10. Kapitel ~ Marian
Ich zupfte nervös an meiner Jeans herum und öffnete meinen Pferdeschwanz. Du schaffst das, Marian. Stell sie einfach zur Rede und dann ist alles in Ordnung. Meine Beine fühlten sich weicher an als Maisies Lieblingspudding und ich fummelte an meinen Haaren herum. Das konnte nicht gut gehen.
Plötzlich öffnete sich die Haustür. Mein Herz setzte einen Schlag aus, doch es war nicht Ophelia, sondern ein junger Mann. Er konnte kaum älter sein als ich selbst und sah seiner Schwester verblüffend ähnlich.
"Bist du Marian?", zischte er erschrocken und ließ die Mülltüte fallen, die er wahrscheinlich gerade wegbringen wollte.
"Äh." Ich konnte förmlich spüren wie mein Gesicht knallrot anlief.
Ganz unerwartet schritt er auf mich zu, presste mir eine Hand auf den Mund und zog mich mit sich bis hinter die nächste Straßenecke. Ich wollte protestieren und schlug wild um mich, aber er war deutlich stärker.
"Sei leise! Meine Mum darf uns nicht hören", warnte er mich und drückte mich an eine Hauswand.
Ich nickte eifrig, weil er aussah, als könne er mich im Handumdrehen in mehrere Stücke zerreißen. Doch zu meiner Überraschung ließ er mich los und legte dann noch einen Finger auf die Lippen. Allem Anschein nach wollte er mir nichts Böses, wie ich es erwartet hätte.
"Wer bist du?", fragte ich leise.
"Mein Name ist Rosaine", antwortete er ebenso leise und lehnte sich neben mir gegen die Hauswand. Er schien panische Angst davor zu haben, dass seine Mutter ihn entdecken könnte.
"Darf ich fragen, was los ist?", erkundigte ich mich und schielte um die Ecke, zum Haus der Buchans hinüber.
Rosaine seufzte und fuhr sich angespannt durch die Haare. "Meine Mutter darf dich nicht entdecken, sonst könnte sie dich als Geisel halten. Mit meiner Schwester solltest du auch nicht reden, sie wird viel zu sehr darein gezogen."
"Wo rein?!", rief ich etwas zu laut und presste mir eine Sekunde später selbst die Hand auf den Mund. "Wo rein?", wiederholte ich leise und sah noch einmal zum Haus herüber. Dort tat sich nichts.
"Das ist etwas kompliziert und wenn du es nicht weißt, solltest du deine Eltern fragen", meinte Rosaine und zuckte mit den Schultern. "Wichtig ist nur, dass du nicht mit Ophelia redest, denn du bringst sie nur in Gefahr."
"Was für eine Gefahr?" Ich verstand gar nichts mehr. Erst neue Leute, dann ein mysteriöser Brief und jetzt auch noch irgendeine Gefahr. Cliffdale war schon verrückt genug, das brauchte ich nun wirklich nicht.
"Es geht um unser beider Familien", sagte er vorsichtig, "und reicht schon lange zurück."
"Das hilft mir nicht weiter."
Rosaine sah aufgeschreckt zum Haus, wo sich gerade die Tür öffnete. Wut breitete sich in mir aus, als ich sah, dass es Ophelia war.
"Sie hat mich betrogen", zischte ich wütend und ballte meine Hände unbemerkt zu Fäusten.
"Das hat sie nicht", beruhigte Rosaine mich und schüttelte den Kopf. "Es war wohl mehr meine Mutter."
"Rosaine?", hörten wir Ophelia rufen. Anscheinend hatte sie uns noch nicht entdeckt.
"Ich muss los!" Er hob kurz die Hand und lief dann zurück, wo er seine Schwester ins Haus schob, sodass sie keine Möglichkeit hatte, mich zu bemerken.
Das ist schiefgelaufen, bemerkte ich frustriert. Wenigstens konnte ich jetzt davon ausgehen, dass Ophelia nichts vorgespielt hatte. Überzeugt war ich jedoch nicht, schließlich hatte sie mich auf dem Ball sicher mit Absicht angerempelt. Wenn ich Rosaine glaubte, steckte Anne Buchan hinter allem, aber was hätte sie für einen Nutzen davon, dass ich mich verknallt hatte und verletzt worden war?! Was hatte sie für ein Motiv unserer Familie zu schaden?
Moment Mal, Marian. Verknallt? Was soll das denn heißen?! Du hast dieses Mädchen ein Mal geküsst und nicht besonders viel mit ihr geredet. Von verknallt kann hier gar nicht die Rede sein!
Ich fuhr mir nervös durch die Haare und sah noch ein letztes Mal zum Haus. Hinter einer der zugezogenen Gardinen glaubte ich Ophelias Umriss zu erkennen, wie sie zu mir hinaus sah, aber sicher hatte ich mich nur getäuscht.
"Marian!"
Ich drehte mich überrascht um und sah Lee, wie sie auf mich zu lief. Schnell kam ich ihr entgegen und zog sie aus der Sicht der Fenster des Hauses. Es wäre ungünstig, würde eines der Familienmitglieder von uns mitbekommen.
"Was machst du denn hier?", stellte ich sie zur Rede, während ich sie noch immer durch die Straße zog. Keiner wurde auf uns aufmerksam, in Cliffdale galt jedes Verhalten als normal.
"Ich habe dich gesucht und Maisie meinte, dass du etwas klären müsstest, weshalb ich direkt hierher gekommen bin", erklärte sie ein wenig schuldbewusst.
"Sie sollte doch nichts sagen", murmelte ich seufzend. Kleinen Kindern durfte man wirklich keine Geheimnisse anvertrauen.
"Hast du mit Ophelia geredet? Oder mit ihrer Mutter?" Jetzt wurde sie neugierig, wo sie ihren Verdacht bestätigt hatte.
Ich seufzte ein zweites Mal. "Ich wollte sie zur Rede stellen, warum sie mich ausgenutzt hat", gab ich zu, "aber bevor ich das konnte, ist mir ihr älterer Bruder in die Quere gekommen. Sein Name ist Rosaine und er ist etwas bedrohlich, wenn du mich fragst."
"Warum genau kam er dir in die Quere?" Lee blieb stehen und protestierte, als ich sie weiterziehen wollte.
"Er hat mir gesagt, ich solle abhauen, weil ich sonst Ophelia in Gefahr brächte", antwortete ich und ließ mich auf eine alte Bank fallen, womit ich eine verirrte Taube verscheuchte.
Trübselig sah ich die Straße hinunter. Wenige Autos fuhren vorbei und ein paar Leute liefen umher, immer wieder die Straßenseite wechselnd, um den anderen aus dem Weg zu gehen. Die Häuserreihen waren grau und beige gestrichen, sie passten zu meiner gegenwärtigen Verfassung. Auf einem Balkon hängten drei Männer Wäsche auf, gegenüber lernte ein kleines Mädchen fliegen.
Was für eine seltsame kleine Stadt, schoss es mir durch den Kopf.
"Marian?", unterbrach meine kleine Schwester den denkwürdigen Augenblick.
"Ja?"
"Ich hab dich gefragt, was für eine Gefahr das sein soll", wiederholte Coralee ihre Worte und sah mich auffordernd an, als wüsste ich die Lösung auf alles. In ihren Augen musste ich wahrlich perfekt wirken. Manchmal wünschte ich, dass ich mich selbst ebenso sehen könnte.
"Was ist denn heute mit dir los?"
"Sorry, Lee", nuschelte ich und strich eine Haarsträhne hinters Ohr. "Ich denke, dass die Buchans und die Crowns eine gemeinsame Vergangenheit haben und unsere Eltern viel mehr darüber wissen, als wir denken. Rosaine meinte, ich sollte sie fragen, wenn ich nicht wüsste, was gerade passiert."
"Dann sollten wir das vielleicht einfach tun!" Lee zog mich hoch und stemmte die Arme in die Hüften. "Fragen wir sie, was hier los ist."
Ich konnte nicht mehr antworten, da schob sie mich schon vor sich her, ohne Halt zu machen.
Hoffentlich würden unsere Eltern uns Antworten geben, sonst würden wir noch zu anderen Mitteln greifen müssen. Das Geheimnis um diese unbestimmte Gefahr, die uns alle wie Nebel zu umgeben schien, musste endlich gelüftet werden.
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