklich spürbar kam, schaute ich grimmig in die Höhe. Vielleicht war das auch nur Gott, der Mutter Natur darum gebeten hatte, mir einen ihrer Schützlinge zu schicken, weil er glaubte, dass ich es alleine nicht gebacken bekam.

Keine Ahnung, ob ich ihm dankbar sein oder mich beleidigt fühlen sollte, da er mich offenbar für unfähig und mutlos hielt. Aber nein, dem war garantiert nicht so, deswegen führte ich auch beim nächsten Atemzug meine freie Hand behutsam an Coles linke Schulter, damit er auf mich achtete.

Wie ironisch, dass in derselben Sekunde der Wind verstummte, gar aufhörte, mich zu terrorisieren. Als hätte er seinen Job erfolgreich erledigt und konnte nun verschwinden. "Mi amor, was beschäftigt dich?", fragte ich bedachtsam nach, ohne ihn zu einer Antwort drängen zu wollen.

Ich überlegte, einen meiner unlustigen Witze zu reißen, um die Stimmung zu erheitern, jedoch merkte ich, dass ihm überhaupt nicht zum Lachen zumute war. Er würde höchstwahrscheinlich nicht einmal über mein idiotisches Gerede schmunzelnd den Kopf schütteln, was normalerweise der Fall war.

Wortlos deutete Cole auf die Sitzbank, die einige Meter von uns entfernt stand. Ich begriff sofort, dass er sich mit mir lieber so unterhalten wollte. Automatisch beschleunigte ich meine Schritte, somit er gezwungen war, ebenfalls schneller zu laufen, bis wir uns auf die Bank niederließen.

Einen Herzschlag danach umfasste er meine Hände und hielt sie fest, während wir uns tief in die Augen schauten. Ich konnte in ihnen die Farbe des dichten Nebels wiederkennen, der an manchen Tagen die ganze Stadt umhüllte. Trostlos, betrüblich. Seine Gefühle widerspiegelnd.

"Celia, ich war nicht ehrlich zu dir", flüsterte er kaum vernehmlich wie eine zarte Brise im Sommer. Ich erschauderte bei seinen Worten und kräuselte verständnislos die Stirn, weil ich mir kein bisschen ausmalen konnte, wobei er mir gegenüber unaufrichtig gewesen war.

Er fuhr nicht sofort fort, sondern schenkte mir zuerst die Möglichkeit, das Geständnis zu verarbeiten, wofür ich ihm in diesem Moment echt dankbar war. "Welche Wahrheit hast du mir denn verschwiegen?", erwiderte ich dann ruhig. Ich wollte ihm die Chance, sich zu erklären, selbstverständlich geben.

"Ich weiß, dass du dir Mühe gemacht hast. Denk gleich bitte nicht, dass ich es nicht wertgeschätzt hätte oder mir nicht bewusst war, wie wichtig es dir ist", beteuerte er eindringlich. Es war erschütternd, wie plötzlich eine viel zu zittrige Reue in seiner Stimme steckte.

Nicht wissend, was ich erwidern sollte, nickte ich bloß stumm und entschied, für diesen Moment nur noch ihn sprechen zu lassen. "Ich habe gar kein Lampenfieber. Eigentlich fällt es mir sogar recht einfach, vor fremden Menschen zu singen, wenn ich nicht dieses komische Denken hätte."

Cole wartete zögerlich meine Reaktion ab, die ich ihm erst nicht geben konnte, weil ich viel zu perplex war. Sein Missfallen während unseres Trainings war so simpel erklärbar und trotzdem war ich die ganze Zeit über dermaßen blind gewesen, dass ich dummerweise nicht das Offensichtliche erkannt hatte.

Auf einmal lachte ich hell auf. Vermutlich aus Verzweiflung, weil meine Menschenkenntnisse den Geist aufgegeben hatten und ich anscheinend diese nicht länger besaß. Auch interessant. Ich merkte, wie ihn das Schmunzeln, das sich auf meine Lippen gelegt hatte, verunsicherte.

"Du bist nicht sauer auf mich", brachte Cole vorsichtig hervor, dabei hörte ich nach wie vor die Skepsis, aber auch eine gewisse Erleichterung in seiner Stimme heraus. "Bin ich nicht, nein. Dir hat wohl der Gedanke, dass ich deshalb sauer werde, eine riesen Angst eingejagt", stellte ich berührt fest.

Unwillkürlich schaute er schüchtern auf unsere Hände. Ich glaubte zu sehen, wie seine Mundwinkel nach oben zuckten und konnte kaum fassen, dass ich ihn eben tatsächlich in Verlegenheit gebracht hatte. Irgendwie bekam ich das Gefühl nicht los, dass er sich heute anders verhielt.

Er wirkte vor allem erschöpft- so als hätte er die Nacht kein Auge zugedrückt und reagierte ungewohnt emotional und sensibel, dass ich mich beinahe davor fürchtete, etwas falsches zu sagen. Am liebsten hätte ich ihn nur noch in den Arm genommen und nicht mehr losgelassen.

"Weißt du, ich habe die Liebe zur Musik von meinen Eltern geerbt." Mein Atem stockte für einen Bruchteil einer Sekunde, denn bisher hatte er in meiner Gegenwart kein einziges Wort über seine Eltern verloren. Jetzt wurde mir auch bewusst, dass das nicht grundlos der Fall gewesen war.

"Meine Mutter war die Hauptsängerin der Band, die mein Vater als Jugendlicher mit seinen engsten Freunden gegründet hatte. Er selbst war der Gitarrist und Songschreiber der Gruppe", erzählte er mir lächelnd, wobei mir nicht entging, wie seine Augen erfreut leuchteten.

"Waren sie erfolgreich?", wollte ich neugierig wissen, worauf Cole meine Frage mit einem eifrigen Nicken beantwortete. "Sie konnten zwar leider nicht ihren großen Durchbruch erleben, aber ihr Bekanntheitsgrad war so hoch, dass sie als Vorgruppe auf großen Konzerten auftraten."

"Das klingt echt aufregend!", gab ich begeistert von mir, derweil ich nicht gegen das leichte Grinsen ankam, das sich während seiner Erzählung in mein Gesicht geschlichen hatte. "Was passierte danach?", hakte ich sofort tiefer nach, womit ich ihm ein kleines Lachen entlockte.

Sein Blick strahlte so viel Wärme aus, dass ich mir zu gerne jedes kleinste Detail seines Gesichts gut einprägen wollte. "Es war kein Geheimnis, dass sie sich ineinander verliebten, also folgte Jahre später ihre Hochzeit. Zu diesem Zeitraum... war Mom mit mir schwanger gewesen."

Abrupt änderte sich bei seinem letzten Satz viel zu rasch seine Mimik, ohne dass ich dazu etwas entgegnen konnte. Erneut traute ich mich nicht, einer Erwiderung anzusetzen. "Als ich endlich auf die Welt kam, waren sie überglücklich, sodass die Band und ihre Karrieren in den Hintergrund rückten."

Ich konnte nachvollziehen, wieso er plötzlich so betrübt klang. Dieses Thema war für ihn gewiss keins, das er bei jedem ansprach. Das merkte ich alleine daran, dass er hierbei ungewöhnlich schnell sensibel wurde. Umso mehr schätzte ich jede Sekunde dieses bedeutenden Moments wert.

"Celia, ich kann dir nicht aus eigener Erfahrung von meinen Eltern erzählen, sondern nur das, was ich von anderen erzählt bekommen habe", entfuhr es ihm aufgewühlt. Mich überkam eine böse Vorahnung. "Ich war erst drei Monate alt, als sie bei einem schrecklichen Autounfall ums Leben kamen."

Mir standen Tränen in den Augen, bevor ich es überhaupt merken und kontrollieren konnte. Ich hatte keine Ahnung, dass er unter diesen Umständen aufwuchs. "Deswegen teilst du deine Musik nicht mit anderen. Es ist nämlich das Einzige, was dich emotional mit ihnen verbindet", hauchte ich zittrig.

Mein Herz schmerzte, als ich mich die Erkenntnis traf, dass ich mich perfekt in seine Gefühlslage hineinversetzen konnte. "Die Musik ist alles, was ich von ihnen übrig habe. Ich behalte sie für mich, weil ich Angst davor habe, dass mir diese Leidenschaft von belanglosen Menschen genommen wird."

Ich konnte die einzelnen Tränen längst nicht mehr zurückhalten, sie bannten sich ihren Weg nach unten und hinterließen einen salzigen Nachgeschmack. "Ich weiß wirklich nicht, wie ich es dir verständlicher erklären kann, weil mir die richtigen Worte dafür fehlen. Das ist eben meine komische Denkweise."

Er löste langsam seine Finger aus meinen und senkte den Blick. Das nutzte ich aus, um meine Tränen wegzuwischen. "Du hältst mich jetzt bestimmt auch für verrückt und albern. Ich verstehe das", murmelte er, was mich in gleicher Zeit außer Fassung brachte. Wie konnte er nur so etwas behaupten?

"Du irrst dich", traute ich mich endlich wieder dem zu äußern. Er durfte keinesfalls glauben, dass ich es komisch fand, wie er das, was ihm nahe am Herzen lag, beschützen wollte. Es hatte ihn Mut gekostet, seine Geschichte mit mir zu teilen und es war nur fair, wenn ich ihm dasselbe mutig entgegen brachte.

"Cole, erinnerst du dich noch an die Andeutung von Suela? Dass wir uns hierbei ähneln würden", rief ich ihm zaghaft ins Gedächtnis. "Als wir dann alleine waren, haben wir uns flüchtig darüber unterhalten und ich sagte zu dir, dass mich meine musikalische Aktivität nicht mehr glücklich macht."

Er nickte wissend. Wortlos verdeutlichte er mir anhand eines Blickes, dass er diesen Zwischenfall auch nie vergessen hatte. "Am selben Tag hast du im Musikraum panisch reagiert, weil ich meinte, dass du du etwas auf dem Klavier spielen könntest", ergänzte er anschließend nachdenklich.

"Ja, und das war ganz bestimmt nicht deswegen, weil ich dich nicht mit meinen miserablen Künsten belästigen wollte. Dazu habe ich andere Mittel", gab ich halb im Scherz zurück, womit ich ihn leise zum Lachen brachte. Auch wenn dieses Thema heikel war, musste die Stimmung nicht zwingend wie auf einer Beerdigung sein.

Bisher war ich nie jemandem eine Erklärung schuldig gewesen, denn all meine Mitmenschen wussten ohnehin, wie mein Verhältnis zu Enzo war und wie schwierig es für uns nach seinem Tod wurde. Aus diesem Grund versuchte ich angestrengt die richtigen Worte zu finden.

"In Wahrheit war ich früher eine leidenschaftliche Klavierspielerin", gab ich endlich zu. "Du weißt schon, so eine, die jahrelang von den besten Lehrern unterrichtet wurde, auf wichtigen Galas der Eltern die Gäste mit einem Musikstück begrüßte und der ganze noble Scheiß eben."

"Verdammt Celia, und ich dachte schon, du wärst nicht so eine. Enttäuschend, wie du nicht meine Erwartungen erfüllst", erwiderte Cole verschmitzt lächelnd. Ihm war sicherlich nicht bewusst, wie viel er mir vereinfachte, wenn er mich selbst in solch einer Situation neckte.

Im nächsten Augenblick wurde er jedoch ernster. Er musterte mich diesmal mit einer Spur von Besorgnis, da er wohl spüren musste, dass nun der schmerzliche Teil dieser Tragödie folgte. "Was ist geschehen, dass du aufgehört hast? Denn offensichtlich hast du das Klavier geliebt."

Meine Finger fanden von alleine den Weg zu meiner Halskette und begannen, an dem Anhänger herumzufuchteln, während ich mich mental darauf vorbereitete, Enzos Namen gleich laut aussprechen zu müssen. "Weißt du, ich bin nicht das einzige Kind meiner Eltern, das Klavier spielte."

Ich beobachtete ihn genau und merkte, wie sich sofort sein Ausdruck veränderte. Die Verblüffung stand ihm im Gesicht geschrieben. "Mein Bruder war das eigentliche Wunderkind der Familie gewesen. Er hat so viel bewirkt und so viel mit seiner Musik zum Ausdruck gebracht."

Ein schwaches Lächeln umspielte meine Lippen, wenn ich daran zurückdachte, wie er die ganzen Menschen mit seinen Melodien bewegt hatte. "Trotz den ganzen hochkultivierten Klavierlehrern, habe ich von ihm am meisten gelernt. Er brachte mir die Liebe zur Musik näher."

Tief atmete ich durch, wandte meine Augen von den Bäumen ab und sah wieder zu Cole, welcher mich einfühlsam betrachtete. "Enzo war an Medulloblastom erkrankt. Er verlor zwar nie die Freude an seiner größten Leidenschaft, aber dafür den Kampf gegen seinen Hirntumor. Danach war nichts mehr wie davor. Ich kann das Instrument nicht einmal mehr ansehen, weil mir das Klavier nur noch zu verstehen gibt, dass der wichtigste Mensch in meinem Leben fehlt."

Hätte ich vor einundeinhalb Jahren das mitsamt seiner Krankheit erwähnt, hätte ich längst bitterlich angefangen zu weinen. Nun merkte ich, dass ich für meinen Bruder keine einzige Träne mehr übrig hatte. "Scheiße", entfuhr es Cole ziemlich aufgelöst. Das war ungelogen die beste Reaktion, die ich je zu Gesicht bekommen hatte.

Dankbar dafür, dass er wusste, dass ich mich durch mitleidige Blicke, Worte und halbherziges Bedauern nur noch mieser fühlen würde, stimmte ich dem trocken zu. "Wir sind seinetwegen auch oft umgezogen, weil meine Eltern immer auf der Suche nach den besten Ärzten und Behandlungen waren."

"Was wohl nichts gebracht hat", murmelte Cole und ich glaubte zu erkennen, wie sich dabei seine Augen allmählich mit Tränen füllten. "Ja, denn das ironische an der ganzen Sache ist, dass nicht der beschissene Tumor meinen Bruder getötet hat", kam es mir verbittert über die Lippen.

Ich hielt einen Moment lang inne, als ich nochmals unweigerlich diesen schrecklichen Morgen in Gedanken Revue passieren ließ. Mir wurde richtig mulmig zumute. "Enzo war sich seinem Tod so unfassbar sicher gewesen, dass er sich letztendlich das Leben nahm und allem ein Ende setzte."

Irgendwie tat mir dieses Kapitel weh...

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