8. Kapitel ~ Lee

„Marian, warte!", schrie ich meiner Schwester hinterher, die gerade das Haus verlassen wollte. „Kann ich mitkommen?", bettelte ich. Ich wollte mich um jeden Preis bei Mike dafür entschuldigen, dass ich ihn fahren gelassen hatte, obwohl er sturzbetrunken gewesen war. Und dafür, dass wir ihn liegen gelassen hatten, verletzt, ohnmächtig und nur um meinen Arsch zu retten. In der Situation war es mir vielleicht richtig vorgekommen, aber jetzt, wenn ich die ganze Situation im Nachhinein betrachtete, war es das dümmste was ich hätte machen können. Aber immerhin gestand ich mir meinen Fehler ein und wollte mich entschuldigen.

Marian nickte mir zu, bevor sie endgültig rausging, sie wusste, wieso ich mitkommen wollte.

Im Gegensatz zu meinem Vater, der mich misstrauisch beäugte und fragte: „Seit wann interessierst du dich für Mike?" „Ich wollte mich nur nochmal bei seinem Vater entschuldigen. Wegen dem Weinfleckunfall", improvisierte ich aus dem Bauch hinaus. Anscheinend war das die gewünschte oder zumindest eine passende Antwort gewesen, denn er nickte mir lächelnd zu.

Wahrscheinlich nur um zu signalisieren, dass ich gehen durfte, aber selbst diese kleine Geste machte mich unglaublich stolz. Ein warmes Gefühl der Zufriedenheit durchflutete mich und mit der neu geschöpften Motivation rannte ich hinaus, in unseren kleinen Vorgarten. Die Vögel zwitscherten, die Blumen blühten, der Frühling machte sich stark bemerkbar, als wollte er um keinen Preis übersehen werden.

Da ich Marian nicht warten lassen wollte, flitzte ich weiter, von unserem Vorgarten durch das kleine Zauntor hindurch und den kurzen Waldweg entlang, der zur Straße führte. Die Schatten der hohen Fichten konnten meine Stimmung nicht verdüstern, ich glaube ich hatte gerade so eine Phase wo nichts und niemand das konnte. Nur ein Lächeln meines Vaters und meine Stimmung erstürmte neue Gipfel. Ich hatte um jedes Lächeln, um jeden stolzen Blick hart kämpfen müssen, aber das machte es umso toller, wenn ich dann eins bekam.

Ich sprang über die Pfützen des gestrigen Schauers die meiner Stimmung zu dem Zeitpunkt genau entsprachen; schaurig. Die Erinnerungen an den Autounfall waren mir ununterbrochen durch den Kopf gegangen, die Bilder, die mir wohl nie wieder aus dem Kopf gehen würden, hatten sich überschlagen. Und zusammen mit den Schuldgefühlen hatte sich das perfekte Gemäuer ergeben. Wieso ich die Situation mit einem Gemäuer verglich? Ganz einfach, weil ein Gemäuer stabil war, man es nicht ohne fremde Hilfe einreißen konnte und man sich erst wieder gut fühlte, wenn man es überwunden hatte und wieder frei war. Ich hatte es noch nicht ganz überwunden, ich musste es noch Mike beichten, aber ich war auf gutem Wege dahin.

Als ich an der kleinen, nur selten benutzten Straße ankam, sah ich, dass Marian schon im Auto auf mich wartete. Mit einem leichten Anflug von Panik öffnete ich die Beifahrertür und setzte mich mit einem unwohlen Gefühl im Bauch hin. Als Marian den Motor anschloss entfuhr mir ein leiser Schrei und ich presste mich panisch an den Sitz. "Sicher, dass du mitkommen willst?", fragte Marian mit gerunzelter Stirn. Ich nickte angespannt und krallte mich in den harten Stoff des Sitzes.

Wahrscheinlich war es normal, dass man nach einem Autounfall erst mal kein Auto betreten wollte, aber trotzdem regte es mich auf. Ich war immer eher die Starke gewesen, die sich vor nichts fürchtete und dieses ungewohnte Gefühl der Angst frustrierte mich mehr als ich zugeben würde. Ich atmete mehrmals tief ein und aus, bis ich mich beruhigt hatte, dann nickte ich Marian signalgebend zu.

Sie nickte zurück, dann trat sie übertrieben langsam aufs Gaspedal und das Auto setzte sich stockend in Bewegung. „Nimm nicht auf mich Rücksicht, fahr einfach ganz normal. Mir geht es gut", behauptete ich mit bemüht fester Stimme. Dabei ging es mir alles andere als gut, Übelkeit stieg in mir auf und die Bilder der tragischen Nacht überschwappten mich wie eine Welle.

„Sicher, dass du nicht da bleiben willst? Du bist kalkweiß", fragte Marian besorgt, was ich ihr hoch anrechnete. Die Stimmung zwischen uns war seit der Abschlussfeier wieder abgekühlt, auch wenn sie mich mitten in der Nacht abgeholt hatte, obwohl wir uns zuvor gestritten hatten.
„Ich schaffe das", meinte ich eher zu mir als zu ihr.
„Du weißt, dass ich ihm es auch alleine sagen kann." Zweifelnd sah sie mich an, Angst und Sorge spiegelten sich in ihren Augen wieder.
„Auf gar keinen Fall!"

Es war schließlich meine Schuld gewesen. Auch wenn Marian ihren Teil dazu beigetragen hatte, indem sie abgehauen war, weswegen Mike sich überhaupt betrunken hatte, war der größte Teil doch meine Schuld, das wusste ich. Ich würde niemandem die Schuld geben für meinen Fehler. Marian schaute wieder nach vorne und beschleunigte, nicht ohne mir gefühlt alle fünf Sekunden einen besorgten Blick zuzuwerfen. Das regte mich irgendwie auf, ich kam schon alleine klar. Und wenn nicht, war ich reif genug um Bescheid zu geben, dass es mir scheiße ging. Ich war kein kleines Kind mehr! Aber diesmal hielt ich mich zurück. Diesmal schaffte ich es meine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen.

Entschlossen das zu schaffen ballte ich meine Fäuste, schloss meine Augen und regte mich ab. Das gelang auch, bis wir in ein Schlagloch fuhren und ich mich so sehr erschrak, dass ich mir die Seele aus dem Hals schrie. Bevor ich mich vom Schock beruhigen konnte, machte Marian eine Vollbremsung, was mich gleich nochmal zum Schreien brachte. Ich kam mir vor wie in einer Achterbahn, dabei war es eine ganz normale Autofahrt.

„Du. Steigst. Jetzt. Aus", meinte Marian mit zusammengebissenen Zähnen. Wow, Marian in Weißglut, wie hatte ich das denn geschafft? Sie war die Geduld in Person, ihre Nerven waren so hart wie Stahl.
„Ich ertrage das nicht mehr. Ich lasse nicht zu, dass du dich so quälst. Du wartest jetzt hier, bis ich wieder da bin", meinte sie eiskalt.
„Nein!", widersprach ich.

Als ob ich jetzt hier mehrere Stunden meines Lebens am Straßenrand einer Autobahn verschwenden würden. Da quälte ich mich lieber selbst, irgendwann musste ich es ja sowieso lernen wieder Auto zu fahren. Vor allem war das die einmalige Gelegenheit, wenn ich im Auto eine Panikattacke bekam, während meine Eltern dabei waren, würde möglicherweise alles auffliegen. Das warf ich Marian auch an den Kopf und sie gab sich seufzend geschlagen.

„Aber halt die Klappe. Ich kann mich nicht aufs Fahren konzentrieren, wenn du die ganze Zeit rumkreischst wie ein kleines Kind." Ich nahm mir ihre Worte zu
Herzen und schwieg für den Rest der Fahrt, wofür ich mich zwar an dem Gurt festkrallen musste, aber immerhin blieb ich still. Ich mochte es nicht, vor Marian ängstlich zu sein, meine Stärke und Furchtlosigkeit war beinahe das einzige, was ich wirklich an mir mochte und schätzte. Eine Viertelstunde unterdrückte ich jegliche Art von Geräusch, von Aufquieken bis hin zu Schreien. Dann parkte Marian auf dem kleinen Parkplatz vor einem, wahrscheinlich Mikes, Haus. Wir klingelten an der Haustür und wurden eingelassen.

Nun befanden wir uns im Treppenhaus, was wirklich ungewohnt für mich war. Im Dorf hatte jede Familie ihr eigenes Haus und nicht nur eine Wohnung. Als wir dann die Wohnung betraten und Mike Marian zur Begrüßung umarmte, schaute ich mich fasziniert um. Ich war in recht wenigen Häusern oder Wohnungen von fremden Menschen gewesen, um genau zu sein in dreien. In der von Jolene, in der von Cloe und in der meines alleinlebenden Onkels.

Als Mike sich dann mir zuwandte und ich den Verband um seinen Arm erkannte, übermannten mich Schuldgefühle. Während ich fast unbeschädigt davongekommen war, hatte Mike sich den Arm gebrochen und einige Schrammen, sowie eine Gehirnerschütterung davongetragen.
„Es tut mir so leid", meinte ich zu ihm; als indirekte Entschuldigung.
„Es ist ja nicht deine Schuld!", erwiderte er. Oh, wenn er nur wüsste.

Zu dritt Namen wir in Mikes vollgestopftem Zimmer platz. Die Wände schmückten Bilder und riesige Wandschränke mit tausenden Büchern, auf dem Boden standen die unterschiedlichsten Sachen; von Teppichen über Pizzakartons zu einzelnen Socken, die nicht aussahen, als wären sie frisch.

„Sorry für die Unordnung." Mike kratzte sich nervös am Nacken.
„Alles gut, die kleine Lee hier ist auch unordentlich. Wir sind das gewohnt", lachte Marian und legte mir einen Arm um die Schulter, den ich sofort abschüttelte und sie wütend anfunkelte. Ich hasste es wenn sie mich klein nannte. Ich war nur ein Jahr und wenige Monate jünger als sie und beinahe gleich groß. Und trotzdem hörte sie nicht auf mich klein zu nennen, egal wie oft ich sie dafür verfluchte.

Aber es war interessant zu erfahren, dass der gepflegte Auftritt von ihm und seinem Vater nicht echt war. Zumindest bei Mike, bei seinem Vater konnte man nie wissen. Der sah so aus als könnte er keine Erde ohne Plastikhandschuhe anfassen. Pingelig was das Zeug hielt. Man könnte sich doch danach die Hände waschen! Das Gärtnern und somit auch das rumwühlen in Erde machte mir unglaublich Spaß und war ziemlich die einzige Gemeinsamkeit zwischen Marian und mir. Es war schon eine Tradition geworden, dass wir jedes Frühjahr zusammen Blumen und Kräuter anpflanzten. Bald war es wieder soweit!

„Hey, ich muss dir was beichten. Ich bin am Autounfall nicht ganz unschuldig!", begann ich leise und sein Mund klappte auf. Als ich ihm alles erzählt hatte, stand sein Mund immer noch offen und ich musste diesen einen, wenn auch lahmen, Spruch raushauen.

„Mund zu, sonst fliegen Fliegen rein!"
Marian rammte mir ihren Ellbogen in die Seite und raunte verärgert: „Jetzt ist nicht dir richtige Zeit für deine bekloppten Sprüche."
Ich wollte eigentlich etwas schnippisches erwidern, aber irgendwo hatte sie schon Recht. Also hielt ich meine ‚vorlaute Klappe' wie mein Vater zu sagen pflegte.

„Ich... ich weiß nicht was ich dazu sagen soll...", stotterte Mike. ‚Vergeben und Vergessen wäre perfekt!', dachte ich mir.
„Das mit dem betrunkenen Autofahren kann ich ja noch verstehen, irgendetwas musstest du ja machen, aber..."

„Immerhin schreit er uns nicht an!", flüsterte ich Marian zu.
„Freu dich nicht zu früh!"
Und wie immer hatte Marian Recht. „Aber wieso um Himmels Willen lasst ihr mich zurück, wenn ich in Ohnmacht gefallen bin, nach einem Autounfall an dem du Schuld bist?", brüllte er.
„Wir wollten unsere eigenen Ärsche retten", gab ich kleinlaut zu. Er sah mich verständnislos an und dieser Blick machte mich traurig. Ich erkannte schweren Herzens, dass er mir das nicht verzeihen konnte, weil er nicht verstand wieso ich es gemacht hatte. Tat ich, um ehrlich zu sein, auch nicht.

„Und du hast das zugelassen?", fragte er Marian ungläubig. Diese nickte und sah schuldbewusst auf den Boden.
„Es war eigentlich meine Idee", fügte sie auch noch hinzu und ich fand es toll, dass sie ehrlich war.

Skepsis zeichnete seinen Blick, den er mal mir, mal Marian schenkte. Und dann fiel ich aus allen Wolken als ich etwas bemerkte. Mike war in Marian verliebt, die Verletztheit in seinem Blick konnte man gar nicht anders deuten.
Meine Menschenkenntnis war zwar nicht weltbewegend, aber das hätten selbst Sozial-Inkompetente erkannt.

Mike war in Marian verliebt, ich konnte es gar nicht fassen. Und sie war in Ophelia verliebt, sollte unseren Eltern zufolge aber mit Mike zusammen kommen. Scheiße, Marian, was hast du getan?

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