Thirty five
C O L E
Heute war einer dieser Sonntage, an dem das gesamte Haus genüsslich nach Nanas Plätzchen duftete. Mir hatte ihr selbst gemachtes Gebäck gefehlt. Ich holte mir einen grünen Apfel aus dem Kühlschrank, während ich nachfragte, ob ich ihr irgendwie behilflich werden könnte.
Sie verneinte und wischte den Herd. Ich war in Versuchung, die Entscheidung, etwas Gesundes zu essen, zu canceln, aber leider lagen die Kekse noch im Ofen. Enttäuscht kostete ich den Apfel, der säuerlich schmeckte. Sie beobachtete mich belustigt. "Hast du dein Zimmer aufgeräumt?"
Ich war in Ruhe am Zocken gewesen und ging ihr erfolgreich aus dem Weg, um genau solche Fragen zu vermeiden. Dementsprechend sperrte ich mich in meinem Gamingzimmer ein, damit sie mir bloß keine Arbeit auftrug, und nun bereute ich, diese Schutzblase verlassen zu haben.
"Natürlich?", schwindelte ich und biss nochmal in die Frucht rein, um mein verräterisches Grinsen zu verstecken. Der chaotische Kleiderhaufen auf dem Boden, mein nicht gemachtes Bett und die stickige Luft in diesen vier Wänden, erzählten eine andere Geschichte. Gott, war ich faul.
Nana seufzte tief, doch ich sah, wie ihre Mundwinkel zuckten. "Du solltest endlich lernen, deine Pflichten vor das Vergnügen zu stellen. Sonst verbiete ich dir noch deine PlayStation." Ich erinnerte mich zurück an die harten Zeiten, als sie vor mir oft meinen Nintendo versteckt hatte.
Ich würde nicht behaupten, dass meine Leistungen schlecht gewesen waren. Allerdings hatte ich diese rebellische Phase, zwischen achter und neunter Klasse, in der ich mich absolut wenig der Schule widmete. Meine Welt hatte sich nur um Videospiele oder um die Musik gedreht.
Alles, was ich liebte, mich jedoch ablenkte, war vor ihr nicht mehr sicher gewesen, bis ich irgendwann selbst begriff, dass ich mehr lernen musste. Ich brachte gute Noten nach Hause und sie hörte endgültig mit ihren strengen Maßnahmen auf. Heute war ich ihr wirklich dankbar dafür.
Meine Selbstdisziplin oder mein Verantwortungsbewusstsein gewann ich nämlich vor allem durch sie, da es ihr schon immer wichtig gewesen war, mir beizubringen, selbstständig zu leben. Ihre Worte, von wegen ich müsste lernen, pflichteifriger zu sein, meinte sie daher bloß neckisch.
"Also Nana, ich bitte dich, ich bin keine zehn Jahre alt mehr", gab ich gespielt empört zurück, worauf sie herzlich auflachte. "Stimmt, du bist fast zwanzig, und trotzdem wirst du für mich immer der kleine Junge bleiben, dem ich länger als nötig die Schnürsenkel binden musste."
Ich kräuselte die Nase, da ich es hasste, wenn sie mich auch heute noch damit aufzog, dass ich mir eine unnatürlich lange Zeit lang nie die Schuhe binden konnte. Ich war zu unfähig gewesen, simple Schleifen zu kreieren, und nun flocht ich manchmal Celias komplizierte Haare. Verrückt.
Beim Vorbeigehen kniff Nana mir in die Wange. Ich verzog gequält die Miene. "Ich wünschte nur, ich hätte dich besser erzogen, was deine Lügen anbelangen." Ich starrte ihr nach, während sich alles in mir unangenehm zusammenzog. Bei jeder freien Gelegenheit hielt sie es mir vor.
Nein, nicht nur sie. Auch Gray. Sie setzten mich beide unter Druck, damit ich Celia endlich von meiner Exfreundin erzählte, obwohl erst zwei Tage vergangen waren. Zwei beschissene Tage, in denen ich das Gefühl hatte, dass Amara überall war. Ihretwegen wurde ich so scheiße paranoid.
Das ging schon so weit, dass ich gestern geglaubt hatte, ich hätte sie in der Bar gesehen. Glücklicherweise konnte ich mich aber schnell davon überzeugen, dass sie nur Einbildung gewesen war. Zumindest schwor ich mir, an diesem Abend keinen einzigen Gedanken mehr an sie zu verschwenden.
Ich hatte es tatsächlich geschafft, eine sorgenfreie Zeit mit meinen Freunden zu verbringen und mit Celia zu schlafen. Nach dem Sex kam ich mir wegen der Lügengeschichte zwischen uns allerdings so dermaßen elendig vor, dass ich bis zum Morgengrauen kein Auge zugedrückt hatte.
Ich hätte sie stoppen müssen, doch mich überfiel die Angst, dass sie meine Zurückweisung vollkommen falsch auffassen könnte, also schaltete ich meinen Vernunft ab und ließ mich auf sie ein. Und fuck, es war eine heiße Nacht gewesen, weshalb ich mich umso schuldiger fühlte.
Irgendwie musste ich dringend den richtigen Moment erschaffen, in welchem ich sie über diese unberechenbare Furie in Kenntnis setzte. Gray hatte nämlich mit seinen Worten Recht behalten, als er meinte, diese Lüge würde mich ruinieren. Dummerweise rauchte ich seither auch mehr.
Aus einer Zigarette pro Woche wurden fünf an einem Tag und schon allein das fiel mir schwer, es vor Celia zu verbergen, da sie so sofort verstehen würde, dass etwas nicht stimmte. Die Antwort durfte nicht lauten, dass ich wegen meiner verfluchten Exfreundin wieder regelmäßig rauchte.
"Cole, auf deinem Gesicht bilden sich noch Sorgenfalten, wenn du weiter dort stehst und dich verrückt machst", mahnte mich Nana, als sie mit einem Glas in der Hand nochmals in die Küche lief. "Sprich mit ihr Klartext und ich verspreche dir, sie wird es verstehen. Du zweifelst zu viel."
Und plötzlich störte es mich, dass weder sie noch Gray nachvollziehen konnten, wie beschissen es mir mit dieser Situation ging. Ich schaffte es nicht, mit Leichtigkeit auszusprechen, dass ich betrogen und verlassen wurde, weil sich das unüberwindbar demütigend angefühlt hatte.
Morgens aufzuwachen und diesen Brief vorzufinden, der nur zwei Sätze beinhaltete, die aber mächtig genug gewesen waren, um mein gesamtes Leben ins Schwanken zu bringen. Ich kann das nicht mehr. Lebe wohl. Mehr stand da nicht. Nur verfickte neunzehn Buchstaben.
"Vielleicht geht es gar nicht um Celia und wie sie darauf reagieren wird, sondern um mich", entfuhr es mir bestimmt, woraufhin Nana auf der Stelle das Geschirr aus den Händen ließ. Seit Amaras Ankunft hatte ich kein einziges Wort darüber verloren, was ich hierfür verspürte. Nicht einmal.
Ich lehnte mich an den Kühlschrank und kämpfte gegen das starke Bedürfnis an, meinen Hinterkopf immer und immer wieder dagegen anzuschlagen. Dieser Schmerz sollte den, den ich brennend in meinem Herzen fühlte, einfach nur übertrumpfen. Alles kam wieder hoch.
"Ich verstehe es nicht. Ich dachte, ich hätte abgeschlossen. Ich habe sie verdrängt und aufgehört, sie zu lieben", murmelte ich und spürte einen Augenblick später, wie mich Nana in ihre Arme zog. "Warum tut es dann so weh wie am Tag, als ich sie endgültig verloren habe?"
Sie drückte mir einen Kuss auf die Schläfe, während ich mich Trost suchend an sie klammerte. "Manchmal reagiert das Herz anders als der Verstand", sprach sie sanft. Ich wollte diesen Schwachsinn nie glauben, weil ich der Meinung gewesen war, es würde mich niemals betreffen.
Jetzt tobte ein verdammter Tornado in mir, kam mit voller Wucht zurück, und mir blieb keine andere Wahl übrig, als Nanas Worten Glauben zu schenken. Amara hinterließ mir mit ihrem Verschwinden eine solche Wut und Enttäuschung zurück, die sich in mir fest eingenistet hatten.
Ich hatte keine Ahnung, wie ich das wieder loswerden würde. Oder ob ich es jemals vergessen würde. Vermutlich nicht. Es würde jederzeit da sein. Wenn ich sie sah, an sie dachte oder mit ihr sprach, würde ich mich immer an den Jungen zurückerinnern, den sie zunichte gemacht hatte.
Celia gab mir die Hoffnung, wieder leidenschaftlich lieben zu können, ohne dass ich mich von meiner Vergangenheit beeinflussen ließ. Dass ich neue Wege einschlug. Dabei sickerten die Gefühle für Amara nur tiefer nach unten, versteckten sich hinter dem, was ich für Celia empfand.
Nun kämpften sie sich zurück an die Oberfläche, trieben mich in den Wahnsinn, dass nicht einmal mehr Kleeblatts Zauber ausreichte. Es war nämlich stärker. Ich verachtete mich selbst. Ich war so schwach, dass ich nicht gegen Amaras zerstörerischen Einfluss ankam.
All das geschah innerhalb von 48 Stunden. Mehr benötigte es anscheinend auch gar nicht, um mich wieder die Bitterkeit meines Schicksals spüren zu lassen. Ich war am Ende. Kanada heilte mich nicht, sondern lehrte mich nur, wie man erfolgreich Gefühle und Probleme verdrängte.
Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und versuchte mich zu fassen, bevor ich mich aus Nanas sicheren Umarmung löste. Sie musterte mich besorgt. Mir brach es das Herz, dass sie Angst um mich hatte. "Mir geht es gut", sagte ich. "Ich bin mir gerade über Einiges klargeworden."
Wenn ich diesen Fluch Herz gegen Verstand brechen wollte, musste ich meinem Herzen die Chance gewähren, Amara gänzlich loszulassen. Das funktionierte nur, sobald ich mit ihr diese beschissene, aber klärende Unterhaltung führte. Obwohl es mich Überwindung kosten würde.
Je schneller ich es hinter mich brachte, desto besser und höher war die Wahrscheinlichkeit, dass ich diesmal meinen Frieden finden würde. "Ich werde mit Amara reden. Nur ein Gespräch", beantwortete ich Nanas unausgesprochene Frage. "Danach verdient Celia die ganze Wahrheit."
•°
Es war erstaunlich, dass mich die Pflichten, die mir meine Großmutter letztlich doch aufzwingen konnte, bestens abgelenkt hatten. Meine Frustration galt eher der Tatsache, dass die Pflege von vieler Kleidung verdammt anstrengend war. Ich hasste es, die Wäsche zu machen.
Ich bereute schon meine Entscheidung von vor zwei Tagen, als ich mir neue Sweatshirts bestellt hatte. In meinem Kleiderschrank mangelte es an reichlich Platz und mein Bankkonto weinte, weil ich es nicht mehr atmen ließ. Oh ja, ich würde auch heulen, wenn ich weiter so viel ausgab.
Ich redete mir Vernunft ein, indem ich beschloss, meine monatlichen Ausgaben auf die Hälfte zu reduzieren und schlenderte aus dem Badezimmer, wo glücklicherweise alles erledigt wurde. "Cole, bring noch den Müll raus!", rief Nana aus dem Wohnzimmer, während sie häkelte.
"Bring noch den Müll raus", äffte ich sie im Flur nach, was sich als großer Fehler herausstellte. Ich war in Reichweite gewesen, weshalb ein Hausschuh aus dem Raum katapultiert wurde, dem ich gerade noch so ausweichen konnte. "Mach das nochmal und ich ziele das nächste Mal richtig!"
Ich verkniff mir einen provokativen Spruch, den ich normalerweise auf der Stelle gebracht hätte, und ging stattdessen Rose Carvers Befehl ausführen. Sonst landete der andere Schuh wirklich an meinem Kopf. Angewidert verzog ich das Gesicht, als ich die verfaulten Essensreste entdeckte.
Wenig später trat ich nach draußen und steuerte auf die Mülltonnen zu. Manchmal fragte ich mich, wieso man nervige Menschen nicht auch da hineinzustecken durfte. "Witzig, dass ich dich immer beim Müll Rausbringen erwische!" Ja, solche Menschen wie Amara zum Beispiel.
Ich schloss einen Herzschlag lang die Augen und atmete tief durch, damit ich meine Beherrschung bewahren konnte, bevor ich ihr ins Gesicht blickte. So schnell wollte ich sie nun auch wieder nicht treffen, aber bekanntlich war sie unverschämt und drängte einen gerne.
"Sehr witzig. Soll ich dich auch reinstecken?", erwiderte ich trocken und passend zu meinem Gedankengang. Ich deutete auf die Tonne, was sie zum Lachen brachte. "Du hast eigentlich bessere Beleidigungen drauf." Ich verdrehte die Augen und warf die Müllsäcke in ihre Plätze.
"Was willst du?", fragte ich, wobei ich sie genauer betrachtete. Heute trug sie ihre Brille. Ich erinnerte mich unwillkürlich an den Moment, als wir uns diese gemeinsam ausgesucht hatten. Sie entschied sich für diese, da ich zu ihr meinte, dass sie mit dieser wunderschön aussah.
Ich war schon immer gut genug gewesen, um ihr ein sicheres Gefühl zu geben, sobald sie mit ihren Komplexen zu kämpfen hatte. Ich baute sie auf, wenn sie nicht an sich selbst glaubte. Alles andere wollte sie von Reece. Ich genügte ihr nicht. Sie wollte seine verfickte Liebe spüren.
"Reden natürlich", erwiderte Amara sanft. Ihre lose Strähne, die ich früher sofort hinter das Ohr gestrichen hätte, bewegte sich im Takt des Windes. Sie störte mich. "Du hast exakt drei Minuten", ließ ich sie wissen, denn länger würde ich sie nicht ertragen. Ich brachte nur so viel Geduld auf.
Sie runzelte leicht die Stirn. Selbstverständlich bot ich ihr nicht das an, was sie sich insgeheim von mir erhofft hatte. "Meinst du das ernst?", gab sie erwartet irritiert zurück. "Oh, jetzt sind es schon 176 Sekunden. Nutz deine Zeit lieber sinnvoll, statt unnötige Fragen zu stellen."
Amara engte ihre Augen zu Schlitzen und stemmte die Hand in die Hüfte. "Nein danke, deine mickrigen drei Minuten sind nicht das, was ich will." Ach, diese Hexe nahm sich tatsächlich das Recht, wählerisch zu werden? Gut, dann hielt mich nichts mehr davon ab, wieder reinzugehen.
"Auf Wiedersehen, Amara", wandte ich mich mit diesen Worten von ihr ab und schüttelte den Kopf. Das nächste Mal würde ich ihr nochmal die Chance geben, zu akzeptieren, wie dieses Gespräch ablaufen würde, aber heute hatte sie sich das verspielt. Ich besaß ohnehin nicht die Nerven dafür, also gewann ich.
"Nutzen wir die übrigen Sekunden doch dafür, um über deine tolle Freundin zu sprechen." Mein ganzer Körper spannte sich an. Sie benutzte meinen Schwachpunkt, um mich hierzubehalten und ich Idiot fiel darauf widerstandslos rein, weil es verdammt nochmal um meine Celia ging.
Amara fing meinen fragenden Blick auf und lächelte mir selbstgefällig zu. "Dich interessiert sicher, was sie getan hat." Sie minimierte den Abstand zwischen uns. "Wovon redest du?" Ich verstand gar nichts mehr. Woher sollte sie überhaupt wissen, was Celia tat oder sein ließ.
"Ich habe gestern rein zufällig mitbekommen, wie sie dir einen Anruf verschwiegen hat. Es war nicht ihre Mutter, Cole." Mein Gehirn fing an die Information zu verarbeiten, bis es auf einmal Klick machte. Draußen vor der Bar. Ich hatte mir Amara nicht eingebildet. Sie war da gewesen.
Dennoch misstraute ich ihren Worten. Was wenn sie bloß bluffte? Es war schon krankhaft genug, dass sie uns belauscht haben musste. Ich traute dieser Furie alles zu. "Wir wissen beide, dass du nichts nur aus reinem Zufall mitbekommst. Ich kann nicht fassen, dass du uns gefolgt bist."
Sie lachte ungläubig auf. "Deine Freundin belügt dich, aber mir machst du die Vorwürfe?" Nichts, was du nicht auch schon getan hättest. "Ich kann mir diesen Bullshit wirklich nicht geben. Auf Wiedersehen, Amara!" Diesmal schaffte ich es, sie am Straßenrand stehen zu lassen.
In meinem Zimmer schnappte ich mir mein Instrument und legte mich auf mein Bett. Mit den Gedanken bei dieser komischen Unterhaltung, die definitiv einen unerwarteten Lauf angenommen hatte, zupfte ich an den Saiten meiner Gitarre, aber es lenkte mich nicht ab.
Ich weigerte mich, Amara Glauben zu schenken, weil ich Celia natürlich vertraute. Zumindest wollte ich ihr vertrauen. Mir fiel nicht einmal etwas ein, wobei sie hätte unaufrichtig sein können, und trotzdem nagte es an mir wie ein Bieber an seinem Holz. Irgendetwas ergab überhaupt keinen Sinn.
"Du fantasierst, Junge", ermahnte ich mich selbst, als mir mein Verstand diverse Vorstellungen unterjubelte, die allesamt Celia als eine Schuldige darstellten. Nein, sie war ehrlich. Ich war in dieser Beziehung der Mistkerl, der die Lügen auftischte, und damit sollte ich es auch belassen.
Sie hatte nichts zu verbergen. Sie wusste, sie konnte mir alles erzählen, also hätte sie keinen Grund für irgendwelche Geheimnistuereien. Und was wenn nicht? Ich atmete tief durch. Amaras Psychospiel zeigte allmählich die Wirkung, die ich krampfhaft zu vermeiden versucht hatte.
Es war schließlich offensichtlich gewesen, dass sie mir das bloß erzählte, um irgendeinen Keil zwischen Celia und mir zu treiben. Ich war nicht dumm. Es störte sie, dass ich nun mit einer anderen Frau glücklich war. Sie mochte keine Veränderungen, also wollte sie es mir sabotieren.
Wenn ich das schon weiß, sollte ich aufhören, immer noch an meiner Freundin zu zweifeln. Seufzend fuhr ich mir durch mein Haar. So musste sich Celia gestern wohl auch gefühlt haben, als ich mich abgrundtief scheiße aufgeführt hatte. Allerdings war ihr Misstrauen berechtigt.
Egal, sie würde später vorbeikommen und da würde es sich gewiss zeigen, wer nun von beiden die Wahrheit erzählt hatte. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass sie sogar in zehn Minuten vor der Haustür stehen könnte. Solange hielt ich mich mit den negativen Mutmaßungen zurück.
Stattdessen spielte ich die Melodie, mit der mich meine Mutter in den ersten drei Monaten meines Lebens in den Schlaf gesungen hatte. Das Video war eines der wenigen Dinge, die ich von ihr übrig hatte. Nur so erfuhr ich, wie lieblich sie geklungen hatte und prägte es mir für die Ewigkeit ein.
Mit Dads Gitarre ihre namenlose Melodie zu spielen, beruhigte meine Sinne. Es war für mich eine Möglichkeit, mich ihnen nahe zu fühlen. Ich baute zu ihnen eine irrsinnig tiefe Verbindung auf. Die Musik ließ mich für einen bedeutsamen Moment vergessen, dass ich ein Waisenkind war.
Manchmal fragte ich mich, ob die Entscheidungen, die ich traf, anders ausgefallen wären, wenn mich meine Eltern geleitet hätten. Ob sie darüber wütend gewesen wären, dass ich wegen eines einzigen Menschen ein gesamtes Jahr meines Lebens einfach über den Haufen geworfen hatte.
Mir fiel es schwer zu glauben, dass sie meinen Umzug in ein nordamerikanisches Land bewilligt hätten. Vielleicht wäre aber auch all das gar nicht geschehen, wenn sie noch leben würden. Mein Leben hätte sich nicht Greenwich abgespielt. Mein jetziges Zuhause wäre mir fremd geblieben.
Es klopfte an meiner Zimmertür. Auf mein Zeichen trat Celia herein. Vermutlich hätte ich sie auch niemals getroffen, wenn mir Mom und Dad eine andere Welt gezeigt hätten. "Hey, deine Nana hat mich rein gelassen", sagte sie, während sie ihre Tasche rasch auf meinen Schreibtisch stellte.
"Oh, ich habe die Klingel gar nicht gehört", erwiderte ich wahrheitsgemäß und legte meine Gitarre sorgfältig auf den Boden. Sie setzte sich fröhlich zu mir auf die Bettkante. Erst jetzt fiel mir die kleine Pappschachtel auf, die sie in ihren Händen hielt. Es weckte meine Neugierde.
"Was ist das?" Ihr Blick wurde sanfter und ich glaubte, Stolz zu erkennen. "Eine kleine Belohnung für deinen gestrigen Mut, das Publikum zu begeistern." Unser gelungenes Duett. Der Moment, in dem all unsere Probleme nicht mehr existent schienen. Gestern war alles noch viel schöner.
Ich öffnete die Schachtel. Ein Keks erwartete mich, der mit dem Schriftzug Glückwunsch verziert war. Der bunte Zuckerguss ließ das herzförmige Gebäck unschuldig, so süß wirken. Dabei roch es nach schlechtem Gewissen und Schwindel. "Danke." Ich hauchte ihr einen Kuss auf die Fingerknöchel.
Anscheinend reagierte ich nicht überzeugend genug, denn sofort wies ihr Gesichtsausdruck Sorge vor. "Geht es dir gut? Du siehst blass aus." Nein. Ich war wütend auf mich selbst, weil ich Amaras Worte als den Sieger krönte. "Ich war heute nur nicht an der frischen Luft. Das ist alles."
Celia nickte verstehend. Ich wusste nicht, ob sie mir das abkaufte, doch sie hakte nicht weiter nach. "Ich hole mir schnell ein Glas Wasser." Sie stand auf und bevor ich mich davon abhalten konnte, fragte ich nach ihrem Handy. "Ich habe meins verlegt und will es anklingeln. Darf ich?"
"Natürlich", murmelte sie, fischte das iPhone aus der Tasche heraus und warf es in meine Richtung. Ich fing es geschickt auf und wartete einige Sekunden, bis sie den Raum verlassen hatte. Mir wurde unwohl. Ich war in Versuchung, das Handy meiner Freundin zu kontrollieren.
Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und gab schließlich ihren Pin ein. Sofort sprang mir eines unserer Fotos entgegen, das sie als Hintergrundbild festgelegt hatte. Unbeirrt davon tippte ich missmutig auf das grüne Telefonsymbol. In ihrer Anrufliste steckte die Wahrheit.
Ein verpasster Anruf von Elijah, während wir im Café saßen. Ein eingehender Anruf von Elijah, als wir uns in der Bar amüsierten. Sie verschwieg mir exakt drei Minuten und dreiundzwanzig Sekunden. Ich sah weder den Anruf von Suela noch von ihrer Mutter. Das machten gleich zwei Lügen.
Ich klammerte das Handy noch fester, dass meine Knöchel weiß wurden. Meine Atmung beschleunigte sich. Seinetwegen hatte sie mich mit etwas so Belanglosem belogen. Wegen ein paar Anrufe, die sie genauso auch hätte in meiner Gegenwart tätigen können. Das tat weh.
Und plötzlich war ich nicht nur auf mich selbst, sondern auch auf Celia wütend. Sie wusste, wie ich über diesen Kerl dachte. Sie wusste, dass ich ihm nicht vertraute, weil er verfickt nochmal ein Auge auf meine Freundin geworden hatte und dennoch war es Elijah, den sie mir verheimlichte.
"Du musst die Kekse deiner Nana probieren. Sie hat mir eben eines davon aufgedrängt und es schmeckte himmlisch!", betrat sie wieder das Zimmer, mit voller Euphorie und nichts ahnend von der Erkenntnis, die mich gerade getroffen hatte. Ich hätte ihr nichts von all dem angesehen.
"Mir ist etwas aufgefallen, als ich mich anklingeln wollte", setzte ich ruhiger an als ich mich fühlte. In mir drinnen herrschte ein verdammtes Chaos, ich wusste gar nicht, wie ich damit umgehen sollte. Zuvor herrschten zwischen uns nie solche Unaufrichtigkeiten. Ich begann, sie setzte fort.
"Was denn?", gab Celia merklich verunsichert zurück. Scheu kam sie auf mich zu. "Ich fand es komisch, dass kein einziger Anruf von den Leuten auf der Liste steht, die dich gestern angeblich angerufen haben." Ihre Augen weiteten sich, irgendwie beängstigt, bevor sie die Miene verzog.
"Scheiße!", zischte sie und fasste sich an die Schläfe. Ich stand ruckartig auf und schleuderte ihr Handy mit voller Wucht zurück auf die Bettdecke. "Warum wollte er dich sprechen?" Sie zuckte unter meinem harten Ton zusammen und selbst ich erschrak, weil ich ihr gegenüber laut wurde.
"Cole, ich verstehe, wie das für dich wirken muss", sagte sie beschwichtigend, als sie merkte, dass ich eine verdammte Erklärung forderte. "Beantworte meine Frage, Celia." Sie bedeutete mir, dass wir uns setzen sollten, doch ich entriss ihr meine Hand und trat einen Schritt zurück.
"Im Café habe ich dir nichts gesagt, weil ich dir deine Laune nicht noch mehr vermiesen wollte. Mir war klar, dass du dich über Elijahs Anruf ärgern würdest." Das war doch kein guter Grund, mir absichtlich den beschissenen Anruf zu verheimlichen. "Und was war am Abend vor der Bar?"
"Wir hatten eine schöne Zeit, dir schien es wieder besser zu gehen und ich hätte dir nur wieder die Stimmung verdorben, wenn ich dir dort erzählt hätte, worum mich Elijah bat." Celia traute sich nochmals, mir näherzukommen und legte die Hand an meine Wange. Diesmal ließ ich sie.
"Glaub mir, bitte", hauchte sie. "Ich bin unter anderem sogar hergekommen, um mit dir das zu besprechen." Meine Muskeln entspannten sich allmählich. In ihrer Stimme lag reine Ehrlichkeit, ich spürte, dass sie die Wahrheit sagte. "Auch wenn du das nicht von alleine erfahren hättest...-"
"Hättest du es mir erzählt?", vollendete ich sicherstellend. Celia nickte eifrig. "Natürlich, Cole. Ich will nicht, dass zwischen uns irgendwelche Geheimnisse stehen." Auf einmal wurde mir bewusst, welchen Fehler ich machte. Ich reagierte völlig über, obwohl meine Lügen ihre übertrumpften.
"Elijahs Vater wird übernächste Woche fünfzig Jahre alt. Dazu kommt, dass seine Firma ein wichtiges Jubiläum feiert", setzte sie wieder zu Sprechen an, während mein Kopf nach wie vor an ihrem vorherigen Satz hing. Keine Geheimnisse. Sie wollte keine Geheimnisse. Mein Magen rebellierte.
"Er hat mich gefragt, ob ich ihm dabei behilflich werden kann, zu Ehren seines Vaters eine große Feier zu organisieren. Schließlich habe ich ein Gespür für solche Planungen." Das klang in meinen Ohren nach einem Vorwand, um mit ihr Zeit verbringen zu können. Dieser Mistkerl.
"Was hast du geantwortet?", erkundigte ich mich vorsichtig und betete innerlich, dass sie Nein gesagt hatte. Celia zuckte mit den Schultern. "Dass ich es mir überlegen werde." Ich wollte eine Erwiderung geben, aber sie fuhr fort. "Mir war es wichtig, dass ich zuerst mit dir darüber rede."
Sie küsste mich zart auf die Wange, ließ mehrere Herzschläge lang ihre Stirn an meiner verweilen, während ich sie regungslos hielt, bis sie mit ihren zierlichen Armen meinen Körper umfasste. "Verzeih mir, bitte." Nein, ich war derjenige, der um Vergebung flehen musste.
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