9. Kapitel ~ Lee
Das Türklingeln weckte uns alle aus dem Schlaf und während meine Familie das wahrscheinlich alles andere als gut ansah, war ich die einzige die dem frühen Besucher dankte. Ich hatte einen Albtraum gehabt; vom Autounfall. Eigentlich hatte ich gedacht, dass ich nach dem Gespräch mit Mike mit diesem Kapitel meines Lebens abschließen konnte, aber dem war nicht so. Möglicherweise, weil Mike mir nicht verziehen hatte und die Schuldgefühle mir schwerer als sonst auf die Brust drückten.
So kam es, dass ich diejenige war, die die Tür öffnete, meine restlichen Familienmitglieder waren anscheinend einfach liegen geblieben. Ich schaute hinaus, rieb mir die Augen und schaute erneut, aber niemand war da. Ich lief ein paar Schritte nach draußen, rief einmal „Hallo?" und als niemand sich zu Zeigen gab, hakte ich das Klingeln als Klingelstreich zum richtigen Zeitpunkt ab. Doch als ich wieder hinein gehen wollte, fiel mir der Brief auf der Türmatte auf. Das weiß des Umschlages war ein starker Kontrast zu dem schwarzen Stoff und stach mir in die Augen, vor allem, weil die Sonne sich daran reflektierte.
Ich ging in die Hocke und hob den Brief auf, bevor ich wieder hineinging und mich an den Küchentisch setzte. Kein Absender. Kurz wunderte ich mich, aber dann dachte ich mir, dass es einfach ein Versehen war und riss das Papier auf. In dem Umschlag befand sich ein zusammengefalteter Zettel, mit einer Schrift, die angenehm zu lesen war. Als ich fertig gelesen hatte, waren meine Augen bestimmt so groß wie Unterteller und ich stand ruckartig auf, um den Brief so schnell wie möglich zu entsorgen, bevor ihn irgendwer anders sehen konnte.
Auch wenn ich schon gerne wüsste, wer diese Anne war, die sich als Mutter von Alastair und Ophelia ausgab. Und auch wenn ich die Hälfte des Textes nicht verstand, zumindest nicht den Zusammenhang zwischen allem, so verstand ich doch die Kernaussage. Marian durfte diesen Brief nie in die Hände kriegen.
„Lee? Wer wars?" Wie groß musste mein Pech eigentlich sein, dass genau die Person auftauchte, die ich am wenigsten hier haben wollte.
„Nur ein Klingelstreich", log ich ohne mit der Wimper zu zucken. Den Brief hinter meinem Rücken fest umklammert ging ich einen Schritt rückwärts zum Müll hin.
„Lee? Was ist das hinter deinem Rücken?", fragte Marian misstrauisch. Wieso konnte sie mich so schnell durchschauen?
„Nichts wichtiges!", lachte ich panisch und wollte noch einen Schritt nach hinten machen, als mir aufging, dass sie den Brief einfach wieder aus dem Müll Fischen konnte. Ekelhaft aber Marian würde es machen, das wusste ich. Der Brief musste zerstört werden.
„Coralee, gib das sofort her!", meinte meine große Schwester autoritär, aber sie jagte mir damit keine Angst ein. Ich tat das nur, um sie zu beschützen vor einer Wahrheit, die sie nicht hören wollte. Ich schüttelte den Kopf, mein Gehirn suchte ratternd nach einer Lösung. Gerade als mir etwas einfiel, machte Marian einen Schritt nach vorne und packte meinen Arm.
„Nein! Lass mich los!", rief ich wütend, aber das stachelte sie noch mehr an. Ängstlich, dass sie sich den Brief schnappen würde können, stieß ich sie zurück, vergaß dabei aber meine Gabe. Marian flog gute zwei Meter durch die Luft bevor sie mit einem dumpfen Stöhnen landete. Ich rieb mir nervös die Stirn, erst musste ich den Brief entsorgen, dann konnte ich mich um sie kümmern. Ich rannte die Treppen nach oben zu unserem Dachboden, wo der Schredderer stand, der meinem Opa gehört hatte. Ich steckte das Stück Papier in den Schlitz und kurbelte so lange, bis die kleinen Schnipsel sich häuften.
Dann lief ich wieder nach unten, um Marian zu helfen. Nur unglücklicherweise war sie verschwunden.
„Marian?", rief ich ängstlich. Ich hatte ihr doch wohl nicht ernsthaft weggetan, oder? Anstatt einer Antwort bekam ich Besuch in der Küche. Unerfreulichen Besuch. Marian, glücklicherweise unverletzt, mit unseren Eltern, die sowas von stinkig aussahen, dass sogar ich Gänsehaut bekam.
„Coralee." Ich widersprach nicht, auch wenn mir der Tonfall indem sie meinen vollen Namen aussprach, den ich nicht leiden konnte, nicht gefiel.
„Du weißt was ich von dir verlange. Gib mir den Brief", verlangte meine Mutter. „Zu spät", lachte ich und streckte ihr die Zunge heraus. „Ich kann dir aber gerne die Papierschnipsel geben, dann kannst du puzzeln", fügte ich hinzu, retten konnte ich meinen Arsch eh nicht mehr.
Wenn Marian ihnen alles gesagt hatte, hatte ich ein großes Problem.
„Was stand drin?" Meinem Vater schien der Geduldsfaden bald zu platzen, er unterdrückte seine Wut, aber das hörte man raus.
„Als ob ich euch das sage, wenn ich ihn gerade zerstückelt habe", lachte ich erneut.
Ich wusste, dass ich die Nase vorn hatte, ich konnte sie erpressen. Ich konnte von ihnen alles verlangen was ich wollte, im Gegenzug für die Informationen. Denn meine Eltern waren schlau, wenn ich Marian dafür verletzte, musste es etwas Wichtiges sein und das würden sie wissen wollen. Aber ich würde Marian nicht verraten auch wenn sie eine Petze war. Eigentlich könnte ich es, ich hatte sie gewarnt, aber ich würde es nicht tun.
„Dann bekommst du Zimmerarrest", drohte meine Mutter. Für andere wäre das an meiner Stelle vielleicht schön, weil ich eh nicht sonderlich viele Freunde hatte, aber für mich wäre das die Hölle. Ich musste mindestens einmal pro Tag in die Turnhalle im Keller, um zu trainieren und meine Wut auszulassen. Ansonsten machte ich alles kaputt und das wusste meine Mutter. Jetzt hieß es die Qual der Wahl.
Meine Lehrerin hatte immer gesagt ‚Think outside the box', es gab nicht immer nur zwei Möglichkeiten, meistens gab es noch eine alternative Variante. Und diese fiel mir glücklicherweise ein. Ich würde Halbwahrheiten erzählen, den Inhalt des Briefes würde ich ihnen sagen, auch wenn es Marian verletzen würde, sie hatte es so gewollt. Aber ich würde kein Sterbenswörtchen darüber verraten, wie die Beziehung zwischen Marian und Ophelia tatsächlich aussah.
Wir setzten uns ins Wohnzimmer, ich auf den Sessel, meine restliche Familie, Maisie ausgeschlossen, auf die Couch. Und dann begann ich.
„Der Brief war von einer sogenannten Anne Buchan." Meine Mutter sog scharf die Luft ein und warf meinem Vater einen bedeutungsschweren Blick zu. Ich runzelte die Stirn, machte mir aber nichts großartig draus.
„Sie schrieb, dass ihre Familie wieder hier ist und wir uns bereit machen können. Ihre Kinder, Alastair und", ich schluckte schwer, „Ophelia haben sich schon mit uns angefreundet, um sich bei uns einzuschleimen. Anscheinend haben sie nicht gedacht, dass einer von uns den Brief zu Gesicht bekommt." Inzwischen war Marian ebenfalls aschfahl und ich warf ihr einen Blick zu, der so etwas hieß wie 'ich wollte nur helfen'.
Ich fühlte mich auch etwas verraten von Alastair, aber bei Marian handelte es sich um andere Gefühle. Sie hatte sich verliebt, zumindest sah ich das so.
Unsere Eltern sahen beide nicht sonderlich begeistert aus. Mit einer Handbewegung verdeutlichte meine Mutter, dass wir das Zimmer verlassen sollten, wahrscheinlich wollte sie etwas mit ihrem Mann besprechen. Mit einem Knoten im Hals folgte ich Marian die Treppen hoch, darauf wartend, dass sie etwas sagte; sich entweder entschuldigte oder mich anbrüllte.
"Anne Buchan ist die neue Kindergartenbetreuerin von Maisie", murmelte sie nur und mir wurde eiskalt. Wer auch immer diese Anne war, was auch immer sie von uns wollte, sie hatte sich das lange überlegt und uns alle mit reingezogen.
"Wir müssen Mom und Dad Bescheid geben, wenn wir kein Problem bekommen wollen", flüsterte ich zurück und der Blick, den wir tauschten, verhieß nichts Gutes. Wir hatten beide Angst um einander, um unsere Familie, obwohl wir nicht einmal wussten, um wen es sich bei der Gefahr handelte.
Aber eines stand fest, Anne Buchan war eine Gefahr für den Zusammenhalt der Familie.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top