7. Kapitel ~ Marian
"Marian -"
"Hier ist Lee", schrie mir meine Schwester aufgebracht ins Ohr. "Ich weiß, dass ich Scheiße gebaut -"
"Stopp! Was ist passiert?" Ich schaltete das Licht in Maisies Zimmer aus, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und lief so schnell wie möglich zu mir rüber.
"Ich hatte einen Autounfall!" Lee hörte sich an, als stünde sie kurz vor einer Panikattacke.
"Wo bist du?" Ich war noch nie so entschlossen gewesen. Zügig warf ich mir meinen Schal über die Schulter und lief durch den Flur und dann die Treppe hinunter. Ich hatte keine Zeit mehr mich umzuziehen.
"Ich kann dir den Standort mit meinem Handy schicken", meinte Lee, noch immer panisch.
Ich nickte, was sie natürlich nicht sehen konnte, während ich so leise wie möglich am Wohnzimmer vorbeischlich, wo sich meine Eltern gerade einen Film ansahen.
"Bist du alleine? Du kannst doch gar nicht Auto fahren?"
"Mike ist hier, aber er ist ohnmächtig", erklärte sie. "Bitte, Marian! Du musst sofort kommen!"
"Alles gut, Lee. Beruhige dich erst mal, ich bin auf dem Weg."
"Okay", murmelte sie und ich meinte sie leise schluchzen zu hören.
Schnell schnappte ich mir den Autoschlüssel, den meine Mum auf der Kommode neben der Tür abgelegt hatte, und dachte zum Glück auch noch daran meinen Haustürschlüssel in die Jackentasche zu stopfen. Dann schloss ich leise die Tür hinter mir und rannte zum Auto.
Ich hoffe inständig, dass der Film lauter sein würde als der Motor. Das schien auch so zu sein, jedenfalls kam, bis ich um die Ecke gebogen war, niemand aus dem Haus gerannt.
"Du schaffst das, Marian", sprach ich mir selber Mut zu. Ich hatte noch nie meine Eltern verraten und ich war auch seit drei Jahren nicht mehr Auto gefahren, was die ganze Sache etwas erschwerte.
Als ich auf der Landstraße angekommen war, lief alles wie geschmiert. Es waren auch kaum Autos unterwegs, da diese Gegend einfach zu einsam war.
Natürlich sollte man das nicht machen, aber es war ein Notfall, weshalb ich Lee anrief, um zu überprüfen, dass noch alles gut war.
Ein Stöhnen kam vom anderen Ende der Leitung, als würde sie an starken Schmerzen leiden.
"Lee?"
"Ja?"
"Geht es dir gut?"
"Nein", antwortete sie wahrheitsgemäß, "aber Mike geht es schlechter. Er hat eben kurz die Augen geöffnet, aber jetzt ist er, glaub ich, wieder bewusstlos."
Augenblicklich drückte ich aufs Gaspedal und überschritt damit die Geschwindigkeitsgrenze. Es war schon mal gut, dass Lee noch lebte, aber sollte Mike etwas passieren, dann war ich buchstäblich tot.
Meine Eltern würden mir das niemals verzeihen, auch wenn ich ihr Liebling war.
"Wann bist du hier?"
Ich warf einen Blick auf mein Navigationssystem, welches mir ihren Standort anzeigte. Etwas, das meine Eltern eingerichtet hatten und was mir jetzt überraschend zu nutze sein konnte.
"In wenigen Minuten, du musst versuchen ihn aufzuwecken", sagte ich. Plötzlich fiel mir etwas auf: "Warum hast du denn nicht den Krankenwagen gerufen, Lee?"
Nach dieser Frage seufzte sie und ich konnte fast hören wie sie die Augen verdrehte.
"Dir ist das vielleicht nicht bewusst, aber Eltern unterstützen es nicht, wenn ihre Kinder betrunken fahren und dann einen Unfall bauen", antwortete sie zickig.
"Betrunken?!", wiederholte ich. "Was machst du denn nur?"
Coralee legte auf.
Na toll, dachte ich missmutig und ging etwas runter vom Gas, schließlich wollte ich nicht die nächste sein, die einen Unfall baute.
Vier Minuten später kam ich am Unfallort an, woraufhin ich einen furchtbaren Schreck bekam. Das Auto hatte sich anscheinend mehrmals überschlagen und war letztendlich mit dem Dach unten liegengeblieben. Lee und Mike lagen daneben zwischen ein paar Büschen und ich ging davon aus, dass meine Schwester sie mithilfe ihrer Stärke daraus geholt hatte.
"Coralee!", rief ich streng und lief auf sie zu. In meiner Eile hatte ich nur meine Absatzschuhe anziehen können, was meinen Auftritt sehr dramatisch gemacht hätte, wenn ich nicht dummerweise die Jogginghose getragen hätte.
"Da bist du ja", bemerkte Lee und schob Mike von ihrem Schoß herunter.
Ich kniete mich hin und fühlte seinen Puls. "Okay, wir können ihn hier lassen", stellte ich fest.
"Was?" Lee sah mich perplex an. "Du willst ihn hier lassen? Bist du verrückt?"
Jetzt wurde sie mal wieder aggressiv, doch ich blieb ganz ruhig und versuchte die Situation unter meine Kontrolle zu bringen.
"Ja", sagte ich spitz. "Steig ein!", befahl ich ihr und deutete auf das Auto, welches ich am Straßenrand geparkt hatte.
"Auf keinen Fall!", wehrte sich Lee und zog an ihrem langen Kleid, da es sich im Busch verfangen hatte.
Ich versuchte ihr zu helfen, aber es nützte nichts. "Das kannst du eh nie wieder anziehen", meinte ich schließlich und riss den Saum ab.
"Wie soll ich das Mum und Dad erklären?", jammerte sie.
"Dir wird schon etwas einfallen." Ich stand auf und zog sie hoch. Dann zog ich meine Jacke aus und legte sie ihr um die Schultern, da es eine ziemlich kalte Sommernacht war.
"Steig jetzt ins Auto und in der Zeit entferne ich alle Spuren, dass du hier gewesen bist." Sofort suchte ich nach ihren Schuhen, da sie die nicht mehr anhatte. "Keine Sorge, ich rufe anonym einen Krankenwagen für ihn", fügte ich noch hinzu.
Coralee nickte einwilligend und stapfte hinüber zum Auto, wo sie sich auf den Beifahrersitz setzte.
Ich hatte ihre Schuhe gefunden und sah noch einmal vorsichtshalber ins Auto hinein, aber ich konnte nichts finden, was auf einen Mitfahrer hingedeutet hätte. Schnell lief ich zu Lee und lehnte mich ans Auto, während ich den Notruf wählte.
"Wo sind Sie?"
"Auf der Straße zwischen Cliffdale und Achnahaird. Es ist etwa eine Viertelstunde von Cliffdale entfernt", beantwortete ich die Frage, während Lee mich nervös dabei beobachtete.
"Und ihr Name?"
"Ich bleibe anonym", stellte ich klar und tippte nervös auf dem Autodach herum.
"Danke für ihren Anruf."
Ich stieg ins Auto ein und schloss die Tür mit einem lauten Knallen hinter mir. "Wir fahren jetzt los", sagte ich ruhig und kalt.
Lee nickte brav und musste schlucken. Beruhigend legte ich ihr eine Hand auf die Schulter.
Wir waren gerade mal zwei Minuten gefahren, da hielt ich die Stille nicht mehr aus und schaltete das Radio an.
Bis wir fast zu Hause waren, kamen keine Nachrichten, doch dann wurde die Musik für eine kurze Meldung unterbrochen: "Auf der Landstraße zwischen Cliffdale und Achnahaird kam es vor etwa einer halben Stunde zu einem Autounfall. Ein junger Mann, der laut den Untersuchenden betrunken am Steuer gesessen hatte, ist leicht verletzt und hat eine Gehirnerschütterung davongetragen. Niemand ist verunglückt."
Damit war der Sprecher im Radio fertig, die Musik ging wieder an und ich parkte das Auto vor unserem Haus.
"Marian?" Lee sah zu mir herüber.
Ich starrte noch immer auf das Radio. "Ja?"
"Danke."
"Keine Ursache", meinte ich. "Wie du dich jetzt an Mum und Dad vorbei schleichen wirst, musst du alleine klären." Nach diesen Worten zog ich den Schlüssel heraus und stieg aus dem Wagen.
Wir betraten zusammen das Haus, aber dann lief ich unbemerkt die Stufen nach oben, während Lee unten blieb und wartete, bis meine Eltern sie hören würden. Das war nun wirklich ihr Problem und ich fand, dass sie verstehen musste, was für einen Fehler sie gemacht hatte.
Ich saß gerade oben in meinem Zimmer auf dem Bett, um noch etwas zu lesen, als es klopfte.
"Herein", sagte ich.
Es war meine Mum. "Hey", begrüßte sie mich und zwinkerte mir zu.
"Hi, Mum." Ich lächelte ebenfalls und legte mein Buch zur Seite.
"Wie war es denn mit Mike?", fragte meine Mutter neugierig und setzte sich neben mir aufs Bett.
"Mum!", rief ich widerstrebend und rückte näher an sie heran. "Warum fragst du mich sowas?"
Daraufhin lachte sie ihr berühmtes Jasmine-Crown-Lachen. "Hat es dir denn nun gefallen?"
Ich zuckte mit den Schultern und spielte an meinen langen Haaren herum. "Er war echt nett", gab ich zu und meinte es auch so. Er war ein netter junger Mann.
"Nur nett?" Meine Mum kicherte, woraufhin ich mit einsteigen musste.
Bei meinen nächsten Worten dachte ich allerdings nur an Ophelia. "Er hat wirklich schöne Augen und so ein tolles Lächeln", schwärmte ich, um meine Mutter glücklich zu machen. "Außerdem waren wir kurz davor uns zu küssen, glaub ich."
"Wie schön", fand meine Mum begeistert. "Ich bin so stolz auf dich."
Für diesen Moment wollte ich ihr das einfach lassen, dass sie stolz und glücklich sein konnte. Es war nicht immer einfach in diesem Dorf und wenn man eine Familie hatte, die einem zur Seite stehen konnte, nahm einem das manchmal die Last von den Schultern. Zum Glück hatte ich eine solche Familie, auch wenn es trotzdem oft Probleme gab.
"Ich will jetzt schlafen, Mum."
"Ja, ja." Sie stand auf und gab mir noch einen Kuss auf die Stirn. "Mein großes Mädchen", flüsterte sie und verließ mit einem breiten Lächeln das Zimmer.
Hoffentlich malt sie sich nicht schon unsere Hochzeit aus, dachte ich und mir kam sofort ein lächerliches Bild vor Augen, wie ich Arm in Arm mit Mike vor dem Traualtar stand. Plötzlich schob sich Ophelia ins Bild die am anderen Ende des Saales mit Tränen in den Augen klatschte. Das sollte nicht meine Zukunft sein.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top