1. Kapitel ~ Lee

Gelangweilt seufzte ich auf. Mal wieder war ich alleine zu Hause, meine Eltern waren mit Marian und Maisie, meinen beiden Schwestern, unterwegs. Sie trafen sich mit einem Arbeitskollegen meines Vaters und dessen Familie. Und ich durfte nicht mitkommen, weil ich nicht vorzeigbar war. Nur weil ich meine Fähigkeit manchmal nicht unter Kontrolle hatte, hieß das doch nicht, dass ich wie ein wildes Tier eingesperrt werden musste, damit ich bloß nichts anstellte. Aber um ehrlich zu sein, war ich auch nicht ganz von dem Gedanken alleine hierzubleiben abgetan. Dann konnte nicht das gleiche passieren wie beim letzten Mal. Als ich mal wieder meine Wut und somit meine Fähigkeit nicht unterdrücken konnte, zersprang das Glas in meiner Hand und der Inhalt verteilte sich auf dem Tischtuch, meiner weißen Bluse und zu allem Übel auch noch auf dem Hemd des Kollegen meines Vaters. So kam es, dass ich mit einem weinroten Fleck auf meiner Bluse und einem stinkigen, vor Scham und Wut mindestens genauso roten Vater nach Hause fuhr. Außerdem musste ich dann nicht dem angeberischen Geschwätz meiner Eltern über meine ältere Schwester Marian zuhören. Während ich laut meiner Eltern laut, frech und rüpelhaft war, war Marian die perfekt vornehme Dame, wie man sie nur aus französischen Häusern kannte. Wunderschön, mit ihren hüftlangen dicken, braunen Haaren und ihren haselnussfarbenen Kulleraugen, denen man keinen Wunsch abschlagen konnte. Höflich und interessiert, egal um welches kotzlangweiliges Thema es ging und nicht minder lustig. Sie brachte immer zum perfekten Zeitpunkt einen ihrer Witze und ihr glockenhelles Lachen brachte jeden, wirklich jeden, zum dahinschmelzen. Und Maisie hatte noch den Süßheitsstatus, sie war inzwischen fünf und mit ihren blonden Locken und den Sommersproßen war sie wirklich knuffig. Auch wenn sie sich das nicht eingestehen wollte. Immer wenn einer von uns sagte, wie süß sie aussah, zog sie einen Schmollmund und war den Rest des Tages beleidigt. Also behielten wir unsere Kommentare für uns, schließlich wollten wir alle eine fröhliche Stimmung im Haus.

Kurzerhand hatte ich meine einzige Initiative ergriffen, um die Langeweile zu bekämpfen, und lief nach unten in den Keller. Wir hatten ein kleines, aber doch gemütliches Haus. Bei der Einrichtung hatte sich unsere Mutter viel Zeit genommen, was sich aber auch ausgezahlt hatte. Die Mühe zum Detail erkannte man in allen Räumen, egal ob es nun das Wohnzimmer war oder nur das Badezimmer. Alles war voller Dekorationen, selbstgemalten Bildern aus unserer Kindheit oder aber auch Pflanzen.

Und doch war mir der Keller am liebsten. Denn da konnte ich mich austoben und an meine Grenzen treiben.

Als ich mir Sportklamotten angezogen hatte, betrat ich den Stolz unserer Familie, die Turnhalle. Wie gesteuert lief ich zielstrebig zu der Hantelbank in der Ecke. Dort begann ich immer, sozusagen eine Art lockere Aufwärmung bevor es dann richtig los ging. Man könnte meinen, ich müsste nicht trainieren, da ich durch meine Fähigkeit sowieso schon stark genug war, aber wie mein Vater zu sagen pflegte: "Was einen guten Krieger ausmacht ist Stärke, was einen sehr guten ausmacht ist Eifer." Und da ich meinen Vater, meine Eltern, als großes Vorbild ansah, übte ich beinahe jeden Tag. Mein größter Wunsch war Anerkennung. Anerkennung meiner Eltern über meine Taten. Dass sie erkannten, wie ich war und mich dafür liebten. Aber anstatt das zu tun, wollten sie immer, dass ich so wurde wie Marian. Immer und überall, in diesem Haus drehte sich alles nur um die 'perfekte' Marian. Sie war so vorbildlich, dass unsere Eltern sie sogar hier behalten wollten, mich wollten sie einfach so schnell es ging loswerden. Ich sollte mir einen Beruf suchen und ausziehen, am besten sofort. Dabei war ich gerade erst mit der Schule fertig geworden und hatte die Abschlussfeier noch vor mir.
Wütend stemmte ich weiter Gewichte die beinahe 500 Kilo wogen. Aber das Gewicht machte mir nichts aus, durch meine Fähigkeit konnte ich sogar Autos hochstemmen als wogen sie nichts. Alle aus meiner Familie hatten diese Gabe, alle außer Marian. So bekam sie natürlich wieder alle Aufmerksamkeit, sowohl von unserer Familie als auch vom ganzen restlichen Dorf.
Von meinen negativen Gedanken abgelenkt, merkte ich Marian gar nicht, bis sie mich ansprach.
"Hey", meinte sie leise.
Während ich die Gewichte zur Seite legte, begrüßte ich sie ebenfalls und schaute sie erwartungsvoll an: "Was willst du hier?" Das kam unfreundlicher raus als erwartet.
"Ich habe nach dir gesucht. Mum und Dad sagten, ich sollte auf dich aufpassen. Willst du etwas essen? Ich wollte mir noch schnell ein Müsli machen, bevor ich schlafen gehe", erklärte sie.

Natürlich, was denn auch sonst. Ich war ja so klein und dumm und brauchte eine Aufpasserin, damit ich nichts dummes anstellte. Jetzt ließ ich ungerechterweise meine Enttäuschung an Marian aus und schüttelte nur knapp den Kopf, bevor ich wieder anfing zu trainieren. "Gute Nacht." Damit wollte ich ihr verdeutlichen, dass sie jetzt gehen konnte, ich brauchte meine Ruhe. Sie verschwand, nicht bevor sie mir ebenfalls Gute Nacht gewünscht hatte, und ich seufzte erleichtert auf. Seit einigen Wochen konnte ich Marians Nähe nicht mehr ertragen, nicht dass ich es davor gut gekonnt hatte, aber die Situation hatte sich verschärft. Ich hatte jedesmal, wenn ich mir ihr redete, Angst, dass sie erkennen könnte, wie eifersüchtig ich auf sie war. Das war allein meine Angelegenheit und niemand sollte davon erfahren.

Irgendwie war mir die Lust ausgegangen weiter zu trainieren und nachdem ich alles auf seinen ursprünglichen Platz gestellt hatte, verließ ich die Turnhalle und lief nach oben.

Marian war zum Glück schon weg und ich schlug einmal stark auf den Küchentisch, um meiner Wut freien Lauf zu lassen. Nur hatte ich dabei, mal wieder, meine Fähigkeit vergessen. Der Tisch erzitterte, glücklicherweise ging er nicht kaputt, allerdings fiel die Vase mit den Tulpen herunter und zersprang.

Scheiße, scheiße, scheiße, das war die Lieblingsvase meiner Mutter gewesen. Die aus Glas, mit den schönen Verzierungen. Schnell fegte ich die Scherben zusammen, warf sie in den Mülleimer und hoffte, dass es nicht allzu schnell auffallen würde.

Tränen stiegen in meine Augen, ich hatte mich die letzten Wochen so bemüht, wie Marian zu sein, und jetzt hatte ich schon wieder etwas kaputt gemacht. Wenn meine Mutter das erfahren würde, wäre ich einen Kopf kürzer, da sie, wie ich schon erwähnt hatte, großen Wert auf die Einrichtung legte. Und selbst wenn eine Vase fehlte, würde sie ausrasten, das wusste ich jetzt schon. Verzweifelt krabbelte ich unter den Tisch um die letzten Scherben aufzuammeln und zu entsorgen. Schmerz durchzog meine Hand und ich stellte unerfreut fest, dass ich mich geschnitten hatte.

Als alles wieder aussah wie zuvor, bis auf die Tatsache, dass eine Vase fehlte, lief ich schnell nach oben. Normalerweise würde ich Maisie noch eine Gute Nacht wünschen, doch sie schlief wahrscheinlich schon und ich wollte sie um keinen Preis wecken, dann wurde sie immer unausstehlich. Deswegen ging ich nur zu Marian, um mich bei ihr für mein unfreundliches Verhalten zu entschuldigen.
Ich klopfte an ihre Tür und rief: "Marian?"

Auf der anderen Seite der Tür hörte ich leise, sich nähernde Schritte und die Tür wurde mit einem leisen Knarzen geöffnet. "Leise, Maisie schläft schon." Ich warf einen Blick in das dunkle Zimmer und sah die kleine Gestalt in der Decke eingewickelt. Ein Stich durchfuhr mein Herz, als ich erkannte, das Masie und Marian perfekte Schwestern waren. Sie liebten sich gegenseitig und kümmerten sich um einander. Diese Beziehung wollte ich nicht stören, auch wenn ich gerne so einen Mensch in meinem Leben hätte. Deswegen sagte ich nur kurz angebunden: "Sorry, ich wollte nicht stören. Ich wollte mich nur für mein Verhalten vorhin entschuldigen und dir eine gute Nacht wünschen."
"Alles gut, ich verstehe, dass du ein bisschen schlechte Laune hattest, weil du nicht mit zum Essen durftest. Aber es ist sowieso nichts aufregendes passiert", meinte sie und lächelte mich an. Mal wieder das perfekte Benehmen.
"Okay, gute Nacht", flüsterte ich leise und lief den Gang wieder zurück, in unser gemeinsames Bad. Dort versorgte ich meinen Schnitt, wusch mein Gesicht, putzte kurz Zähne und ging in mein Zimmer, um mich bettfertig zu machen. Als ich im Schlafanzug war, öffnete ich noch ein Mal das Fenster und blickte in die wolkenlose Nacht. Die Sterne erschienen mir so unendlich weit weg und doch waren sie da. Wachten über einen, wenn niemand anderes es tat.

Die kühle Nachtluft bereitete mir eine Gänsehaut, die stickige Luft in meinem Zimmer verzog sich. Einige Minuten später, in denen ich nur in die Dunkelheit gestarrt hatte, wurden meine Augenlider immer schwerer und ich schloss das Fenster, bevor ich in mein Hochbett kletterte.

Müde schloss ich meine Augen, und obwohl meine Gedanken mich versuchten wachzuhalten, siegte die Müdigkeit und ich fiel in einen unruhigen Schlaf.

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