Zehn
Kapitel 10
Wochen hatte ich damit zugebracht, nach Fotos zu suchen, von denen ich nicht einmal wusste, wie sie aussehen sollten. Wochen, weil es eben nicht so einfach war, heimlich in einem Haus herumzustöbern, in dem dich selbst leblose Gegenstände zu beobachten schienen. Wie oft Jisung, Seungmin, ein paar Mal sogar Changbin just in dem Augenblick durch die Tür eines Raumes gekommen waren, in welchem ich verbotenerweise irgendwo herumschnüffelte konnte ich gar nicht mehr zählen. Aber jedes Mal hatte ich Glück und sie erwischten mich weder mitten im Chaos kniend, wie Seungmin seinerzeit, noch mit der Hand in der sprichwörtlichen Keksdose. Ich wusste, sie waren misstrauisch, doch wenn sie in einem Zimmer waren, warum sollte ich nicht das Recht haben, ebenfalls dort zu sein?
Schwieriger als die Sache mit den Jungs aus seiner Crew, war also allenfalls die Begegnung mit Hyunjin selbst. Ich stellte fest, dass sich das mit dem Vergessen milderte, was wohl hauptsächlich daran lag, dass ich mir jeden Tag mehrmals wie ein Mantra all die Dinge vorsagte, an die ich mich erinnern wollte. Und das Wissen, dass ich durchaus ein gewisses Maß an Kontrolle halten konnte, machte mich mutig. Diese eigenwillige Art von Courage wiederum, schien Hyunjin ebenfalls wahrzunehmen und - wie ich sehr körperlich erfahren durfte - äußerst anregend zu finden. Immer noch hatte ich mein eigenes Zimmer und dieses betrat er wann immer er wollte, um jenen neuen, nachgerade unersättlichen, Hunger nach mir zu stillen.
Die Tage waren gefüllt mit Arbeit und sie waren hart, anstrengend und verlangten mir alles ab, die Nächte jedoch, waren ein verwirrender Cocktail aus Lust, wilder Leidenschaft und sanfter Hingabe.
Nur wenn er mich in sein Zimmer mitnahm - und ich hatte mich nicht getäuscht, es war spiegelverkehrt und nahezu identisch zu meinem - konnte ich sicher sein, dass nichts von dem, was mich erwartete sanft oder zärtlich sein würde. Dort wurde ich zu einem Objekt degradiert, dass er benutzte, wie er wollte... und ich liebte es. Es war eine neue Art von Lust für mich, ein raues Begehren, dass mich jedes Mal gierig verschlang und dem ich mich nicht entziehen konnte.
Meistens wachte ich nach solchen Nächten am nächsten Morgen allein in meinem eigenen Bett auf, nur ein einziges Mal war ich in seinem Bett erwacht und die Aufregung, die mich erfasste, als ich begriff, welche Chance sich mir dadurch bot, ließ mich alle Erschöpfung und träge Müdigkeit schlagartig vergessen.
Ich hatte bereits das ganze Haus auf den Kopf gestellt und war dabei auf diverse Fotos gestoßen, die ich allesamt in meinem Fotoband versteckte. Schnappschüsse, manche davon Polaroid-Aufnahmen, wobei ich nicht wusste, ob es die waren die Minho so verzweifelt verlangt hatte.
Jetzt bot sich mir die Gelegenheit in dem einzigen Raum zu suchen, zu dem ich sonst keinen Zugang hatte, oder in welchem ich meine Anwesenheit nur schwer erklären konnte, wenn ich erwischt wurde. Rasch kroch ich aus dem Bett, ignorierte meine Unterwäsche und schlüpfte - in Ermangelung etwas Besseren - in Hyunjins seidenen Halbmantel, der über dem Stuhl lag. Auf diese Weise notdürftig bekleidet begann ich meine Suche und zwar mit äußerster Vorsicht. Ich achtete auf jedes Detail, verschob weder Dekorationsgegenstände noch den Vorhang, traf auf Schlösser in denen der Schlüssel steckte und merkte mir wie dieser ausgerichtet war, oder wie viele Umdrehungen ich machte.
Behutsam zog ich Schubladen auf, schob meine Hand unter frisch duftende Wäsche oder achtsam tastend an Dingen vorbei, die nicht verrückt werden durften, die Aufmerksamkeit dabei immer auf die Geräusche aus dem Haus gerichtet.
Käme er herein und erwischte mich, wäre ich wohl in Erklärungsnot, aber ich hoffte mein halbnackter Zustand würde meine Verteidigung, dass ich nur auf der Suche nach frischer Wäsche war, untermauern. Was Besseres hatte ich nicht, also musste es genügen. So schnell und dabei gründlich wie möglich arbeitete ich mich voran und stieß tatsächlich auch in diesem Zimmer auf Fotos. Es waren alte Aufnahmen, zum Teil in schwarz-weiß und ein paar davon zeigten sogar Hyunjin im Kreis von mehreren jungen Männern, die wie eine eingeschworene Gemeinschaft in die die Kamera grinsten. Alle außer ihm. Er lächelte auf keinem dieser Bilder und er sah auch nicht wirklich direkt in die Kamera. Einen Moment lang verlor ich mich in der Betrachtung dieser Bilder und versuchte zu begreifen, was mich störte. Waren sie alt, oder auf alt gemacht? Die Kleidung wirkte zumindest wie aus einer anderen Zeit, aber das konnte natürlich auch nur Requisite sein. Am Ende legte ich die Fotos zurück, auf keinem davon war Minho abgebildet, und suchte weiter.
Ich fand eines von Jisung, tatsächlich auch eine Polaroidaufnahme, wenn auch kein Close up und schließlich wirklich noch zwei von Minho. Beides waren Polaroids, auf beiden wirkte er unendlich traurig und von dem bisschen, was ich von der Umgebung sah, glaubte ich zu wissen wo sie entstanden waren. Das Haus in den Bergen, die Außenterrasse. Der Ort, an dem Hyunjin auch von mir unzählige Fotos mit dieser Polaroidkamera gemacht hatte. Plötzlich schlug mein Herz wie wild und ich nahm die beiden Fotos zu Jisungs Aufnahme, während ich den Rest der Schublade kontrollierte und diese wieder zuschob.
Da hörte ich Rufen auf dem Flur und nur Sekunden später ging die Tür auf.
„Felix?"
Mit einem entschuldigenden Lächeln drehte ich mich halb herum, drückte dabei mit einer Hand den offenen Mantel gerade so halbwegs über meinen nackten Körper und ließ mit der anderen die drei Fotos in der Manteltasche verschwinden. Mein Herz schlug mir bis zum Hals.
„Was tust du da?"
„Ich... wollte etwas anziehen...", stammelte ich. Meine Stimme klang heiser und rau und meine schlechte Schauspielerei trieb mir die Schamesröte ins Gesicht. Aber womöglich war gerade das meine Rettung. Denn war Hyunjins Miene eben noch irritiert bis wachsam gewesen, wandelte sich der Ausdruck nun zu lüsterner Belustigung.
Mit wenigen Schritten war er bei mir, seine Hand fuhr ansatzlos unter den Stoff und er umschlang meine Mitte. Der Mantel klaffte auf und mein Puls raste.
„Ich würde ja sagen, das ist gar nicht nötig", raunte Hyunjin dunkel gegen meine Haut und küsste meinen Hals. Dann seufzte er. „Aber ich kann dich wohl nicht für immer hier einsperren." Damit schob er mich einen Schritt zurück, zog an der Kommode, an welcher ich stand, eine Schublade auf und schmunzelte.
„Bedien dich."
Mein Blick flackerte zu der Schublade.
„Ich wollte nur nicht meine..." hier brach ich ab und sah mich nach meinen verstreuten Kleidungsstücken um, bevor ich korrigierte „...nackt über den Flur laufen."
„Nein, nein, nein", wiegelte Hyunjin amüsiert ab. „So leicht kommst du mir jetzt nicht davon. Du ziehst jetzt etwas von meinen Sachen an und..." Er lächelte, strich über meine Wange und sein Blick glitzerte frivol. „... du lässt sie auch an. Ich betrachte das als Geburtstagsgeschenk. Ich will mich den ganzen Tag daran erfreuen, zu wissen, dass alles an dir mir gehört."
Mir entging die Zweideutigkeit seiner Worte nicht, aber ich lächelte, ließ es zu, dass seine Hand über meinen nackten Rücken bis hinab zur Rundung meiner Kehrseite glitt und dort liegenblieb. Mit einem Ruck zog er mich näher, der Mantel verrutschte erneut und das Papier in der Tasche raschelte leise.
Hatte er das gehört? Mein Herz pochte so laut, dass ich dachte es würde gleich zerspringen.
Aber nein, er schmunzelte nur ob meines überraschten Atemzugs und sein Mund streifte meinen.
„Und heute Nacht hole ich mir Stück für Stück zurück, was mir gehört."
♠
Vor dieser Nacht stand jedoch ein neuerliches kleines Event, dass der letzten exklusiven Party nicht unähnlich war. Dieses Mal war es zwar tatsächliche als Geburtstagsfeier deklariert, allerdings war auch hier das Publikum handverlesen. Noch mehr Gönner, die seiner Kunst huldigten, vielleicht ein wenig jünger und in ihren Avancen weniger diskret, was dafürsprach, dass es dieses Mal nicht die reichen Geldgeber waren, die hofiert werden mussten. Nein, es waren die - vermutlich nicht weniger reichen - Bewunderer, denen Hyunjin damit die Chance bot, einmal ganz nah an das Objekt der Begierde heranzukommen, bevor er mit der nächsten offiziellen Vernissage wieder in aller Munde war.
Jenes Objekt war dieses Mal nicht ich und auch nicht die wirklich großartigen Fotografien die ausgesucht worden waren, sondern er selbst. Ich wollte gar nicht wissen, wie viele obszöne Angebote er an diesem Abend bekam. Und obszön war hier wirklich in all seinen Facetten gemeint. Aber er schien es in vollen Zügen zu genießen und spielte geschickt mit so mancher Fantasie. So wie das ganze Spektakel ein wildes, fantasievolles Konstrukt war. Vor dem Haupttor und auf der Terrasse der Ausstellungsräume standen Feuerschalen, in welchen seltsame blaue Flammen vor sich hin züngelten und untermalt wurde die ganze Szenerie von einer leisen und dennoch wilden Musik, die etwas animalisches an sich hatte. Es war der 30. April, sein Geburtstag, oder auch Walpurgisnacht und er bediente wirklich alle Klischees, für ein Spektakel, das hier so fremd und exotisch wirkte. Der große Meister durchschritt mit viel Pomp die heiligen Hallen und ließ sich von jenen Begünstigten feiern, die die Ehre hatten, eingeladen zu sein.
Ich selbst war wie ein lebendiges Kunstobjekt in eben jene Szenerie eingepasst worden, mit einer ganz klaren Aufgabenstellung. Nicht reden, einfach nur gut aussehen. Das hieß auch, ich blieb dezent im Hintergrund und das wiederum räumte mir so einige Freiheiten ein.
Den halben Abend hatte ich damit verbracht, die Menschen zu beobachten und nach dem einen bekannten Gesicht zu suchen. Würde er sich hier hereinwagen? Konnte er es, ohne entdeckt zu werden? Wahrscheinlich nicht. Aber das Wetter war mies, es hatte im Verlauf des Tages immer wieder geregnet und deswegen war die Zugänge zur Terrasse verschlossen. Ich suchte trotzdem einen Weg hinaus, fand ihn über einen Notausgang und schlüpfte ungesehen, wie ich hoffte, in die dunkle Nacht.
Und jetzt? Ich konnte schlecht rufend das ganze Gebäude umrunden, also blieb ich eine Weile nur in den Schatten stehen und wartete. Wenn Minho hier war, würde er mich sehen, oder? Gefühlt stand ich eine kleine Ewigkeit in der feucht-kalten Nacht, tatsächlich waren es wahrscheinlich weniger als zehn Minuten, bis ein kaum hörbares „psst, Felix...", meine Aufmerksamkeit erlangte.
Schon wieder raste mein Herz, als ich den bekannten Haarschopf zwischen zwei mannshohen Sträuchern, außerhalb des Lichtkreises der nächsten Feuerschale, auftauchen sah. Rasch lief ich über das Stück Grünfläche, für einen Moment sicher gut zu sehen, im flackernd blauen Schein des Feuers, bevor ich ebenfalls in den Schatten abtauchte.
„Minho?"
Er lächelte schwach und sah mich an. „Du hast dich erinnert."
Es war eine schlichte Feststellung, die ich nicht weiter kommentierte sowie ich ihm auch nicht erklärte, wie oft ich drauf und dran gewesen war, gänzlich zu vergessen. Stattdessen musterte ich ihn und hatte Mühe, mein Erschrecken zu überspielen. Er sah einfach furchtbar aus. Dünn und abgemagert wirkte er, beinahe kränklich, so wie er vor mir stand, den Kopf halb eingezogen und mit hängenden Schultern. Seine Kleidung war dieselbe wie beim letzten Mal, nur noch schäbiger und dreckiger. Seine Haare waren stumpf und strähnig und selbst seine Augen, riesig groß wirkend, in dem blassen, eingefallen Gesicht, hatten jeden Glanz verloren. Ich hätte ihn gerne gefragt, was denn passiert sei, doch ich ahnte, dass mir die Antwort nicht gefallen würde.
Das war es, was mit denen geschah, die sich abwandten, oder nicht? Seungmin hatte mich gewarnt, du willst nicht, dass er deiner überdrüssig wird. War das alles, was zurückblieb, wenn man seine Gunst verlor? Ein fast lebloser Schatten des Menschen, der man irgendwann gewesen war? Und warum? Mir schauderte.
Minho rang nervös die Hände. Seine Finger waren so dünn, dass jedes Fingergelenk unnatürlich breit hervorstand und ich wusste, ohne ihn zu berühren, dass seine Haut eiskalt sein musste.
„Hast du die Fotos gefunden?"
„Ich habe Fotos", murmelte ich und zuckte gleichzeitig die Schultern. „Aber ich weiß nicht, ob es die sind, die du meintest." Rasch zog ich die paar Fotos aus meiner Hosentasche, welche ich nur nachlässig in Papier eingeschlagen hatte. Ich strich es notdürftig glatt.
„Sie sind zerknittert, tut mir leid. Ich-"
Bevor ich meine sinnlose Entschuldigung beenden konnte, riss er mir die Fotos aus den Händen und öffnete das Blatt Papier hastig. Er blätterte sie durch - das von Jisung war auch darunter und ich sah, wie er einen Moment stockte und mit dem Finger über das Bild strich, bevor er weiterblätterte - dann hektisch wieder zurück, bevor sich seine Finger um das Bündel krampften.
Ansatzlos brach er in Tränen aus.
Er schluchzte laut, sank auf die Knie, die Hand, die immer noch die nun gänzlich zerdrückten Fotos hielt, im nassen Gras aufgestützt. Oh mein Gott! Was war passiert?! War das nun gut oder schlecht?
Ängstlich sah ich mich um, dann kauerte ich mich ebenfalls nieder und berührte nun doch seinen Arm, auch dieser fühlte sich durch den Stoff hindurch schrecklich dünn und knochig an.
„Minho. Sag mir, was los ist? Sind das die Bilder? Müssen wir sie" - ich wusste doch nichts! - „verbrennen?"
Das Weinen nahm kein Ende und meine Angst wuchs.
„Bitte!" Ich kniete mich zu ihm, ungeachtet der Tatsache, dass das nasse Gras gerade mein Designeroutfit ruinierte. „Bitte Minho, sag mir, was ich tun soll! Sind es die falschen? Dann... suche ich weiter, okay? Vielleicht war ich nicht gründlich genug und muss nur..." Ich brach ab. Ich fühlte mich so hilflos, so unzulänglich.
„Es tut mir leid", flüsterte ich, nicht ahnend, wie treffend die letzten Worte waren.
Das Weinen verstummte, Minho fuhr sich mit einem schmutzigen Ärmel über die Augen und hob den Kopf. Hatte ich vorher angenommen, er würde furchtbar aussehen, jetzt fand ich keine Worte mehr, um es zu beschreiben. Er musste auch nichts mehr sagen, es waren die falschen Fotos, ich wusste es nun. Mitleid flutete mich und zwar in einer solch gewaltigen Welle, dass es mir schier die Kehle zuschnürte. Was war mit ihm geschehen? Was war aus dem Mann geworden, dessen wunderschönen Bilder in meinem Fotoband verarbeitet waren und warum konnte ich ihm nicht helfen, hier und jetzt?
Ich fasste nach seiner Hand, sie war tatsächlich eiskalt und fühlte sich an, als würde ich nur ein lebloses Gebilde zwischen den Fingern halten.
„Minho... Ich... werde weitersuchen, okay? Du darfst nicht aufgeben", plapperte ich vor mich hin. „Ich werde es nicht vergessen, das verspreche ich. Und..."
„Es ist zu spät", unterbrach er mich leise. Sein Blick irrte zu dem hell erleuchteten Gebäude hin. „Es ist fast Mitternacht."
Ich verstand die Bedeutung nicht, nahm seine zerbrechliche Hand fester und versuchte so seine Aufmerksamkeit wieder auf mich zu lenken. „Aber wir müssen noch nicht aufgeben, hm? Ich werde es nicht tun und du-"
„Felix", unterbrach er mich und sein Blick schimmerte unter Tränen. „Felix, bitte hör mir jetzt zu. Du musst deine Fotos finden, okay? Lass nicht zu, dass er..." Er verzog das Gesicht und presste die Hand, welche immer noch die zerknüllten Bilder hielt, gegen seinen Bauch, als hätte er Schmerzen. Die Hand in meiner klammerte sich fast schmerzhaft um meine Finger.
„Such deine Bilder. Und wenn du sie gefunden hast-"
Seine Augen weiteten sich erschrocken, dann brach sein Blick und seine Lippen formten sich beinahe zu einem erstaunten „oh". Der Klammergriff um meine Hand verschwand, aber ich begriff nicht, was ich sah.
Flöckchen von Asche schwebten plötzlich um mich herum, stoben in den Nachthimmel und wirbelten davon. Zuerst nur vereinzelte, dann immer mehr und ich hob überrascht den Kopf, um zu sehen woher sie kamen, bevor der Weg der tanzenden Flocken mich wieder zurück zu Minho führte. Der kauerte immer noch vor mir im Gras, doch die Hand in meiner, der ausgestreckte Arm, seine komplette linke Seite waren weg. WEG. Nein, nicht weg! Sie waren noch da, ein Nebel aus millionenfachen Ascheflöckchen, die mit jeder Sekunde weiter auseinanderdrifteten. So wie sein Körper gerade einfach auseinanderzufallen schien, erst in den Farben, die er trug, aber nur einen Herzschlag später bereits grauer Staub. Die Haare, das Gesicht, das immer noch überraschte „oh!", seiner Lippen. Und immer noch lag sein Blick auf meinem, jetzt, wo selbst seine Augen auseinandersprengten wie ein gegossenes Sandbild im Sturm. Braun wurde zu Grau.
Ich wollte schreien, aber ich brachte keinen Ton heraus. Meine Hand stieß nach vorne, um ihn zu greifen und verursachte doch nur noch mehr Chaos, indem sie die wirbelnden Flocken beinahe explosionsartig auseinanderstieben ließ.
Und jetzt schrie ich. Unhörbar, still und gleichzeitig schrill brüllend in meinem Kopf. Da war nichts mehr sonst, als dieser gellend schmerzhafte Schrei, der in mir widerhallte, in meinem Schädel tobte und wie ein vielfaches Echo von jeder Begrenzung zurückprallte, ohne einen Weg nach draußen zu finden.
Die Hand die eben noch die seine gehalten hatte, war nun geschlossen, der einzige Widerstand meine eigene Haut in welche ich die Fingernägel grub, tief, immer tiefer, bis Blut aus meiner geschlossenen Faust tropfte.
Es war dieser ganz reale Schmerz, der mich irgendwann aus der Erstarrung riss und zurück in die Realität brachte, da war von dem wilden Aschesturm längst nichts mehr übrig. Selbst die zerdrückten Fotos in seiner Hand waren vergangen, als hätte es weder ihn noch sie jemals gegeben. Nichts zeugte von dem ungeheuren Moment, den ich gerade erlebt hatte und das wiederum ließ das Grauen, das mich immer noch fest im Griff hatte, unwirklich werden. Einzig mein Blut, das in das feuchte Gras tropfte, war echt und lebendig. Zitternd kam ich nach den ersten Schreckmomenten auf die Beine, wankte zunächst ein paar Schritte zurück, bevor ich blindlings loslief. Hätte mich Hyunjin in jenem Augenblick entdeckt, wo ich völlig verstört durch den nächtlichen Garten geirrt war, nichts hätte mich noch retten können. Das Grauen war mir sicherlich buchstäblich ins Gesicht geschrieben und mit jedem Schritt, mit dem ich mich dem Gebäude näherte, brandete die Übelkeit ein Stück weit höher in mir auf.
Als ich durch die immer noch flackernden Feuerschalen, mit ihrem unwirklichen blauen Licht hindurch in den Kegel warmen Scheins trat, der durch die Fenster brach, war mir so schlecht, dass ich glaubte, mich jeden Moment übergeben zu müssen. Ich wankte, fand den Weg zurück nicht und torkelte auf der Terrasse herum, bis mich plötzlich jemand packte. Wieder schrie ich innerlich brüllend auf und wieder war es kaum mehr als ein leises Krächzen, das über meine Lippen drang.
„Felix, was machst du hier draußen? Was ist passiert? Wie siehst du aus?"
Mit schreckgeweiteten Augen starrte ich auf mein Gegenüber, ohne ihn zu erkennen. Schließlich wurde ich grob am Arm gepackt und einfach weggezerrt.
„Komm mit", hörte ich, stolperte tappend hinterdrein und wurde so wieder in das Innere des Gebäudes befördert. In den Waschräumen der Herrentoilette, drang endlich die Erkenntnis durch, dass es Seungmin war, der mich dort draußen aufgefangen und in Sicherheit gebracht hatte. Gerade tupfte er leise schimpfend meine blutende Hand ab, wies mich dann an, das Papiertuch festzuhalten, während er mit einem weiteren mein Gesicht säuberte.
„Herrje", raunte er dabei. „Jetzt sieh nur, wie du aussiehst! Total verheult! Wie soll ich das fixen?"
Ich - hatte geweint? Erschrocken blickte ich in den Spiegel, aber der Mann, der mir entgegenstarrte, war mir fremd. Seungmin packte mich grob am Kinn und drehte mein Gesicht wieder zu sich. Das nasse Papier fuhr grob über meine Haut.
„Willst du ihn wütend machen? Ausgerechnet heute?"
„Wo kommst du her?", stieß ich die einzige Frage aus, die gerade in meinem Kopf war. Die erste, die mit ihm zu tun gehabt hatte und auf die ich nie eine Antwort erhalten hatte.
„Was soll die Frage? Wo soll ich denn herkommen? Von der Party natürlich. Ich bin der Koordinator und wenn das Hauptdekoelement länger als zu einer Pinkelpause abhanden kommt, werde ich nervös - zurecht wie mir scheint."
Nein, nein, nein! Das meinte ich aber gar nicht! „Damals..." Wie lange war das her? Jahre? „Damals als Minho verschwu-"
Mitten im Satz verpasste er mir eine Ohrfeige, dass mir jedes weitere Wort im Hals steckenblieb.
„Nie wieder!" Er hob warnend den Finger. „Du sprichst seinen Namen nie wieder aus, hast du verstanden?"
Benommen nickte ich, zu groß war gerade die Angst vor... eigentlich allem, sogar vor ihm.
„Und ich war immer da", knurrte er nun unwillig. „Ich war das Backup, wenn es Ärger gibt. Eine weise Entscheidung, oder nicht?"
Immer noch säuberte er mir beinahe grob das Gesicht, dann warf er genervt das Papiertuch in den Müll und betrachtete meine restliche Aufmachung. Er seufzte.
„Da ist nichts zu retten, am besten du lässt dir eine plausible Ausrede für diese Katastrophe einfallen." Damit wies er in einer vagen Geste von Kopf bis Fuß auf mich und ich sah an mir selbst hinab. Meine Lippe zitterte, ich hatte Angst, die Tränen steckten wie ein dicker Kloß in meinem Hals, doch nichts davon durfte ich zeigen.
„Komm jetzt." Wieder packte mich Seungmin grob am Arm, schleifte mich rigoros hinter sich her und raus aus dem Schutz des Waschraums. Wir waren noch gar nicht im Ausstellungsraum angekommen, da kam uns Hyunjin entgegen und allein an seinem Blick war auszumachen, was für ein Bild ich wirklich abgeben musste.
„Jesus Christus!", stieß er aus und ich zuckte regelrecht zusammen unter diesen Worten. Meine Angst schnellte sprunghaft ich die Höhe, erreicht ein Paniklevel und alles was mir jetzt noch einfiel war die Flucht nach vorn.
Ich zog den Kopf ein, wich seinem Blick aus und warf mich, ungeachtet meiner ramponierten Kleidung, in seine Arme.
„Es tut mir leid", schluchzte ich und weinte erneut. Die Tränen waren echt und sie waren sichtbarer Ausdruck der grenzenlosen Furcht, die mich fest in ihren Krallen hielt. „Es tut mir so leid, ich habe alles ruiniert."
War Hyunjin überrascht?
Ja, davon war auszugehen. Denn so, wie ich auf ihn prallte, taumelte er zunächst einen Schritt zurück und dann dauerte es nochmal zwei leidvolle, bebende Atemzüge, bevor er überhaupt reagierte. Zunächst eher aus einem Reflex heraus, dann mit etwas mehr Nachdruck, legten sich seine Arme um mich.
„Was ist denn passiert?"
„Ich...", stammelte ich und griff nach dem einzigen Strohhalm, der mir einfiel. „Mir geht es nicht gut, mir war so schlecht und..."
„Ich habe ihn im Waschraum gefunden", sprang Seungmin ein. „Hockte auf allen Vieren in einer der Kabinen."
Oh das war gut. Das war sehr gut! Es erklärte auch, warum meine Kleidung aussah wie sie es nun mal tat.
Hyunjin schob mich ein Stück von sich, packte mein Kinn und zwang mich aufzusehen.
„Hast du dich übergeben? Bist du betrunken?"
Zu letzterem schüttelte ich schwach den Kopf und wich seinem Blick aus. „Ich hatte nur ein Glas Champagner und ich habe... vielleicht... die Meeresfrüchte. Manchmal reagiere ich empfindlich auf..."
„Okay, schon gut, das ist..."
„Es tut mir so leid", jammerte ich wieder. „Ich wollte nicht deine Feier ruinieren."
„Hast du nicht." Hyunjin seufzte, dann drückte er mich doch noch einmal an sich und ich atmete hektisch in sein Hemd, während ich stille Stoßgebete ausstieß, dass es hiermit vorbei sein mochte. Ich spürte auch, wie er mir einen Kuss in die Haare hauchte und grub die Finger in sein Hemd.
„Seungmin - bring ihn nach Hause. Sieh zu, dass du ihn an den Leuten vorbeigeschleust bekommst. Niemand muss das sehen und dann bleibst du bei ihm, bis ich heimkomme."
„Sicher."
All diese Anweisungen liefen über meinen Kopf hinweg und ich nahm sie einfach hin. Ich wollte nur noch raus, weg von den Leuten, weg von diesem Ort, weg von ihm - allein sein.
In Hyunjins Villa angekommen, war ich nur noch ein emotionales Wrack. Mir war kalt, ich zitterte, brach immer wieder in Tränen aus und konnte mich einfach nicht beruhigen. Ich sprach kein Wort mit Seungmin und dieser auch nur das Nötigste mit mir, wagte es aber auch nicht, in irgendeiner Form aufzubegehren.
Es gab keinen Trost, nur scharfe Anweisungen. Zieh das aus, geh dich waschen, beruhige dich endlich. Aber wie? Ich schaffte es nicht. In warmen Wohlfühlklamotten kroch ich in mein Bett und Seungmin brachte mir einen heißen Tee. Er war mit einem scharfen Gewürz durchsetzt und enthielt außerdem Alkohol, aber ich hinterfragte auch das nicht. Was immer es war, es sorgte dafür, dass mein aufgewühltes Innerstes endlich etwas zur Ruhe kam und nach einer ganzen Weile fiel ich tatsächlich in einen unruhigen Schlaf, aus dem ich immer wieder aufschreckte.
Tatsächlich gut wurde es erst, als Hyunjin zurückkam. Ich wachte auf, als er das Haus betrat, nicht weil ich ihn hörte, sondern weil ich seine Anwesenheit wahrnehmen konnte. Ich schlug die Augen auf und wusste, dass er hier war, noch bevor er mein Zimmer betrat. Kurz fragte ich mich auch, ob ich mich einfach schlafend stellen sollte, ließ es dann aber sein. Ich war mir sicher, dass er mich ohnehin durchschauen würde.
So wartete ich still, bis sich die Matratze meines Bettes auf der anderen Seite senkte, bis sich sein warmer Leib so nah an meinen schob, dass sich seine Wärme auf mich übertrug und gab endlich auf. Mit einem Seufzen kroch ich zu ihm, schlang einen Arm um ihn und vergrub das Gesicht an seiner Brust. Sein Herz schlug ruhig und gleichmäßig.
Minho, der Mann auf den Fotos. Chan, mein bester Freund. Der Gedanke schwebte wie trockenes Laub hinab, das sich still und sanft auf die Erde legte.
„Süßer, kleiner Engel", hörte ich seine geflüsterten Worte in der Dunkelheit und da fiel plötzlich alle Angst von mir ab.
Er war hier, bei mir und alles war gut.
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