20. Freier Fall ✔

In a world where you can be anything... be kind

Song: Someone you loved – Lewis Capaldi

Es war Sonntag, die Sonne schien, vierzehn Uhr dreißig...

Thomas rief um drei Uhr bei uns an.

Ich weinte. Ich weinte wirklich lange und ich beging einen Fehler. Schließlich bin ich nur ein Mensch. Ich hätte zu Clive gehen sollen, ich hätte für ihn da sein sollen und ihn trösten, aber ich war zu feige. Ich hatte Angst, er könnte meine Nähe nicht ertragen. Aber ich hatte noch viel mehr Angst, dass er es könnte und, dass er mich braucht.

Selbstsüchtig und Selbstschutz.

Es hätte bedeutet, dass ich Clive vergeben muss für die Zeit zuvor und...

Verdammt es war ein Fehler.

Jetzt ist es halb zwölf und ich bin mir sicher, dass Clive morgen nicht in die Schule kommt, dass er noch nicht schläft, sondern wie ich mit starren, zuckenden Augen an seiner Decke klebt und vielleicht hofft, sie würde herunter brechen.

Man könnte es mit einem Blitz aus der Steckdose vergleichen oder einem Kurzschluss. Der Knopf hinterlässt eine Kerbe in meiner Haut, während ich darauf drücke, bis mein Handy mit einem leichten Vibrieren hell aufleuchtet.

Ein paar Nachrichten, nichts Wichtiges. Beiläufig wische ich sie beiseite und scrolle bis I in meinem Kontaktbuch.

„Hey..."

„Hey."

Seine Stimme klingt ... scheiße... erstickt.

„Es wird besser.", flüstere ich und schlurfe lautlos zurück in mein Bett. Schweden knarzt unter meinem Gewicht und meine nackten Beine bedanken sich, sobald sich die Decke über ihnen senkt und die eingelegene Wärme zurückkehrt.

Atmen, ruhiges ein- und ausatmen.

Clive ist zwar ein grundlegend anderer Mensch wie ich, aber die festen Phasen der Trauer durchläuft jeder auf eine Art und Weise.

Er hätte ja Maddie anrufen können, wispert eine gehässige Stimme und ich hebe das Telefon von meinem Ohr, nein, nichts. Egal.

„Er ist eingeschlafen, Grandma war bei ihm..."

Mein Magen dreht sich einmal quer herum, der Knoten schmerzt. Die bloße Vorstellung... ich weiß nicht wie man das ertragen soll. Über siebzig Jahre... und dann weg...

Plötzlich ist die Liebe deines Lebens nicht mehr da, verschwunden. Sie existiert nur noch in deinem Kopf, als Erinnerungsgespenst. Ringsherum wird es schwächer, es vergeht nicht, aber es wird schwächer. Doch ich glaube nicht, dass bei Aveline Alfreds Gespenst verblassen kann. Nach siebzig Jahren kennst du diese Person womöglich besser als dich selbst und egal was du tust, es erinnert dich an sie.

Wir schweigen eine ganze Weile, ich glaube es schlägt irgendwann Ein Uhr.

„Bist du noch da?"

Ich nicke. „Ja."

Ich verstehe mich nicht, wieso tue ich das? Ich hasse Clive, so etwas tut man nicht für jemanden den man nicht ausstehen kann. Andererseits haben wir eine Vergangenheit und damals hat er mir die Welt bedeutet. Vielleicht deswegen.

Vielleicht, weil ich verstehe, wie weh es tut.

„Es tut weh."

Ehrliche Worte von Clive Westwood, dass ich diesen Tag noch erleben darf... ein bisschen zynisch für diesen Augenblick, aber sie fallen mir gerade ein.

Obwohl... ich glaube ich tue ihm Unrecht. Clive lügt nicht – abgesehen von der Fake-Beziehung. Nein, tatsächlich, ich habe ihn in meiner Gegenwart noch nie lügen hören, entweder er schweigt oder er umschreibt es, aber direkt gelogen hat er vor mir nie.

„Ich weiß... es wird irgendwann besser." Das weiß er. Natürlich tut er das.

Jeder weiß das, aber in solchen Momenten ist es schwer daran zu glauben, diesen Gedanken festzuhalten und die Zukunft für eine Weile zu missbrauchen, damit wir uns in der Gegenwart besser fühlen.

„Hat er dir jemals die ganze Geschichte erzählt, komplett?", flüstere ich in die finstere Dunkelheit.

„Vielleicht... er hat immer mal etwas erzählt."

Erst jetzt fällt mir auf, dass ich Clive eben nicht gesagt habe, welche Geschichte, dennoch scheint er mich zu verstehen.

„Ohne mich?"

Ich stelle mir Clive vor, wie er mit dem Hörer am Ohr im dunklen Bett liegt und gegen die Decke lächelt. Jenes zarte Lächeln, das erscheint, wenn man traurig ist und dich trotzdem jemand aufheitert, wenn auch nur ein winziges, kleines Bisschen.

Es kann gut sein, dass er nicht lächelt, aber mir gefällt die Vorstellung, dass er es tut, besser, also präge ich mir dieses Bild ein.

Seine Grübchen und dieser starke Glanz haben mich als junges Mädchen völlig in ihren Bann gezogen. Für mich war es irgendwie magisch, wie er mit dem Ton seiner Augen spielte, wie ein Feuerkünstler, der Flammen spucken kann. Wenn Clive mich damals angelächelt hat, dann hat sein gesamtes Gesicht gestrahlt, es gab kein halbes Lächeln, entweder ganz oder gar nicht.

Im Grunde war unsere Freundschaft auch genauso: Ganz oder Gar nicht. Und am Ende war sie gar nicht mehr. Vielleicht haben wir uns irgendwann auf dem Ganz ausgeruht, vergessen, dass vom Ganzen gelegentlich etwas abbröselt und absplittert, dass wieder angeklebt werden muss. Irgendwann war es zu viel, die Mitte gespalten und letztlich gebrochen, weil er mir nicht helfen wollte etwas Kaputtes zu reparieren.

Alfred hat einmal erzählt, dass es immer auf den Schaden ankommt. Damals habe ich gelacht, aber heute weiß ich, dass er es mehrdeutig gemeint hat.

Er meinte es positiv, bei einem Charakter: Je größer der (Dach-)Schaden, desto besser. Alfred hat uns immer wieder von Avelines Macken berichtet. Bis heute verstehe ich nicht wieso er sich so von diesen Makeln mitreißen ließ... aber ich verstehe, dass er mit Schaden in dieser Hinsicht die Andersartigkeit meinte, die sie auszeichnete.

Und er meinte Schaden negativ: Manchmal ist der Schaden zu groß, zu viele Teilchen, zu viele Löcher und zu wenig Engagement.

„Zwei Mal hat er das getan... obwohl ich ihn vor ein paar Jahren sogar danach gefragt habe." Er schnaubt leise, es klingt wie ein Lachen. „Er hat gesagt, wir wüssten alles."

„Wir?"

„Ja, wir."

„Oh."

Mir fehlen ehrlich gesagt die Worte. Was soll ich darauf sagen?

„Rosie... er hat dich wirklich gemocht."

Wieder schweige ich. Alles, was Clive da sagt, hört sich so fern an, als wäre er unter Wasser und ich stehe am Beckenrand und sehe nur die Blasen aufsteigen.

„Ich ihn auch...", hauche ich schließlich und die Tränen strömen unkontrollierbar und lautlos über meine Wangen. Das Salz brennt auf meiner Haut, aber es ist mir im Augenblick egal. In meiner Brust steckt ein Splitter im Herz.

Es ist egal, ob ich in den letzten Jahren Kontakt zu Alfred hatte oder nicht, er war wie ein Großvater für mich, ich habe ihn als kleines Mädchen vergöttert, weil er immer einen lustigen Spruch auf den Lippen hatte, immer ein Lächeln und immer da war. Er hat auf uns aufgepasst uns Nudeln gekocht und mit uns Pistazieneis im Sommer gegessen.

Alfred ist mit uns an den See gefahren. Ich erinnere mich noch haargenau daran, wie Clive und ich in unseren Kindersitzen auf der Rückbank saßen und den alten Mann mit albernen Kinderfragen gelöchert haben: Wann sind wir da? Wie weit ist die Sonne von der Erde weg? Kann man in einem See leben? Bin ich größer als Clive?

All das schießt durch meinen Kopf, schlimmer wie eine Essenschlacht in der Mensa.

Hastig presse ich meine Hand auf den Mund, um bloß nicht zu schluchzen. Ich fühle mich miserabel und Clive... Clive muss sich im Freiflug befinden. Als er damals vom Fünfmeterbrett gesprungen ist und zu mir an den Beckenrand geschwommen ist, habe ich ihn bewundert. Die Angst flatterte noch schwach in seinen Augen. Als ich ihn gefragt habe, ob es schlimm war, meinte er: „Das Springen und Eintauchen nicht, aber der freie Fall. Du weißt nicht wann..."

Für einen Zehnjährigen war das größer als alles Geld der Welt.

Bis heute frage ich mich, woher Clive den Mut nahm tatsächlich zu springen, oder überhaupt die Leiter hinaufzuklettern. Ich habe ihn dabei mir ehrfürchtig geweiteten Augen und ein wenig Sorge in der Brust genaustens beobachtet, jede Bewegung verfolgt. Als er an der Kante stand und zu mir sah – er wollte nicht nach unten sehen – habe ich schwach genickt. Ich bezweifle, dass er es gesehen hat, aber dann sprang er.

Ich hätte mich das nie getraut, würde ich heute auch nicht.

***

Irgendwann muss ich eingeschlafen sein, denn mein Wecker krächzte wie verrückt um sieben Uhr. Hastig schlug ich auf den Knopf... Candice Horrorteil muss man an der Seite nach unten drücken. Die Vorstellung so lange an dem krakeelenden Teil herumzufummeln jagt mir einen Schauer über den Rücken. Mir genügen die vier Sekunden völlig.

Als ich die Augen aufschlagen will spüre ich einen klebrigen Widerstand, die Tränen von dieser Nacht...

Müde stemme ich mich in eine sitzende Position. Ich bin todmüde. Es dauert einen Moment, bis sich meine Augen an das dämmrige Licht gewöhnt haben – im Grunde ist es noch dunkel. Doch als sie sich justieren und ich scharf sehen kann, fällt mein Blick auf das Handy auf meinem Kopfkissen, ich lag die ganze Zeit daneben und der Anruf läuft noch.

Mit einem Mal pocht mein Herz lauter als das Klingeln des Weckers eben und ich halte die Luft an. Sieben Stunden... laufend.

Zittrig umklammere ich das lauwarme Stück Metall und führe es an mein Ohr. Ein gleichmäßiges Schnaufen ist zu hören und meine Brust beruhigt sich etwas. Ein Glück ist er nicht aufgewacht von dem Teufelslärm.

Es ist falsch und widerstrebt jeglicher Logik, aber ich lausche den sanften Geräuschen. Etwas in mir löst sich, wenn ich Clive so friedlich schlafen höre. Er hat es bitter nötig.

Mit einem Lächeln auf den Lippen lege ich auf und stoße die angestaute Luft auf.

Sieben Uhr Zehn! Oh Gott, wie lange habe ich eben...

Ich denke den Gedanken gar nicht erst fertig, sondern springe überstürzt aus dem Bett. So überstürzt, dass ich mir den verfluchten, kleinen Zeh am Türrahmen anschlage, als ich zum Bad sprinten will...

Tapfer beiße ich mir auf die Lippe, nicht schreien! Nein, schreien würde ich nicht, aber aufjaulen, wie ein kleiner Hund. Ich werde niemals ein Morgenmensch sein, niemals!

Der Badezimmerspiegel offenbart mir rücksichtslos wie furchtbar ich aussehe, sogar ein kleines Kind würde schreiend vor mir weglaufen. Meine Augen sind knallrot, an meinen Wimpern klebt etwas Krustiges und die Wangen sind noch immer etwas aufgequollen vom Tränensalz. „Mist...", zische ich zu mir selbst und zerre gleichzeitig den Haargummi aus meinem... es war zumindest einmal ein Dutt.

Die Haare hängen wirr und kunterbunt auf meinem Kopf.

Super!

Ich schwinge meinen Kopf nach unten und winde den Gummi so oft wie möglich um die straff zusammengefasste Mähne. Zufrieden stelle ich fest, dass nur noch die Babyhaare ihre Freiheit suchen.

Beeilung, mahne ich mich selbst. Automatisch schalte ich in den Robotermodus: Gesicht waschen – hoffen, dass es danach besser aussieht -, Zähne putzen, feststellen, dass mein Gesicht nicht auf wundersame Weise normal aussieht und Make-Up darüber pinseln und abschließend zurück in mein Zimmer hetzen.

Erst hier verlangsame ich mein Tempo, in zehn Minuten kommt mein Bus.

Wahllos fische ich mir Jeans und Pulli aus dem Schrank, dann trotte ich nach unten.

In der Küche werde ich mit leeren Blicken begrüßt und einem tonlosen „Guten Morgen.". Mehr als ein „Morgen" ist mir nicht zu entlocken, meine Gedanken kreisen um so viel, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll.

Trotzdem entgeht mir der sorgende Blick nicht, den sich meine Eltern zu werfen, ehe sie sich mit mitfühlenden Mienen zu mir wenden. Anscheinend sehe ich immer noch aus wie eine wandelnde Leiche, wie ein Zombie.

„Ich fahr dich in die Schule."

Mein Vater kennt mich. Ich weiß, dass er und Mom sich beraten haben, ob sie versuchen sollen, mich zum Zuhause-bleiben zu überreden, aber letztlich haben sie verstanden, dass ich das nicht tun würde. Alfred hat mir viel bedeutet, aber ich würde es nie wagen mir das gleiche Recht wie Clive herauszupicken und mir anzumaßen, ich würde genauso trauern dürfen.

Seine Stimme ist weicher als gewöhnlich am Morgen. Ich schiele zu ihm und nicke sanft. „Danke.", murmle ich, meine Stimme klingt trotzdem aufgekratzt, als wäre ich gestern nach einer tagelangen Kneipentour stockbesoffen nach Hause gekommen.

Im Grunde bedeutet das, dass ich mich nicht beeilen muss, weil wir erst in einer Viertelstunde losfahren.

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Hey Ho💕

Habt ihr eigentlich schon Bilder im Kopf, wenn ihr die Namen lest/hört?

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💌N°25: Kennt ihr Chia-Pudding? Wenn ja, wie findet ihr ihn? Wenn nein, wer will ein Rezept von mir😂?

XOXO MAGGIE 🧡

Ps. schaut doch mal bei meiner Instagram-Seite vorbei: @sxmelittlestories (wie hier auf Wattpad). Alles rund um Bücher, Updates und Co.📚📖✒💕

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